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Naturschutzkonferenz Bonn 2008: Der Wert der Vielfalt

Was kostet ein Wald, wie viel ein Harlekinfrosch? Bringt es Nutzen, den Heilbutt zu erhalten oder das Madagaskar-Immergrün? Fragen, denen sich die Menschheit und auch die Naturschützer stellen müssen, wollen sie die globale Artenvielfalt bewahren. Auf der UN-Konferenz zur Biodiversität in Bonn steht diese Diskussion im Mittelpunkt.
Plakat zur Vielfalts-Konferenz
Sie hätte sich wohl kaum einen besseren Platz zum Nestbau aussuchen können: die Blaumeise, die ihr Domizil ausgerechnet im Schrankenpfosten der Zufahrt zum alten Wasserwerk Bonns aufgeschlagen hat. Drinnen im ehemaligen deutschen Bundestag diskutiert das so genannte High-Level-Segment der Umweltminister und vereinzelter Staatenlenker aus aller Welt über Fortschritte im Artenschutz. Draußen sammelt der kleine Singvogel akribisch Insekten, um seine Küken zu versorgen, die in einer nahezu uneinnehmbaren Festung aufwachsen – gut bewacht von mindestens drei Sicherheitsleuten und für Elster, Marder oder Katze hinter unknackbarem Stahl verborgen.

Vielleicht ist die wuselige Meise ein Symbol, dass sich Mensch und Natur durchaus arrangieren könnten, gäbe Homo sapiens der Umwelt denn eine faire Chance. Die Gegenwart aber sieht anders aus, und in einer Welt, in der Wirtschaftswachstum oberste Priorität hat, ist es vielleicht nicht die schlechteste Idee, der Biodiversität denn auch einen finanziellen Wert zu geben – welchen sie haben könnte, wird kurz nach der Begegnung mit der Blaumeise in der offiziellen Pressekonferenz im Wasserwerk verkündet.

Fehlende Zinsen

Auf Initiative von Bundesumweltminister Sigmar Gabriel und dem griechischen EU-Umweltkommissar Stavros Dimas sollte der Investmentbanker Pavan Sukhdev von der Deutschen Bank berechnen, welchen Preis die vielfältigen Dienstleistungen der Natur eigentlich kosten.
"Der Schutz der Natur muss Zinsen bringen"
(Sigmar Gabriel)
Denn, so Gabriel: "Der Schutz der Natur muss Zinsen bringen – diese Zinsen fehlen heute noch." Weise man der Natur keinen Preis zu, werde sie gering geschätzt, denn Appelle an die Moral hätten bei den meisten eine geringe Reichweite. "Erst kommt das Fressen, dann die Moral", zitiert der oberste Hüter der deutschen Umwelt aus Berthold Brechts Dreigroschenoper. Auch diese Missachtung des monetären Charakters habe dafür gesorgt, dass es seit der Umweltkonferenz von Rio de Janeiro 1992 kaum Fortschritte im Artenschutz gegeben habe.

Vorstellung des Berichts zum "Wert der Vielfalt" | UNEP-Chef Achim Steiner, EU-Umweltkommissar Stavros Dimas, Bundesumweltminister Sigmar Gabriel und Investmentbanker Pavan Sukhdev von der Deutschen Bank (von links) stellen den Bericht zum Wert der Vielfalt vor.
Nun müsse die Welt aber schleunigst umsteuern, schließt Achim Steiner der Chef der UNO-Umweltbehörde UNEP an: "Der ökonomische Kompass, der uns durch die letzten 200 Jahre geleitet hat, benötigt eine Korrektur." Ökonomie, Ökologie und Ethik seien keine Gegensätze, sondern müssten Seite an Seite gestellt werden. "Es gilt, eine neue Ökonomie zu erfinden."

