Ernährung: Der ungesunde Gesund-essen-Boom
Kochte Jamie Oliver früher gerne mit viel Öl und Sahne, ist bei seinem neuen "Superfood"-Buch eher Schmalhans Küchenmeister. Anstatt eines Doppeldecker-Sandwiches mit Käse und Kartoffelchips gibt es nun Veggie-Burger mit buntem Salat. Auch sonst wird mit Herzhaftem gespart, während Grüngemüse dominiert. Das Buch schwimmt auf einer Welle mit, die zahlreiche Menschen erreicht hat. Diese Menschen meiden seit einiger Zeit etwa Laktose und Gluten, eigentlich vollkommen normale und keineswegs schädliche Substanzen, wenn man gesund ist. Im Trend sind auch Rohkost, Veganismus, Steinzeitdiät (Paleo-Diät), Clean-Eating, Makrobiotik, Säure-Basen-Ernährung oder Lichtnahrung. Andere treibt die ständige Angst vor Zusatzstoffen oder Rückständen in den Lebensmitteln um, Fertigprodukte halten sie für Gift.
Zahlreiche Ratgeber, Blogs, soziale Netzwerke und angesagte Speiselokale befeuern diesen "Foodamentalismus" – ein Begriff den Johann Kinzl, Psychosomatiker an der Universität Innsbruck, geprägt hat. Jeder vierte Deutsche lässt bestimmte Nahrungsmittel im Supermarkt liegen, weil man diese nicht vertrage. Für neun Prozent ist dabei das Weizeneiweiß Gluten der Übeltäter. Auch der Milchzucker Laktose bereitet anscheinend immer mehr Menschen Darmgrummeln: Allein im Jahr 2012 steigerte sich der Absatz an laktosefreien Lebensmitteln um 20 Prozent, obwohl die Anzahl der Laktose-Intoleranten hier zu Lande bei rund 15 Prozent stagniert. Nach einer Studie der Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) haben auch rund 80 Prozent der Käufer gar keine Milchzuckerunverträglichkeit, ähnlich sieht es bei glutenfreien Produkten aus. Auch der Umsatz mit veganen Lebensmitteln wächst seit 2010 mit jährlichen Raten von 17 Prozent. Rund ein Prozent der Deutschen isst nichts vom Tier. Dieser Trend ist auch außer Haus zu beobachten: Laut dem Food Report 2015 wünschen sich 60 Prozent der Deutschen vegetarische und 7 Prozent vegane Gerichte in Restaurants.
Dabei ist fraglich, wie gesund dieser Boom tatsächlich ist. Viele vegane und glutenfreie Lebensmittel strotzen beispielsweise vor Zusatzstoffen. Denn: Glutenfreie Produkte schmecken oft nicht und werden darum mit Zucker, Fett und Bindemitteln aufgepeppt. Vegane Fleischersatzprodukte funktionieren meist nur mit Hilfe von Geschmacksverstärkern. Gefährlich wird das Ganze, wenn Milch etwa auch Kleinkindern vorenthalten wird, weil die Eltern sie für ungesund halten. Vegan ernährte Kinder können unter einem Vitamin-B12-Mangel leiden, wenn das Vitamin nicht per Tablette zugeführt wird. Für Erwachsene hingegen kann Veganismus gesund sein, wenn sie sich abwechslungsreich ernähren und dafür sorgen, alle wichtigen Nährstoffe zuzuführen.
Die Rohkost gibt es in vielen (etwa auch veganen) Formen, "eine gesundheitliche Bewertung ist daher nicht möglich", schreibt Claus Leitzmann, Ernährungswissenschafter an der Universität Gießen, im Buch "Alternative Ernährungsformen". Da durch das Erhitzen von Nahrung aber zahlreiche Nährstoffe erst verfügbar werden, kann es zu starkem Untergewicht kommen. Bei Frauen, die sich lange Zeit roh ernähren, bleibt oft die Regel aus.
Was wurde in der Steinzeit verzehrt?
