Topologisches Qubit: Der Streit um Microsofts »Quanten-Märchen«

Wenn es in der Physik Schlagzeilen zu neuen Technologien gibt, geht es in der Regel entweder um Supraleiter oder um Quantencomputer. Doch nicht immer halten die spektakulären Ankündigungen das, was sie versprechen. Gerade in diesen zwei Gebieten gab es in der Vergangenheit immer wieder Forschungsskandale und schwer wiegende Fehler. Das droht sich nun zu wiederholen – zumindest befürchten das mehrere Fachleute.
Dieses Mal geht es um eine Bekanntmachung von Microsoft. Die US-Firma erklärte am 19. Februar 2025, den Heiligen Gral des Quantencomputings geschaffen zu haben: Der neue Quantenprozessor »Majorana-1« berge erstmals so genannte topologische Qubits. Dabei handelt es sich um quantenmechanische Recheneinheiten, die wesentlich robuster sind als die Qubits in bestehenden Quantencomputern. Sollte sich das bewahrheiten, wäre das ein enormer Fortschritt in dem Bereich.
Denn Quantencomputer sind extrem empfindlich. Das macht es bislang sehr schwer, verlässliche Quantenberechnungen durchzuführen. Ein topologischer Quantenprozessor wäre hingegen deutlich widerstandsfähiger. »Quantencomputer könnten uns zu Materialien verhelfen, mit denen sich Risse in Brücken reparieren lassen, die eine nachhaltige Landwirtschaft ermöglichen oder zur Entdeckung neuer Chemikalien führen«, schrieb der Microsoft-Physiker Chetan Nayak in einem Blogbeitrag der Firma. Entsprechend hoch waren die Erwartungen nach der vollmundigen Verlautbarung.
Doch schnell äußerten Physikerinnen und Physiker ihre Zweifel. Denn Microsoft hatte bislang nicht die zugehörigen Daten vorgestellt, die ihr vermeintliches Ergebnis untermauern. Die weltweit größte Physikkonferenz, das American Physical Society Summit im kalifornischen Anaheim, sollte Klarheit bringen. Dort präsentierten die Forschenden der US-Firma erstmals ihre Methoden und stellten sich den Fragen der Community.
Das Fazit der Teilnehmenden ist allerdings ernüchternd. »Es wurden keine neuen Ergebnisse vorgestellt, die die berechtigte Kritik im Vorfeld entkräftet hätten«, urteilt der Physiker Daniel Loss von der Universität Basel. Das sieht auch der Physiker Babak Seradjeh von der Indiana University so: »Die veröffentlichten und präsentierten Daten überzeugen mich nicht davon, dass sie auch nur ein Paar Majorana-Zustände erreicht haben, ohne die es kein topologisches Qubit gibt.« Dem stimmt Henry Legg von der schottischen University of St Andrews zu: »Es gibt keinen Grund zu glauben, dass die vorgestellten Daten irgendetwas mit einem topologischen Qubit zu tun haben.«
Schlechtes Timing
Der Unmut der Fachleute begann damit, dass Microsoft zeitgleich mit der spektakulären Ankündigung im Februar 2025 eine Forschungsarbeit in der Fachzeitschrift »Nature« veröffentlichte. Doch entgegen den Erwartungen enthielt diese nicht den Nachweis eines topologischen Qubits. Stattdessen handelte die Arbeit von zwei supraleitenden Drähten, die in einen überlagerten Zustand gebracht wurden – sozusagen in eine Mischung aus 0 und 1, wie ein gewöhnliches Qubit. Das an sich ist zunächst nichts Besonderes. »Diese Messungen allein sagen nichts darüber aus, ob die nachgewiesenen Zustände topologisch sind«, stellten die Microsoft-Autoren im Paper klar. Und auch die Gutachter der »Nature«-Veröffentlichung betonten: »Das Redaktionsteam möchte darauf hinweisen, dass die Ergebnisse keinen Beweis für das Vorhandensein von topologischen Zuständen in den Geräten darstellen.«
Die Pressemitteilung behauptete aber etwas anderes. Demnach sei es den Microsoft-Forschenden erstmals gelungen, einen topologischen Zustand (auch Majorana-Zustand genannt) zu erzeugen und in eine Überlagerung zu bringen, wodurch ein topologisches Qubit entstehe. Die bei »Nature« erschienene Veröffentlichung sei bereits 2024 verfasst worden, erklärte der Leiter der Microsoft-Forschungsgruppe für Quantencomputer, Chetan Nayak, und habe erst einmal den Begutachtungsprozess durchlaufen müssen. In der Zwischenzeit habe sein Forschungsteam aber weitergearbeitet und die nötigen Daten für den Nachweis eines topologischen Qubits gesammelt. »Ich habe sie diese Woche auf der Station Q-Tagung vor mehr als 100 Forschenden im Detail vorgestellt«, schrieb Nayak am 20. Februar 2025 in einer Kommentarspalte des Blogs des Informatikers Scott Aaronson. »Ich werde die Ergebnisse während meines Vortrags auf der APS-Märztagung diskutieren.«
