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Medizin-Nobelpreis 2019: Der Sauerstoffsensor des Lebens

Die drei frischesten Nobelpreisträger dröselten den eleganten Mechanismus auf, mit dem Zellen auf Sauerstoffmangel reagieren. Fällt der aus, geht alles Mögliche schief.
Wissenschaftlerin im Labor kombiniert mit Nobel-Medaille

Alle atmenden Zellen wandeln auf einem schmalen Grat zwischen zu hohen und zu niedrigen Sauerstoffkonzentrationen. Einerseits ist das Molekül der beste Treibstoff für die Energiegewinnung der Zelle, andererseits ist es im Überschuss giftig und tödlich. Deswegen reagieren Zellen schnell, wenn der O2-Gehalt in der Umgebung sich aus irgendwelchen Gründen verändert.

Das notwendige biologische Sensorium ist entsprechend hoch entwickelt und wird von vielen Forschergruppen seit Jahrzehnten erforscht. Drei Wissenschaftler werden für diese Bemühungen nun stellvertretend ausgezeichnet: William G. Kaelin, Peter J. Ratcliffe und Gregg Semenza teilen sich den Nobelpreis für Medizin oder Physiologie 2019 für ihre Erkenntnisse darüber, wie Zellen Sauerstoff wahrnehmen und darauf reagieren.

Medizin-Nobelpreisträger 2019 | William G. Kaelin jr., Sir Peter J. Ratcliffe und Gregg L. Semenza (von links nach rechts) werden 2019 vom Nobelpreiskomitee ausgezeichnet.

Mit dem Gift Sauerstoff in der Luft müssen sich die Lebewesen erst seit zwei bis drei Milliarden Jahren herumschlagen: Damals hatten auf der erst mittelalten Erde Zyanobakterien begonnen, zur Energiegewinnung Fotosynthese zu treiben und das anfallende Abfallprodukt O2 mehr und mehr in die Umwelt zu pumpen. Das machte zunächst nur Abschottungs- und Entgiftungsmechanismen notwendig, aber bald schon nutzen anpassungsfähige Zellen die plötzliche Verfügbarkeit des Gases und erfanden Werkzeuge für die Sauerstoffatmung: einen Stoffwechselweg, bei dem Nahrungsmoleküle effizient und unter konkurrenzlos hohem Energiegewinn mit Sauerstoff verbrannt werden. Zelluläre Kraftwerke mit einschlägigem Knowhow fanden dann schließlich als Mitochondrien ihren Weg in die Gewebe von vielzelligen Organismen.

Und so kann heute kaum eine Sauerstoff veratmende Zelle unseres Körpers mehr längere Zeit ohne O2-Nachschub existieren: ein Mangel – die Hypoxie – führt zum Zelltod oder zumindest zur energetischen Unterversorgung. Ohne ausreichende Sauerstoffversorgung können Zellen nur einen Bruchteil der Energie produzieren. Sie sind nun auf wenig Energie liefernde Stoffwechselwege als Überbrückung angewiesen, wie Louis Pasteur im 19. Jahrhundert mit seinem »Pasteur-Effekt« beschrieb.

Im Lauf der Evolution entstanden – der Bedeutung des Stoffes angemessen – allerlei Mechanismen, mit denen Organismen den Sauerstoffgehalt ihrer Umgebung abschätzen und sich auf sein Auf und Ab einstellen. Im Jahr 1938 erhielt Corneille Heymans den Nobelpreis für Medizin- oder Physiologie für seine Forschung zum »Glomus caroticum« des Menschen, einem Zellbündel, das an der Abzweigung der beiden Halsschlagadern liegt und dem Gehirn signalisiert, wie es um die Sauerstoffversorgung im Körper steht. Je nach Lage der Dinge sorgen dann die Atemzentren im Hirn zum Beispiel dafür, dass wir schneller und tiefer atmen, um mehr Sauerstoff ins Blut zu bekommen. Wie der Gassensor unseres Körpers genau funktioniert, wird dabei allerdings bis in die jüngste Zeit untersucht.

Klar war auch den Physiologen des frühen 20. Jahrhunderts, dass der Körper auf den Input des Gassensors irgendwie reagieren muss. Eine zentrale Rolle erkannten sie schließlich im Hormon EPO, dem Erythropoetin. Es entsteht vor allem in der Niere vermehrt bei niedrigen Sauerstoffkonzentrationen im Blut – etwa dann, wenn der Mensch sich länger in der dünneren Luft großer Höhen aufhält – und kurbelt die Produktion roter Blutkörperchen an, wodurch der Transport von Sauerstoff im Blut zu den Zellen effizienter wird. Gleichzeitig kann man ausdauernder trainieren: EPO wurde in den 1990er Jahren ein schwer nachweisbares Dopingmittel für Spitzensportler.

