Wissenschaftsgeschichte: Der Seelenzergliederer
Am 6. Mai 1856 kam Sigmund Freud, der Vater der Psychoanalyse, auf die Welt.
"Er hat eine Tür aufgemacht, die bis dahin verschlossen war," schrieb Kurt Tucholsky anlässlich der Veröffentlichung von Sigmund Freuds Gesammelten Werken, die 1931 erschienen – pünktlich zum 75. Geburtstags des Begründers der Psychoanalyse. 75 Jahre später scheiden sich am Namen Freud nach wie vor die Geister: Auf der einen Seite überzeugte "Freudianer", die ihren Herrn und Meister glühend verehren; auf der anderen Seite die Skeptiker, die das Werk des Wiener Neurologen als wissenschaftlich nicht belegbar ablehnen.
Die dritte Kränkung
In der Tat erschütterte Freud die Grundfesten unseres Selbstbilds und wird daher gern in einem Atemzug mit Nikolaus Kopernikus und Charles Darwin genannt. Während Kopernikus zur ernüchternden Erkenntnis kam, dass die Erde nicht der Mittelpunkt der Welt ist, und Charles Darwin die biologische Art Homo sapiens vom Thron der Schöpfung stieß, brachte Freud der Menschheit die dritte Kränkung bei: "Der Mensch ist nicht Herr seiner selbst." Die Erkenntnis, dass unser Denken und Handeln zum allergrößten Teil vom Unbewussten gesteuert wird und sich damit weit gehend der bewussten Kontrolle des Intellekts entzieht, war vor einhundert Jahren revolutionär und ist heute immer noch gewöhnungsbedürftig.
Gute Schulnoten und die Unterstützung seines Elternhauses ermöglichen dem jungen Freud den Aufstieg aus kleinbürgerlichem Milieu.
Vom Körper zum Geist
So betreibt er "recht nachlässig" das Medizinstudium und wird erst 1881 zum Doktor der Medizin promoviert – mit einem Thema, das noch wenig vom späteren Lebenswerk erahnen lässt: "Über das Rückenmark niederer Fischarten". Freud träumt von der akademischen Karriere eines Wissenschaftlers, doch die wirtschaftliche Not veranlasst den jungen Arzt, eine Stelle am Wiener Allgemeinen Krankenhaus anzutreten. Neben seinen ärztlichen Pflichten forscht er weiter über die Funktionsweise des Nervensystems, beschäftigt sich – auch in Selbstversuchen – mit den Wirkungen von Kokain und wird nach seiner Habilitation 1885 zum Privatdozenten für Neuropathologie an der Universität Wien berufen.
Zurück in Wien lässt sich Freud 1886 als praktizierender Nervenarzt nieder. Erst jetzt kann er seine langjährige Verlobte Martha Bernays heiraten. Aus der Ehe gehen sechs Kinder hervor: Mathilde, Jean Martin (in dessen Vornamen sich Freuds Ehrfurcht vor Charcot widerspiegelt), Oliver, Ernst August, Sophie und schließlich Anna, die als Kinderanalytikerin das Werk ihres Vaters fortsetzen sollte. 1891 zieht die junge Familie in die Berggasse 19 – Wohn- und Wirkstätte für die folgenden 47 Jahre.
Bereits zuvor hat Freud den Wiener Arzt Joseph Breuer kennengelernt, der ebenfalls mit Hypnosebehandlungen experimentiert. Zusammen entwickeln sie die Methode der freien Assoziation, bei der die berühmte Couch zum Einsatz kommt: Die Patienten nehmen entspannt Platz und erzählen frei von der Leber weg, was ihnen gerade in den Sinn kommt.
Nach einer Selbstanalyse formuliert Freud 1897 die Theorie des Ödipus-Komplexes: Wie der griechische Sagenheld, der seinen Vater ermordete und seine Mutter ehelichte, fühlt sich seiner Ansicht nach jeder Sohn in frühester Kindheit zu seiner Mutter hingezogen, hasst aber unterschwellig den Vater als Rivalen – eine Theorie, die Freud 1905 in seinen "Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie" vertieft.