Excited to hear what @Dr_Chetan_Nayak has to say about @MSFTResearch’s efforts on realizing topological zero modes in Majorana devices at the @APSphysics#APSSummit25, with @PedramRoushan being the chair. pic.twitter.com/YrHjkE8RPK
— Jens Eisert (@jenseisert) March 18, 2025
Auf der Tagung der American Physical Society treffen mehr als 10 000 Fachleute aus aller Welt aufeinander und diskutieren die neuesten Forschungsergebnisse aus allen Bereichen der Physik. Daher fieberten viele Forschende der Veranstaltung entgegen. Andere zeigten hingegen Unverständnis für das Verhalten der Microsoft-Forschenden: »Wenn sie neue Ergebnisse haben, die nichts mit dieser Arbeit zu tun haben, warum warten sie nicht, bis sie genug Material für eine separate Veröffentlichung haben?«, sagte der Physiker Daniel Loss von der Universität Basel gegenüber »Nature«.
Eine Geschichte voller Misserfolge
»In diesem Forschungsbereich gab es in der Vergangenheit viele schlechte Erfahrungen mit zurückgezogenen Arbeiten«, sagt die Physikerin Jelena Klinovaja von der Universität Basel. Und mit vielen dieser Entwicklungen hatte Microsoft zu tun. So eröffnete die US-Firma im Jahr 2017 ein Forschungszentrum in der Nähe der Technischen Universität Delft, das der Physiker Leo Kouwenhoven leiten sollte. Ein Jahr später gab das Forschungsteam in einer bei »Nature« erschienenen Arbeit bekannt, einen topologischen Majorana-Zustand nachgewiesen zu haben. Doch die ehemaligen Mitarbeiter von Kouwenhoven, Sergey Frolov (jetzt an der University of Pittsburgh) und Vincent Mourik (inzwischen am Forschungszentrum Jülich), erklärten im Frühling 2020, dass sich die Ergebnisse nicht reproduzieren lassen. Daraufhin zogen Kouwenhoven und sein Team die Arbeit im März 2021 zurück. Auch andere Forschungsgruppen hatten in der Vergangenheit von Durchbrüchen in dem Bereich berichtet und mussten ihre Behauptungen kurze Zeit später widerrufen. Entsprechend skeptisch zeigen sich Fachleute inzwischen, wenn Majorana-Zustände angekündigt werden – vor allem, wenn dabei die entscheidenden Beweise fehlen.
Bislang existieren topologische Majorana-Zustände nur auf dem Papier. Diese könnten in Festkörpern entstehen, zum Beispiel in einer bestimmten Klasse von Supraleitern. In solchen Materialien verbinden sich die Elektronen zu so genannten Cooper-Paaren, wodurch sie selbst über weite Distanzen hinweg untrennbar miteinander verbunden sind. In einem extrem dünnen supraleitenden Draht könnten sich die paarweise gebundenen Elektronen nebeneinander wie die Perlen auf einer Kette anordnen. Falls es eine ungerade Anzahl an Elektronen darin gäbe, so die Theorie, dann spaltet sich das überschüssige, ungepaarte Elektron auf: Die eine »Hälfte« des Teilchens landet dann an einem Ende des Drahts und die zweite am anderen Ende. Natürlich wird das Elektron nicht wirklich geteilt – so etwas wie ein halbes Elementarteilchen gibt es nicht –, aber die komplizierten Wechselwirkungen der vielen Teilchen innerhalb des supraleitenden Drahts erzeugen Zustände, die sich wie ein halbes Elektron verhalten. Und diese entsprechen den begehrten topologischen Quantenzuständen, den Majorana-Zuständen.
Das Problem: Es ist alles andere als einfach, solche Zustände zu erzeugen. »Die Qualität der Geräte muss extrem hoch sein, damit sie Majorana-Teilchen bergen können«, schreibt Frolov in einer auf LinkedIn veröffentlichten Stellungnahme. »Jede Unvollkommenheit im Material, selbst auf der Nanometerskala, ist ein Problem für topologische Supraleitung.« Noch schwieriger, als die topologischen Zustände selbst herzustellen, sei es, sie zweifelsfrei nachzuweisen. Denn Festkörper bestehen aus Milliarden und Abermilliarden Teilchen, die auf komplexe Art und Weise miteinander wechselwirken. Sie genau zu kontrollieren, ist unmöglich. Immer wieder können Anregungen entstehen, die einem topologischen Zustand ähneln, aber selbst nicht topologisch sind.