Und Beispiele für das Versagen der herkömmlichen Wirtschaftsweise listen die hohen Herren seitenweise in ihrem Zwischenbericht auf: Haiti beispielsweise hat 97 Prozent seiner einstigen Wälder verloren. Erosion und der rasche Wechsel von Dürren wie heftigen Überschwemmungen sind die drastischen Folgen, da die Vegetation als Korrektiv verloren gegangen ist. Regnet es, waschen die Fluten den fruchtbaren Boden in Staubecken und das Meer, was die Stromerzeugung schmälert oder Korallen bedeckt. Ein Teufelskreis aus Armut, fortgesetzter Umweltzerstörung und noch mehr Armut entstand dadurch, der Haiti heute zum am wenigsten entwickelten Staat Amerikas macht.

Vielfalt rettet Leben

Doch auch wir in der so genannten entwickelten Welt profitieren stark von der Natur – auch wenn es vielleicht nicht immer auf den ersten Blick zu sehen ist. Sukhdev wählte London stellvertretend für den westlichen Lebensstil: Jedes Jahr erkranken dort rund 400 Kinder an Leukämie, die 1970 nur ein knappes Drittel von ihnen überlebt hätte. Heute dagegen können mehr als 300 erfolgreich behandelt werden – unter anderem weil Pharmazeuten im Madagaskar-Immergrün aus dem Regenwald der Insel Inhaltsstoffe entdeckt haben, die die Chemotherapie entscheidend verbesserten. Jährlich trinken die Bürger der Stadt 1,3 Milliarden Kaffee, dessen Produktion um ein Fünftel ertragreicher ausfällt, wenn die Kaffeepflanzen von Wildbienen aus angrenzenden Wäldern bestäubt werden: ein Ertragsplus von rund 360 Dollar pro Hektar.

Die Millionen-Metropole nimmt aber nicht nur etwas aus der Natur, sondern gibt ihr auch etwas – allerdings wenig erfreuliches: 53 Millionen Tonnen Kohlendioxid, die dem Planeten einheizen. Ein fast ebenso großer Betrag wird im Masoala-Nationalpark auf Madagaskar gespeichert, dessen Erhalt also auch dem Klima zugute kommt. Ein Kapitalwert, den der Finanzfachmann auf 105 Millionen Dollar schätzt.
"Es gilt, eine neue Ökonomie zu erfinden"
(Achim Steiner)
Und Masaola lockt Touristen aus London und dem Rest der Welt auf die arme Insel im Indischen Ozean, die dem Land mehr als fünf Millionen Dollar Einnahmen brachten. "Artenvielfalt geht verloren, weil sie noch nicht derart bewertet wurde", schließt Sukhev, der in den nächsten Jahren den langfristigen "Wert" der Vielfalt in Marktpreise umzurechnen, um sie fassbar "wertvoll" zu machen.

Und das tut Not, mahnt der Ökonom: Die rasant voranschreitende Entwaldung kostet die Weltgemeinschaft schon heute jährlich Milliardensummen, weil sich Fluten häufen, die Erosion zunimmt und sich der Klimawandel beschleunigt. Und aus zerstörten Wäldern lassen sich natürlich auch nicht mehr langfristige Gewinne durch nachhaltig gewonnene Produkte ziehen. Setzt sich die Abholzung bis 2050 ungebremst fort, müsste die Menschheit auf sechs Prozent des globalen Bruttoinlandsprodukts verzichten – immerhin zwischen 1,3 und 3,1 Billionen Dollar. Ähnliche Größenordnungen drohen etwa durch Überfischung oder den Verlust von Korallenriffen oder Mangroven, die einen effektiven wie billigen Küstenschutz garantieren.