Mit seinen Ansichten zur psychosexuellen Entwicklung des Menschen – mit oraler, analer, phallischer und genitaler Lebensphase – dürfte sich Freud in seiner eher prüden Zeit nicht nur Freunde gemacht haben. Sein Ruhm gründet sich auf ein Werk, das bereits im November 1899 erscheint, aber die geschichtsträchtige Jahreszahl 1900 trägt: "Die Traumdeutung". Hier beschreibt er den Traum als "Königsweg zum Unbewussten", der verdrängte Erlebnisse, Empfindungen und Wünsche offenbart.
Freud und Feind
1902 ernennt die Wiener Universität Freud zum außerordentlichen Professor – die Berufung zum ordentlichen Professor lässt noch 18 Jahre auf sich warten – und im gleichen Jahr gründet er die "Psychologische Mittwoch-Gesellschaft", die Keimzelle der 1910 entstehenden Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung. Der Begründer der Psychoanalyse schart etliche Schüler um sich, wie Alfred Adler oder Carl Gustav Jung, die aber später mit ihrem berühmten Lehrer brechen und eigene Wege gehen.
Freud entwickelt seine Theorien weiter und beschreibt 1923 in "Das Ich und das Es" die Struktur der menschlichen Psyche. Demnach wird unser Seelenleben von drei Instanzen beherrscht: Im "Es" sammeln sich die triebhaften Elemente des Unbewussten, während das "Über-Ich" die durch Erziehung und Gesellschaft verinnerlichten Normen und Weltbilder repräsentiert. Dazwischen steht das bewusste "Ich", das zwischen den beiden anderen Instanzen vermitteln muss.
Doch das Unheil lässt sich nicht aufhalten: Am 12. März 1938 erfolgt der Anschluss von Freuds Heimat Österreich an das Dritte Reich, kurz darauf wird seine Tochter Anna durch die Gestapo verhört. Freud packt seine Sachen und emigriert am 4. Juni nach London.
Freuds Kieferkarzinom wuchert weiter. Schwer krank bittet der Neurologe schließlich seinen Hausarzt Max Schur um eine Überdosis Morphium. Am 23. September 1939 um drei Uhr morgens endet das Lebens des Seelenkundlers.
Die dritte Kränkung
In der Tat erschütterte Freud die Grundfesten unseres Selbstbilds und wird daher gern in einem Atemzug mit Nikolaus Kopernikus und Charles Darwin genannt. Während Kopernikus zur ernüchternden Erkenntnis kam, dass die Erde nicht der Mittelpunkt der Welt ist, und Charles Darwin die biologische Art Homo sapiens vom Thron der Schöpfung stieß, brachte Freud der Menschheit die dritte Kränkung bei: "Der Mensch ist nicht Herr seiner selbst." Die Erkenntnis, dass unser Denken und Handeln zum allergrößten Teil vom Unbewussten gesteuert wird und sich damit weit gehend der bewussten Kontrolle des Intellekts entzieht, war vor einhundert Jahren revolutionär und ist heute immer noch gewöhnungsbedürftig.
Dabei war die Revolution des Geistes Sigismund Schlomo Freud – erst als junger Erwachsener nannte er sich Sigmund –, der am 6. Mai 1856 im mährischen Freiberg (dem heutigen Pribor) das Licht der Welt erblickte, nicht in die Wiege gelegt. Die Geschäfte seines Vaters, des jüdischen Wollhändlers Kallamon Jacob Freud, laufen mehr schlecht als recht, die Familie zieht zunächst nach Leipzig und lässt sich schließlich 1860 in Wien nieder. Von nun an sollte die Donaumetropole Freuds Heimatstadt bleiben – bis ihn die Nationalsozialisten 78 Jahre später vertrieben.
Gute Schulnoten und die Unterstützung seines Elternhauses ermöglichen dem jungen Freud den Aufstieg aus kleinbürgerlichem Milieu.
