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News: Der Schein trügt

Ständig prasseln die unterschiedlichsten Sinneseindrücke auf uns ein. Wie gut, dass wir das meiste davon sofort wieder vergessen können. Doch mitunter "erinnern" wir uns an Ereignisse, die in Wirklichkeit niemals stattgefunden haben.
Falsche Erinnerung
Der Zeuge war sich ganz sicher: "Ja, die Ampel stand auf Rot." Der Schuldige für den Verkehrsunfall scheint damit klar überführt.

Doch dann stellt sich heraus: Es gab keine rote Ampel – es gab überhaupt keine Ampel an dieser Kreuzung. Allein die Frage danach genügte, um vermeintlich Gesehenes dem Gedächtnis des Zeugen zu entlocken.

Solche "falschen Erinnerungen" kennt die Psychologie schon seit langem. Bekannt ist das Beispiel des Schweizer Kinderpsychologen Jean Piaget, der glaubte, er sei als Zweijähriger beinahe entführt worden. Er meinte, sich sogar an bestimmte Details dieses traumatischen Erlebnisses ziemlich genau erinnern zu können. Doch später gab das Kindermädchen zu, die abenteuerliche Geschichte frei erfunden zu haben. Piaget hatte also nur die gehörte Erzählung des Entführungsversuchs im Gedächtnis und projizierte sie als visuelle Erinnerung in die Vergangenheit.

Inzwischen zeigen zahlreiche Versuche, wie leicht falsche Erinnerungen hervorgerufen werden können. Diese Gedächtnistäuschungen waren jedoch in der Regel mit Sprache verknüpft: Die Versuchspersonen sollten sich an einzelne Worte erinnern, oder die Pseudoerinnerungen wurden durch suggestive Fragen erzeugt.

David Beversdorf fragte sich nun, ob falsche Erinnerungen auch ohne Sprache, also nonverbal möglich sind. "Die Menschen sind empfänglich für verbale falsche Erinnerungen, also über Dinge, die gesagt worden sind oder von denen es eine begriffliche Beschreibung gibt", erläutert der Neurologe von der Ohio State University. "Wir wollten wissen, ob falsche Erinnerungen über das Sprachsystem hinaus erzeugt werden können – ob es auch das visuelle System betrifft, selbst wenn die Bilder nur schwer verbalisiert werden können."

Dazu zeigte er seinen 23 Versuchspersonen 24 Diaserien mit jeweils zwölf Bildern, die schlichte geometrische Figuren zeigten. So tauchten beispielsweise Dreiecke in verschiedener Zahl, Größe und Farbe auf.

Danach sollten die Probanden aus fünf Dias diejenigen bestimmen, die sie zuvor gesehen hatten. Zwei gehörten dazu, zwei weitere eindeutig nicht, doch das fünfte Bild hatten die Forscher als Köder hineingeschmuggelt: Es ähnelte den Bildern der Serie, war aber neu.

Und die meisten Probanden bissen an: In 60 Prozent der Fälle glaubten sie, den Köder zuvor gesehen zu haben. Damit waren die Fehleinschätzungen zwar nicht ganz so häufig wie die Treffer – 80 Prozent der zuvor gesehenen Bilder wurden richtig erkannt sowie 98 Prozent der eindeutig falschen –, lagen jedoch immer noch erstaunlich hoch. "Das zeigt", so Beversdorf, "dass visuelle falsche Erinnerungen ziemlich einfach erzeugt werden können."

Das Gehirn spielt uns also sehr schnell einen Streich. Vieles entschwindet dem Gedächtnis auf Nimmerwiedersehen, und manches nistet sich ein, ohne auf Tatsachen zu beruhen. Richter, die den Wahrheitsgehalt von Zeugenaussagen beurteilen müssen, stehen damit vor schwierigen Entscheidungen.

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