Paleo-Anhänger verzichten hingegen auf Getreide und Kartoffeln, da diese vor dem Neolithikum (zirka 10 000 v. Chr.) nicht verfügbar gewesen und unser Körper darum an diese nicht angepasst sei. Allerdings ist nicht ganz klar, was in der Steinzeit tatsächlich verzehrt wurde. Stärkereiche Wurzeln könnten laut neuerer Studien sehr wohl dazugehört haben. Auch Hülsenfrüchte und Milch verabscheuen die Steinzeitköstler, was reichlich kurios ist, gelten doch diese Lebensmittel praktisch jedem Ernährungswissenschaftler als gesund. Und auch diese Diät kann Probleme bereiten. Schließlich führt man damit dem Körper Unmengen an Eiweiß zu. So isst manch ein Steinzeitköstler die wöchentlich empfohlene Fleischmenge gut und gerne in ein bis zwei Tagen. Allerdings zeigen Humanstudien kurzfristig durchaus positive Effekte etwa auf den Blutzuckerspiegel, einfach weil weder Zucker noch Weißmehl auf den Teller kommt. Langfristige Untersuchungen zur Paleo-Diät gibt es jedoch nicht. Gemäß Beobachtungsstudien erhöht aber ein Übermaß an Schnitzel & Co das Risiko für Krankheiten wie Darmkrebs.
Die Säure-Base-Diät scheint zwar nicht schädlich zu sein, ob sie ihre Anhänger wie versprochen gesünder macht, ist jedoch ebenfalls nicht geklärt. Clean-Eater meiden jegliche Fertigprodukte, versuchen frische Lebensmittel zu verwenden und viel selbst zu kochen, was Ernährungsmediziner sogar begrüßen. Gleiches gilt für die ovolaktovegetarische Diät, bei der also nur Fleisch gemieden wird.
"Man erhofft sich durch eine körpernahe Erlösung Unsterblichkeit – was früher die Religion leistete"Christoph Klotter
Gemein ist jedoch allen Ernährungsmoden: Kommt es zu Mangelernährung, zu Haarausfall, häufigen Infekten oder Müdigkeit, sinkt auch das Wohlbefinden. Zudem bergen besonders restriktive Formen auch die Gefahr einer Essstörung. Wenn die Gedanken ständig um das Essen kreisen und "Fehltritte" zu schlechtem Gewissen führen, nennen Psychologen das Orthorexia nervosa. "Die Orthorexie ist zwar kein eigenständiges Krankheitsbild, sie kommt aber mit anderen Ess- und Zwangsstörungen oft vergesellschaftet vor", erklärt Christoph Klotter, Ernährungspsychologe an der Hochschule Fulda. Laut Erhebungen der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf zählen rund ein bis drei Prozent der Bevölkerung dazu, vor allem Frauen. "Der Graubereich dürfte jedoch viel größer sein", meint Carl Leibl, Mediziner an der psychosomatischen Schön Klinik Roseneck, wo man sich auf die Behandlung von Essstörungen spezialisiert hat. Klotter spricht gar von einer "essgestörten Gesellschaft".
Gesundheitswahn als Katalysator für die Verzichtkultur?
Aber warum werden vormals gelobte Lebensmittel als massive Bedrohung wahrgenommen? "Über das Essen wird heute die soziale und kulturelle Identität abgeleitet", sagt Klotter. Also: Weil ich anders esse, zum Beispiel vegan, bin ich Fleischessern und sogar Vegetariern moralisch überlegen. Der Philosoph Robert Pfaller von der Kunstuniversität Linz meint: "Diejenigen, die sich dieser Disziplin nicht völlig unterwerfen, stehen als verantwortungslose Hedonisten da." Denn die Maßlosen sind ja diejenigen, die später krank sind und die Sozialkassen belasten, wird gern auch von Medizinern argumentiert. Darum ist es nicht verwunderlich, dass der Gesundheitswahn als Katalysator für die Verzichtkultur fungiert. So üben viele Versicherungen Druck aus, gesund zu leben, sonst drohen Extrazahlungen: Stark Übergewichtige entrichten höhere Beiträge bei Risikolebensversicherungen und können auch nicht verbeamtet werden.
Auch das Wegfallen spiritueller Ordnungssysteme spielt nach der Interpretation mancher Forscher eine Rolle. "Man erhofft sich durch eine körpernahe Erlösung Unsterblichkeit – was früher die Religion leistete", so Klotter. Und diese Entwicklung war nur möglich, da heute das Angebot an Nahrungsmitteln und die Ratschläge über die gesunde Ernährung derart unübersichtlich geworden sind. So ändern sich die offiziellen Ernährungsempfehlungen permanent, gerade erst wurde der Ratschlag, des Herzens wegen fettarm zu essen, revidiert. "Das Essen nach Regeln, die Einteilung in gute und böse Lebensmittel bringt daher Ordnung ins Leben", erläutert Klotter.