Unklar blieb, wie die gemessene Sauerstoffmenge im Körper eigentlich die EPO-Produktion genau steuert. Dieser Frage hatte sich auch der 2019 frisch ausgezeichnete Preisträger Gregg Semenza von der Johns Hopkins University gewidmet. Er untersuchte zu Beginn der 1990er Jahre gentechnisch gezielt veränderte Mäuse und fand nach und nach heraus, dass bestimmte DNA-Abschnitte in und in der Nähe der EPO-Gene mitentscheiden, wie die Zellen auf Sauerstoffunterversorgung reagieren.

In Zellkulturversuchen entpuppte sich dabei vor allem eine Region als entscheidend: Hier liegt eine Enhancer-Region, an die bei Hypoxie vermehrt produzierte Signalproteine binden: die HIFs (Hypoxie-induzierbare Faktoren, englisch: hypoxia-inducible factors). Diese HIF-Proteine, so zeigten weitere Arbeiten von Semenzas Team Mitte der 1990er Jahre, werden an zwei verschiedenen Stellen im Genom codiert. Dabei entstehen die Transkriptionsfaktoren HIF-1α und -β. Letzteres entpuppte sich allerdings als ein schon vorher getaufter Bekannter, das Protein ARNT (aryl hydrocarbon receptor nuclear translocator).

Aber was tun HIF-1α und ARNT? Rasch war klar: Nur die Produktion von HIF1-α reagiert auf Sauerstoff. Im Umfeld hoher O2-Konzentrationen findet sich fast kein HIF-1α – sinkt die Gaskonzentration, so taucht der Transkriptionsfaktor vermehrt auf und bindet am HIF-Enhancer-Andockpunkt der DNA, um die EPO-Produktion anzukurbeln. Das gilt aber nicht nur für die bekannten EPO-Fabriken in den Nieren, sondern für fast alle Zellen des Organismus, wie Semenza und zur selben Zeit auch der zweite Laureat von 2019, Sir Peter Ratcliffe von der University of Oxford, mit seinem Team herausarbeiteten: Offensichtlich war man einem eher grundlegenden Mechanismus auf der Spur.

Nun beteiligten sich weitere Arbeitsgruppen und nahmen HIF unter die Lupe. Schnell wurde klar, dass HIF-1α ein offenbar fragiles Protein ist, das unter normalen Bedingungen rasch zerlegt und von der zellulären Abfallbeseitigung entsorgt wird: im Proteasom, für dessen Funktionsbeschreibung der Medizin-Nobelpreis 2004 vergeben wurde. Zu entsorgenden Abfall markiert die Zelle mit dem Signal Ubiquitin – und diese Ubiquitin-Etikett bekommt jedes HIF-1α-Proteine in jeder Zelle im Normalfall sehr schnell verpasst, wie die Forschergruppen rasch herausfanden. Doch wie erfüllt HIF-1α dann seine Aufgabe im Mechanismus der Sauerstoffsensorik?

An dieser Stelle half etwas Glück bei der Aufklärung – und die Forschungserkenntnisse des dritten Laureaten von 2019, William Kaelin von der Harvard Medical School. Seine Arbeitsgruppe forschte eigentlich an Krebs, genauer an der Von-Hippel-Lindau-Krankheit (VHL), einem seltenen, vererbbaren Krebssyndrom, bei dem Tumoren in verschiedenen Organen auftreten können. Im Zentrum des Krankheitsgeschehens steht dabei ein mutiertes Protein: VHL. Sein Ausfall sorgt dabei nicht nur für das Entarten von Zellen, sondern auch für ein auffälliges Symptom: Viele Sorten von Proteinen, die im Organismus normalerweise nur bei drastischer Sauerstoffunterversorgung produziert werden, sammeln sich in den betroffenen Zellen ohne funktionsfähiges VHL in Massen. Weitere Studien ermittelten schließlich die Arbeitsweise von VHL: Es ist Teil des Proteinkollektivs, welches mit der Markierung von zellulärem Abfall mit Ubiquitin-Markern betraut ist.

Ratcliffe und Kollegen knüpften nun die Verbindung zwischen den gesammelten Informationshappen: Sie zeigten, dass VHL in allen Zellen bei durchschnittlichen Sauerstoffmengen mit HIF-1α interagiert und es zur Entsorgung frei gibt. Anders bei eher niedrigen Sauerstoffmengen: Denn nötig für ein ordentliches Zusammenkommen ist, dass HIF-1α vor dem Treffen mit VHL mit zwei Hydroxylmarkern etikettiert wird. Diese bekommt HIF von den zuständigen Prolylhydroxylase-Hilfsenzymen aber nur dann verpasst, wenn die Sauerstoffversorgung dafür ausreichend hoch ist – und die Hydroxylasen dadurch aktiviert sind. Sind sie es nicht – bei Hypoxie –, so wird HIF-1α nicht mit Hydroxlgruppen etikettiert, nicht mit VHL-Hilfe ubiquitiniert und nicht abgebaut. Und dann?