Lukrative Kosten-Nutzen-Rechnung

Wolle man dagegen ein weltweites System zum Schutz aller Ökosysteme in Form von Nationalparks aufbauen und bewahren, koste dies 45 Milliarden Dollar pro Jahr, kalkuliert Sukhev weiter. Damit erzielen könne man aber 4,4 bis 5,2 Billionen Dollar durch Tourismus, Klima- und Küstenschutz, Bewahrung von Böden und Wassereinzugsgebieten – ein extrem lukratives Verhältnis. Ähnliches gelte für Meeresschutzgebiete, die einmal ein Fünftel der Ozeanfläche einnehmen sollen. Sie kosteten der kommerziellen Fischerei zwar jährlich 270 Millionen Dollar, doch – und das ist wissenschaftlich mehrfach nachgewiesen – verhindern sie als Brutstätte für Fische die Überfischung, sichern damit Einnahmen im Umfang von 70 bis 80 Milliarden Dollar pro Jahr und schaffen eine Millionen neuer Arbeitsplätze. Macht die Weltgemeinschaft dagegen weiter wie bisher, droht durch den Kollaps der Fischbestände ein Verlust von bis zu 100 Milliarden Dollar jährlich und von Millionen Arbeitsplätzen.

Die Welt für die Kinder bewahren | Eine Schule, ein Baum, ein Geschenk an die Natur: Mit einer Buche im Bonner Hofgarten startete am 22. Mai die Aktion "Green Wave".
Nicht überall stößt die Initiative aber auf die gleiche Begeisterung wie bei den Politikern im Wasserwerk. "Die Ökonomisierung der Umwelt ist kein Königsweg", wirft Jörg Roos vom WWF ein, der fürchtet, dass am Ende nur das protegiert wird, dass Gewinn abwirft. Doch Sigmar Gabriel ist überzeugt: "In ein paar Jahren ist diese Debatte vielleicht der wichtigste Beitrag zum Schutz der Artenfülle."

Davor muss der Umweltminister aber noch eine Reihe weiterer Diskussionen, die durchaus langatmig sein können, wie ein Blick in den Ex-Bundestag verrät: Etwa 60 Redner aus allen Herren Ländern nutzen die Gelegenheit, den Beitrag ihres Landes zum internationalen Naturschutz, ihre Sorgen, Nöte und Interessen vorzustellen. Nicht jeder ist dabei so enthusiastisch wie der Vertreter Guinea-Bissaus, der nach einem überschwänglichen Dank an Sigmar Gabriel, die Bundesrepublik Deutschland und die Stadt Bonn für die "großartige Konferenz und die großartige Aufnahme durch Stadt und Bevölkerung" die Leistung seines Staates hervorhebt: von der Einrichtung eines Nationalparks im Regenwald über den Schutz eines wichtigen Eiablageplatzes für Meeresschildkröten bis hin zu Studien, wie die Paviane in dem kleinen afrikanischen Staat bewahrt werden könnten.

"Thank you, Germany"

Ihm folgen weitere Danksagungen durch die Vertreter Pakistans (der zudem die Natur seines Landes vom Hindukusch bis zum Arabischen Meer rühmt), Sambias oder Tschechiens, die alle deswegen ihren Zeitrahmen von drei Minuten pro Person sprengen, bis Gabriel einschreitet und bittet, trotz der Ehre für die Bundesrepublik auf diese Huldigungen zu verzichten. Allein es nützt nichts: Bis auf den österreichischen Teilnehmer (ein zwinkerndes "ohne Dank an Deutschland") will sich keiner daran halten, und dennoch fällt diese Rede eher langatmig aus.

Hinter den Kulissen im Hotel Maritim feilschen die Delegierten derweil weiter kräftig um Kompromisse, Formeln und Fußnoten – ohne große Fortschritte bislang.
"Die Ökonomisierung der Umwelt ist kein Königsweg"
(Jörg Roos)
Immerhin liegt neben den finanziellen Zusagen Deutschlands und Norwegens zum Waldschutz nun auch eine Absichtserklärung Spaniens vor, die es den beiden milliardenschweren Vorreitern nachtun soll. Und 30 Nationen würden gegen Ausgleichszahlungen weitere Wälder unter Schutz stellen, doch Japan, Großbritannien und Italien führen hier die Riege der Bremser an, die nicht für auswärtige Reservate aufkommen wollen. Brasilien und Malaysia stemmen sich dagegen, dass Plantagenwäldern eine geringere Klimaschutzleistung zugebilligt werden soll als Urwäldern, was eine artenbedrohende Umwandlung Letzterer in Ersteres verhindern könnte.