"Eine besondere Vorliebe für die Stellung und Tätigkeit des Arztes habe ich nicht verspürt"
(Sigmund Freud)
1873 schreibt er sich in die Medizinische Fakultät der Universität Wien ein – allerdings nicht gerade hoch motiviert, wie er selbst zugibt: "Eine besondere Vorliebe für die Stellung und Tätigkeit des Arztes habe ich in jenen Jugendjahren nicht verspürt, übrigens auch später nicht." (Sigmund Freud)
Vom Körper zum Geist
So betreibt er "recht nachlässig" das Medizinstudium und wird erst 1881 zum Doktor der Medizin promoviert – mit einem Thema, das noch wenig vom späteren Lebenswerk erahnen lässt: "Über das Rückenmark niederer Fischarten". Freud träumt von der akademischen Karriere eines Wissenschaftlers, doch die wirtschaftliche Not veranlasst den jungen Arzt, eine Stelle am Wiener Allgemeinen Krankenhaus anzutreten. Neben seinen ärztlichen Pflichten forscht er weiter über die Funktionsweise des Nervensystems, beschäftigt sich – auch in Selbstversuchen – mit den Wirkungen von Kokain und wird nach seiner Habilitation 1885 zum Privatdozenten für Neuropathologie an der Universität Wien berufen.
Freud mausert sich zum anerkannten Neurologen, doch zur Wende – ja zum Schlüsselerlebnis – sollte sein halbjähriger Aufenthalt in Frankreich werden: Von Oktober 1885 bis März 1886 hospitiert er am Pariser Hôpital de la Salpêtrière. Hier weiht der Psychiater Jean Martin Charcot – der "Napoleon der Neurosen" – den jungen Kollegen in die Geheimnisse der Hypnose ein. Charcot behandelt ein besonders bei Frauen verbreitetes rätselhaftes Syndrom: anfallsartige Lähmungen und Sprachausfälle, gepaart mit zum Teil starker körperlicher Erregung. Der Grund für die so genannten hysterischen Anfälle bleibt im Dunkeln, doch indem Charcot seine Patientinnen hypnotisiert, kann er zumindest deren Leiden lindern.
Zurück in Wien lässt sich Freud 1886 als praktizierender Nervenarzt nieder. Erst jetzt kann er seine langjährige Verlobte Martha Bernays heiraten. Aus der Ehe gehen sechs Kinder hervor: Mathilde, Jean Martin (in dessen Vornamen sich Freuds Ehrfurcht vor Charcot widerspiegelt), Oliver, Ernst August, Sophie und schließlich Anna, die als Kinderanalytikerin das Werk ihres Vaters fortsetzen sollte. 1891 zieht die junge Familie in die Berggasse 19 – Wohn- und Wirkstätte für die folgenden 47 Jahre.
Bereits zuvor hat Freud den Wiener Arzt Joseph Breuer kennengelernt, der ebenfalls mit Hypnosebehandlungen experimentiert. Zusammen entwickeln sie die Methode der freien Assoziation, bei der die berühmte Couch zum Einsatz kommt: Die Patienten nehmen entspannt Platz und erzählen frei von der Leber weg, was ihnen gerade in den Sinn kommt.
"Die Hysterie verhält sich in ihren Lähmungen, als gäbe es keinen Körper"
(Sigmund Freud)
Verdrängte traumatische Erinnerungen sollen so aus den Tiefen des Unbewussten ans Tageslicht gelockt werden. In die Wissenschaftsgeschichte geht dabei Breuers Patientin Bertha Pappenheim ein, deren Fall die beiden Neurologen als "Anna O." in den "Studien über Hysterie" 1895 beschreiben. (Sigmund Freud)
Ein Jahr später verfasst Freud einen Aufsatz, bei dem er sich endgültig aus dem sicheren Terrain der Neurologie herauswagt: "Die Hysterie verhält sich in ihren Lähmungen und anderen Äußerungen, als gäbe es keine Anatomie, keinen Körper, jedenfalls keinen körperlichen Zusammenhang." Psychische Störungen müssen demnach nicht unbedingt aus der Anatomie des menschlichen Nervensystems erschlossen werden. Statt dem Körper wendet sich Freud dem Geist zu und spricht zum ersten Mal von "Psychoanalyse" – zu Deutsch: Seelenzergliederung.