In den vergangenen Jahren hatten die Fachleute von Microsoft ein so genanntes »Topological Gap Protocoll« (kurz: TGP) entwickelt: eine Methode, die eindeutig nachweisen soll, ob Majorana-Zustände in einem Material anwesend sind oder nicht. Im Jahr 2022 beschrieb es Nayak seinem Kollegen Sankar Das Sarma in einem Youtube-Video – noch bevor das Protokoll im Detail in einem Paper veröffentlicht war. »Wir haben eine sehr hohe Messlatte für dieses Protokoll, um falsch positive Ergebnisse auszuschließen«, sagte Nayak. Das Protokoll solle nur dann positiv ausfallen, wenn mit absoluter Sicherheit ein Majorana-Zustand existiere. »Das Protokoll nimmt ein Gerät, scannt die verschiedenen Parameter – Spannung, Magnetfeld und so weiter – und stellt eine Reihe von Ja-Nein-Fragen: Handelt es sich hierbei um einen topologischen Zustand oder nicht?« Die Realität sehe aber völlig anders aus, urteilt Frolov: »Jetzt sehen wir das Protokoll im Paper und erkennen, dass das, was Nayak behauptete, vollkommen falsch ist.«
Der Streit beginnt
Frolov stützt sich dabei auf eine Arbeit, die der Physiker Henry Legg zusammen mit Daniel Loss, Jelena Klinovaja und einem weiteren Kollegen im Mai 2024 veröffentlichten. Darin zeigten sie, dass das 2022 veröffentlichte TGP-Protokoll von Microsoft durchaus falsch positive Ergebnisse produzieren kann – was Nayak ja eigentlich ausschließen wollte. »Die Basler Theoretiker führten das Protokoll an Nicht-Majorana-Daten durch, und es schlug positiv aus«, sagt Frolov.
Zudem stellte Legg in späteren Veröffentlichungen von Microsoft immer wieder Unstimmigkeiten bei der Anwendung des TGP fest. »Ihr Protokoll liefert mitunter sehr merkwürdige Ergebnisse«, erklärt Klinovaja. »Es ist extrem empfindlich gegenüber dem gewählten Messbereich für Magnetfelder oder Spannungen. Aus der Veröffentlichung geht nicht hervor, wie diese Intervalle zuverlässig ausgewählt werden können, aber die Wahl beeinflusst das Ergebnis – ob das System topologisch ist oder nicht. Dies gibt Anlass zu ernster Besorgnis.«
Das Hauptproblem sei aber die Messgröße, anhand derer das TGP entscheide, ob ein Zustand topologisch sei, erklärt Legg. Denn diese Größe sei extrem empfindlich gegenüber Unordnung im genutzten Nanodraht, was die Verlässlichkeit des Protokolls beeinträchtigt. »Viele dieser Bedenken wurden bereits im Sommer 2024 mit Microsoft erörtert, und sie räumten ein, dass in ihrer Veröffentlichung nicht alles richtig gemacht wurde«, erklärt Klinovaja. Allerdings sei es schwierig, auf alle Details einzugehen, da die US-Firma nicht alle Inhalte ihrer Vorgehensweise veröffentlicht habe. »Es ist höchst ungewöhnlich, dass solche Theoriedetails in ihrer Veröffentlichung nicht ausdrücklich erwähnt werden«, sagt Klinovaja. »Das macht die Ergebnisse nicht reproduzierbar.«
Andererseits fanden auch die Microsoft-Physiker offenbar Schwächen in der Arbeit des Basler Teams rund um Legg, Loss und Klinovaja. In einem beim Preprint-Server »ArXiv« veröffentlichten Kommentar geben Nayak und seine Kollegen an, dass ihr Protokoll bei genauerer Betrachtung das Basler-Modell (das nicht topologisch ist) keinesfalls als topologisch kategorisiert hätte. Dieser Kommentar wurde von Gutachtern der Fachzeitschrift, in der die Basler Arbeit erschienen war, geprüft – und abgelehnt. Klinovaja erklärt, dass es viele weitere Szenarien geben könnte, in denen das TGP zu falsch positiven Ergebnissen führt: »Wir haben nur ein minimales Modell konstruiert, um ein Gegenbeispiel zu geben. Das TGP ist weder ausreichend noch notwendig, um einen topologische supraleitenden Zustand zu identifizieren.«
»Es wird immer Wichtigtuer geben – wir haben keine Zeit, uns mit diesen Leuten zu beschäftigen«Zulfi Alam, Physiker bei Microsoft