Vergessen darf man nicht, dass Gifte im Essen etwa Mutterkornalkaloide im Brot den Menschen seither begleitet haben, Skepsis hier also nicht fehl am Platz ist. Allerdings werden die Risiken völlig falsch bewertet, schließlich sind Lebensmittel heute so sicher wie noch nie in der Menschheitsgeschichte. Der Grund für die Fehleinschätzung: Es mangelt an mathematischer Bildung, wie Gerd Gigerenzer vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung meint: "In Deutschland scheint sich ein Innumeratentum breitzumachen, das sich darin äußert, mit Mathematik und Zahlen nicht zurechtzukommen und darauf auch noch stolz zu sein."
Genießer leben gesünder
Doch die Folgen des Foodamentalismus sind noch weitreichender als Mangelernährung und Zwangsstörungen. Denn Essen ist viel mehr als die Summe der Inhaltsstoffe. Essen ist soziale Interaktion, und wer sein eigenes Süppchen kocht, isoliert sich. Auch scheint Genuss gesünder als Verzicht zu sein. Seit einigen Jahren gibt es in der Ernährungswissenschaft einige Vertreter, die Ernährung als Totalphänomen betrachten, die nicht nur die Kalorien und Vitamine im Essen zählen und ihre Wirkung beobachten, sondern auch sämtliche anderen Einflüsse mitdenken: Isst man allein oder mit Freunden, isst man vor dem Fernseher oder an einer Tafel, isst man in Eile oder mit Muße, hat man das Gemüse vielleicht sogar selbst gepflanzt. Sie beobachten erstaunliche Effekte, die ganz unabhängig von der Nährstoffzusammensetzung auftreten.
Die Ernährungswissenschaftlerin Marlies Gruber schreibt in ihrem Buch "Mut zum Genuss": "Forscher vermuten, dass genussreiche Erlebnisse durch die Freisetzung von Gamma-Aminobuttersäure beruhigende und Angst lösende Effekte haben. Genuss zu erleben wirkt daher als möglicher Stresspuffer." Zudem gibt es Hinweise, dass Genuss und Freude am Essen sich positiv auf die Verwertung der Nahrung auswirken. Genießer entwickeln ein Alltagsverhalten, das uns vor den Exzessen des Genießens bewahrt, weil man mit allen Sinnen genießt, aufmerksamer ist. Belege für eine therapeutische Wirkung des Genusses gibt es auch schon: Psychologen der Universität Marburg haben bereits vor mehr als 30 Jahren die "Kleine Schule des Genießens" als Therapieprogramm gegen Depressionen entwickelt. Die Therapieform wird in zahlreichen psychosomatischen Kliniken auch bei krankhaftem Übergewicht mit Erfolg angewandt. Hanni Rützler, Ernährungswissenschaftlerin am Wiener Zukunftsinstitut, schreibt in ihrem im Buch "Muss denn Essen Sünde sein?": "Genießer treiben mehr Sport, essen vielfältiger, sind öfter an der frischen Luft und gehen häufiger zu Vorsorgeuntersuchungen." Auch sollen Genießer öfter optimistisch, glücklich, ausgeglichen und entspannt sein.
Dennoch scheint auch die kulinarische Kasteiung zunächst positive Folgen zu haben, sonst gäbe es nicht derart viele euphorische Berichte in den sozialen Netzwerken. Allerdings kann sich eine drastische Ernährungsumstellung durchaus auf die Haut, das Gewicht oder Kopfschmerzen auswirken. Forscher halten das für einen Placeboeffekt – mangels anderer Erkenntisse. Schließlich gibt es keine Studien, die etwa belegen, dass glutenfreie Ernährung zu weniger Kopfschmerzen führt oder die Haut verbessert. Es gibt dazu auch keinen biochemischen Mechanismus, mit dem diese Wirkung erklärt werden könnte. Was man schon nachvollziehen kann, ist, warum viele Menschen abnehmen: einfach weil sie durch die Umstellung meist weniger Kalorien zu sich nehmen. Doch nach dieser Besserung bleibt nur noch der Verzicht als Lebensziel, und damit bleibt nichts weniger als die alte Idee des "guten Lebens" auf der Strecke. "Die Mäßigung ist sehr in Ordnung, aber nur dann, wenn man sie maßvoll betreibt", mahnte schon der griechische Philosoph Epikur.
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