Nach einer Selbstanalyse formuliert Freud 1897 die Theorie des Ödipus-Komplexes: Wie der griechische Sagenheld, der seinen Vater ermordete und seine Mutter ehelichte, fühlt sich seiner Ansicht nach jeder Sohn in frühester Kindheit zu seiner Mutter hingezogen, hasst aber unterschwellig den Vater als Rivalen – eine Theorie, die Freud 1905 in seinen "Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie" vertieft.
Mit seinen Ansichten zur psychosexuellen Entwicklung des Menschen – mit oraler, analer, phallischer und genitaler Lebensphase – dürfte sich Freud in seiner eher prüden Zeit nicht nur Freunde gemacht haben. Sein Ruhm gründet sich auf ein Werk, das bereits im November 1899 erscheint, aber die geschichtsträchtige Jahreszahl 1900 trägt: "Die Traumdeutung". Hier beschreibt er den Traum als "Königsweg zum Unbewussten", der verdrängte Erlebnisse, Empfindungen und Wünsche offenbart.
Freud und Feind
1902 ernennt die Wiener Universität Freud zum außerordentlichen Professor – die Berufung zum ordentlichen Professor lässt noch 18 Jahre auf sich warten – und im gleichen Jahr gründet er die "Psychologische Mittwoch-Gesellschaft", die Keimzelle der 1910 entstehenden Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung. Der Begründer der Psychoanalyse schart etliche Schüler um sich, wie Alfred Adler oder Carl Gustav Jung, die aber später mit ihrem berühmten Lehrer brechen und eigene Wege gehen.
Freud entwickelt seine Theorien weiter und beschreibt 1923 in "Das Ich und das Es" die Struktur der menschlichen Psyche. Demnach wird unser Seelenleben von drei Instanzen beherrscht: Im "Es" sammeln sich die triebhaften Elemente des Unbewussten, während das "Über-Ich" die durch Erziehung und Gesellschaft verinnerlichten Normen und Weltbilder repräsentiert. Dazwischen steht das bewusste "Ich", das zwischen den beiden anderen Instanzen vermitteln muss.
"Im Mittelalter hätten sie mich verbrannt, heutzutage begnügen sie sich damit, meine Bücher zu verbrennen"
(Sigmund Freud)
Freud steht damit auf dem Höhepunkt seiner Karriere. Doch im gleichen Jahr wird bei ihm Kieferkrebs diagnostiziert; trotz zahlreicher Operationen fällt ihm das Sprechen immer schwerer. Auch in der Weltpolitik ziehen bedrohliche Wolken auf: 1933 ergreifen die Nationalsozialisten in Deutschland die Macht; als "jüdische Pornografie" geschmäht, landen Freuds Werke auf den Scheiterhaufen. Doch der Meister trägt es mit Fassung: "Was wir für Fortschritte machen! Im Mittelalter hätten sie mich verbrannt, heutzutage begnügen sie sich damit, meine Bücher zu verbrennen." (Sigmund Freud)
Doch das Unheil lässt sich nicht aufhalten: Am 12. März 1938 erfolgt der Anschluss von Freuds Heimat Österreich an das Dritte Reich, kurz darauf wird seine Tochter Anna durch die Gestapo verhört. Freud packt seine Sachen und emigriert am 4. Juni nach London.
Freuds Kieferkarzinom wuchert weiter. Schwer krank bittet der Neurologe schließlich seinen Hausarzt Max Schur um eine Überdosis Morphium. Am 23. September 1939 um drei Uhr morgens endet das Lebens des Seelenkundlers.
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