Legg hatte die Microsoft-Forschenden schon vor ihrer Veröffentlichung im Februar 2025 immer wieder auf die Probleme des Protokolls hingewiesen. Da sie seine Zweifel nicht ernst nahmen, veröffentlichte er wenige Tage nach Erscheinen ihrer Pressemitteilung eine wissenschaftliche Abhandlung auf dem Preprint-Server »ArXiv«, in der er seine Zweifel erneut kundtat. Als der Corporate Vice President von Microsoft, Zulfi Alam, auf LinkedIn mit diesen Bedenken konfrontiert wurde, reagierte er harsch: »Es wird immer Wichtigtuer geben, die sich nicht wirklich die Mühe machen, die Paper zu lesen, oder auch nur zu versuchen, die Daten zu verstehen. Aber sie lieben es, Meinung zu machen. Sie haben fast das Bedürfnis, als die klügsten Leute bekannt zu sein, die ›es kapiert haben‹ – wir haben keine Zeit, uns mit diesen Leuten zu beschäftigen.«
Auch Nayak spielte die Zweifel der Physik-Community herunter. Nach einer Anfrage des Journalisten Dan Garisto erklärte er, Legg würde »einen Strohmann« bauen und viele seiner Einwände seien falsch. Ins Detail ging Nayak dabei aber nicht. Auf weitere Nachfragen reagierte er wie sein Kollege Alam: Man werde im März auf der Physikkonferenz über all das diskutieren.
Die lang ersehnte Konferenz
Die entscheidenden Tage der Konferenz waren der 17. und der 18. März 2025. Am ersten Termin hielt Legg einen zehnminütigen Vortrag mit dem Titel »Can we build a topological Qubit in 2025?«. Am Tag darauf fanden mehrere Veranstaltungen von Microsoft statt, unter anderem die lang ersehnte Präsentation von Nayak, bei der er die bislang fehlenden Daten vorstellen sollte. »Microsoft erhält mehrere 30-minütige Vorträge auf Einladung. Ich bekomme nur 10 Minuten, aber als ›Meinungsmacher‹ brauche ich auch nur 10 Minuten«, schrieb Legg auf Bluesky – eine sarkastische Anspielung auf Alams vorangehenden bissigen Kommentar.
Die Titelfolie von Leggs Präsentation zeigt ein Märchenbuch der Gebrüder Grimm. Damit ist schnell klar, wie der Physiker die im Titel befindliche Frage beantworten würde. Seine Schlussfolgerung: »Jede Person und jede Firma, die behauptet, im Jahr 2025 ein topologisches Qubit erzeugt zu haben, verkauft uns eine Märchengeschichte.« Denn es gäbe aktuell keine verlässliche Methode, um zweifelsfrei ein Majorana-Qubit in den Nanodrähten nachzuweisen. »Auch nach zehn Jahren intensiver Forschung sind die Geräte zu störanfällig«, sagt Legg. »Deswegen braucht man vielleicht eine völlig andere Plattform«. Klinovaja, die bei der Konferenz anwesend war, sagt: »Ich denke, dass Henry Leggs Kommentare in der Community gut ankamen und jeder eine professionelle Antwort von Microsoft erwartet.«
Nach Leggs Präsentation meldete sich der Physiker Roman Lutchyn, der bei Microsoft arbeitet, zu Wort: »Viele Behauptungen dieses Vortrags sind falsch«, sagte er. Zum Beispiel bei den falsch positiven Ergebnissen des TGP, die Legg während seiner Rede vorgestellt habe: Es handele sich dabei um einen Fall unter 700 – und sei somit vernachlässigbar. Dieses und die übrigen Argumente von Legg würde Nayak am kommenden Tag entkräften, versprach Lutchyn.
Und dann kam der Moment, auf den alle gewartet hatten: Um 8 Uhr morgens stellte Nayak die Forschungsergebnisse der letzten Monate vor. Bilder auf Social Media zeigen trotz der frühen Uhrzeit einen vollständig gefüllten Vortragssaal. »Es war ein schöner Vortrag«, resümierte Daniel Loss gegenüber »Nature«. Aber er bemängelte die starken Behauptungen und den Mangel an Beweisen: »Die Community ist nicht glücklich. Sie haben es übertrieben.« Auch Jens Eisert von der FU Berlin zeigte sich auf X zwiegespalten: »Viele Daten, kein Hype – wenn auch nicht ganz schlüssig.« Legg äußerte sich hingegen direkter.