Was passiert in Zellen bei Sauerstoffarmut? | Unter Hypoxie, also bei niedrigen Sauerstoffpegeln in der Zelle, wird HIF-1α vor dem Abbau geschützt: Der Transkriptionsfaktor sammelt sich im Zellkern und bindet gemeinsam mit ARLT an bestimmte DNA-Andocksequenzen (HRE) von Genen, deren Aktivität durch den Sauerstoffgehalt reguliert wird (1). Ist der Sauerstoffgehalt normal hoch, so wird HIF-1α dagegen rasch vom Proteasom zerstört (2). Sauerstoff reguliert den Prozess, indem es die Hydroxylierung von HIF-1α fördert: Das Protein wird mit OH-Gruppen versehen (3) und bildet nur dann einen Komplex mit dem Protein VHL, wodurch die Ubiquitin-Markierung und die anschließende Zerstörung ausgelöst wird (4). Dies macht HIF-1α und damit alle von dem Transkriptionsfaktor regulierten Prozesse abhängig vom Sauerstoffgehalt in den Zellen.

Dann – und nur dann, also bei hypoxischen Umweltbedingungen – sammelt sich HIF-1α im Zellkern und bindet dort mit Hilfe von ARLT an die Enhancer-Region, die schließlich die EPO-Gene ankurbelt, was die Produktion des Hormons antreibt und damit alle weiteren Prozesse im Körper auslöst, die bei einer niedrigen Sauerstoffversorgung sinnvoll sind.

Und das sind, je nach Zell- und Gewebetyp, enorm viele: Schon erwähnt, siehe Höhentraining und Doping, ist die vermehrte Bildung roter Blutkörperchen für einen effizienteren Sauerstofftransport im Blut. Zudem fördert EPO die Neubildung von Gefäßen, die Angiogenese, um ein offenbar unterversorgtes Gewebe durch verbesserte Blutzufuhr besser zu bedienen. Fällt dieser Prozess aus, kann das drastische Folgen haben, etwa bei manchen Nierenerkrankungen, die zu einer pathologischen EPO-Unterproduktion und in der Folge zu einer mangelhaften Blutversorgung in der Niere führen.

Das Gegenteil passiert bei manchen Tumorerkrankungen: Hier kurbelt der Krebs die EPO-Produktion an, um die Angiogenese zu fördern, seine eigene Blutversorgung zu verbessern und schnell wachsen zu können. Tatsächlich sind längst Krebsmedikamente in der Entwicklung, die – auf der Basis der Erkenntnisse der frischgebackenen Nobelpreisträger – die tumorinduzierte Angiogenese unterbinden wollen, um den Krebs so möglichst auszubremsen.

Die Krebszellen reagieren darauf zunächst wie ganz normale Körperzellen unter O2-Armut: Sie verstärken die Glykolyse mit Hilfe von HIF-1, dem Hypoxie-Hauptverwalter. Seit Langem ist schon bekannt, dass Tumoren mit verstärkter Glykolyse-Aktivität schneller wachsen und häufiger letale Folgen haben. Nun wird deutlich, warum. Dabei soll gerade auch HIF-1α ins Visier genommen werden: Zellen ohne den Transkriptionsfaktor sind deutlich empfindlicher gegen zytotoxische Antikrebs-Medikamente, die dann in geringer Dosis wirksamer sein können.

Der Nobelpreis für Medizin oder Physiologie 2019 zeichnet die Arbeiten auf einem Forschungsgebiet mit enormem Potenzial aus: Der Sauerstoffsensor der Zellen spielt eine Rolle im Stoffwechsel, beim Sport, bei der Anpassung an große Höhen oder bei der Entstehung von Krebs. Unerwähnt sind weitere Prozesse, die in verschiedenen Zellen und unterschiedlichen Regionen des Genoms durch HIF-1α reguliert werden: Prozesse der Wundheilung und des Immunsystems oder Mechanismen, deren Ausfall zu Herzanfällen oder Blutarmut beitragen können, die alle durch Spezialfälle von chronischer Hypoxie gefördert sein können. Wo der Sauerstoffsensor ausfällt, vergiften sich Zellen, fallen aus und machen den Körper krank. Wo er durch Doping künstlich angekurbelt wird, bringt der Organismus unheimliche Höchstleistungen; wo ihm Knüppel zwischen die Beine geworfen werden, verhungern Tumorzellen und kann Krebs besiegt werden. Vor allem legt die ausgezeichnete Forschung der Laureaten die Grundlage, um in alle denkbaren Richtungen weiterarbeiten zu können.

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