»Dieser Chip kann nicht funktionieren, zumindest nicht nach dem, was wir jetzt gesehen haben«, sagt Frolov. Um die topologischen Zustände zu erzeugen, haben Nayak und sein Team zwei Nanodrähte genutzt, die in der Mitte miteinander verbunden sind – eine Art h-förmiger Aufbau. Der Theorie zufolge sollten darin vier Majorana-Zustände entstehen, je einer an den zwei Enden der beiden Drähte. »Sie haben Fortschritte gemacht und ihr Gerät wird immer komplexer«, sagt Klinovaja. Die entscheidenden neuen Daten, die Nayak vorstellte, waren so genannte X- und Z-Messungen, welche die topologischen Zustände auf den zwei Drähten vermessen, einmal entlang der vertikalen, einmal entlang der horizontalen Achse.
Nayaks Folie mit den Ergebnissen der X-Messungen zeigte ein wildes Durcheinander aus zickzackförmigen Linien. »Das charakteristische Signal ist mit dem bloßen Auge nicht offensichtlich erkennbar«, gibt Nayak zu. Eigentlich sollte der Graph sich abwechselnde, waagerechte Liniensegmente zeigen, die auf zwei verschiedenen Höhen verlaufen. Selbst mit viel Fantasie haben die vorgestellten Daten nichts damit zu tun. »Die Daten zeigen nur Rauschen«, sagt Frolov.
Laut Nayak liefere eine Verarbeitung der Daten aber ein klareres Ergebnis. Das scheint nicht alle im Saal zufrieden zu stellen. »Die Analyse, die vorgelegt wurde, um diesem Rauschen einen topologischen Charakter zu entlocken, ist bisher unbefriedigend und nicht überzeugend«, sagt der Physiker Babak Seradjeh, der die Veranstaltung aus der Ferne verfolgte. Nach dem Vortrag erklärt eine Anwesende, sie hätte ein deutlicheres Signal erwartet. Und auch Loss hegt weiterhin Zweifel: »Die gezeigten Daten sind nicht überzeugend, es bleiben wichtige Fragen offen.«
»Das war für viele Physiker frustrierend. Und diese Frustration hat sich über die Zeit weiter aufgebaut«Sergey Frolov, Physiker
»Wir müssen die Arbeit und die entsprechenden Daten sehen und sie im Detail analysieren, bevor die Community überzeugt ist«, sagt Klinovaja. Einen solchen Fachaufsatz wollen die Microsoft-Forschenden in den kommenden Wochen veröffentlichen, gaben sie bekannt. Einige Fachleute wittern ein Déjà-vu. Im März 2022 hatte Microsoft angekündigt, erstmals einen topologischen Zustand nachgewiesen zu haben. Auch in diesem Fall fand die Ankündigung kurz vor der APS-Konferenz statt. Damals war Frolov zur Konferenz gereist. »Viele Leute waren sehr verwirrt davon«, erinnert sich der Physiker. »Wir fragten uns, wo das Paper blieb«, denn außer der Presseankündigung war damals nichts erschienen. Erst um Juli 2022 erschien die dazugehörige Forschungsarbeit – ebenjene, in welcher Legg, Loss und ihr Team erhebliche Schwachstellen fanden. »Das war für viele Physiker frustrierend«, sagt Frolov, »und diese Frustration hat sich über die Zeit weiter aufgebaut.« Und nun wiederholt sich das Ganze: Presseankündigung, Warten auf den Vortrag, Warten auf das Paper.
Die Fachwelt scheint sich einig, dass der Vortrag von Nayak nicht das hielt, was Microsoft im Vorfeld angekündigt hatte. »Es sind noch viel mehr ungekürzte Daten und Analysen erforderlich, die transparent und ohne Rosinenpickerei weitergegeben werden, bevor sich die Fragen zu Microsofts Behauptungen beantworten lassen«, sagt Seradjeh.
Nun ruhen die Erwartungen auf der angekündigten Forschungsarbeit, die noch einen Begutachtungsprozess durchlaufen muss. Bleibt nur zu hoffen, dass die Gutachter vorsichtig vorgehen und die Arbeit aufmerksam auf mögliche Schlupflöcher und Fehlinterpretationen hin prüfen. Denn eine weitere zurückgezogene Arbeit kann das Fachgebiet nach den vielen Forschungsskandalen in der Vergangenheit so gar nicht gebrauchen.
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