Weitere Konfliktpunkte sind Agrartreibstoffe, für die ein Zertifizierungssystem erstellt werden soll, gentechnisch veränderte Bäume (von Umweltschützern als "Frankentrees" karikiert), der illegale Holzeinschlag – dessen gesetzliche Eindämmung in der Europäischen Union ein wildes Hin- und Herschieben der Verantwortlichkeit auslöst – sowie die Nutzung der Meere. Wer da wo wie und warum bremst, ist nicht immer klar ersichtlich, denn Koalitionen wechseln oft. Einige harte Nüsse kristallisieren sich jedoch heraus: Allen voran widersetzt sich Kanada Fortschritten bei den Verhandlungen über die Vielfalt der Nutzpflanzen, Agrarkraftstoffen, den Rechten indigener Völker, bei den Schutzgebieten oder dem Klimawandel – es scheint fast so, als wolle die nordamerikanische Nation ihrem südlichen Nachbarn als böser Bube der internationalen Gemeinschaft streitig machen. Doch die Vereinigten Staaten nehmen ohnehin eher als Beobachter teil, haben sie die Konvention von Rio nie ratifiziert.

Goldene Kettensäge gegen Blockierer

Eine Blockadehaltung nehmen auch Australien, Brasilien, Neuseeland und auch Japan immer wieder ein, obwohl das Land der aufgehenden Sonne der nächste Gastgeber der Tagung sein wird. Greenpeace zeichnet denn auch täglich ein Land mit der "Goldenen Kettensäge" als widerspenstigsten Staat aus – eine zweifelhafte Ehre, die neben dem zweimaligen "Sieger" Brasilien, Japan und Kanada auch der EU zuteil wurde, weil sich mächtige Staaten gegen finanzielle Hilfe für den Naturschutz in Entwicklungsländern stemmen. Insgesamt wird man sich wohl bis Freitagabend nur auf grobe Leitlinien einigen können, die 2010 in Japan in völkerrechtlich verbindlichen Verträgen enden sollen.

Goldene Kettensäge | Der größte Blockierer der Tagung wird täglich von Greenpeace für den Preis der "Goldenen Kettensäge" nominiert. Unter anderem dabei: die Europäische Union, Kanada und Japan. "Rekordhalter" ist bislang Brasilien mit zwei Nominierungen.
Den Natur- und Umweltschützern drinnen und vor allem draußen vor dem Konferenzgebäude geht dies natürlich nicht schnell und weit genug. Auf dem "Platz der Vielfalt" zwischen den Ministerien für Gesundheit, Umwelt und Verkehr hat sich ein Potpourri der Interessensgruppen versammelt: von den Giganten der internationalen und nationalen Naturschutzszene wie Greenpeace, WWF, NABU oder Conservation International bis hin zu kleineren Gruppen die für Naturprodukte aus dem Amazonas werben, die natürliche Aufforstung des atlantischen Regenwaldes propagieren oder die "Ahle Wurscht" aus dem Nordhessischen als "Slow Food" anpreisen. Vertreten sind Pfadfinder, kirchliche Gruppen oder Naturpädagogen; die Bundestagsfraktion der Grünen stellt ihre Umweltpolitik genauso vor wie die Volkswagenstiftung ihr Engagement oder ein Naturcampingunternehmen seine umweltfreundlichen Produkte.

Über allem schwebt außerhalb der Tagungsräume eine friedliche Festivalatmosphäre, zu der das bunte Völkergemisch beiträgt: Indios aus dem Amazonasgebiet mit traditionellem Federschmuck und Hightech-Kameras treffen auf Professoren aus Bayreuth oder München, die über die Artenvielfalt in deutschen Städten referieren. Kindertanzgruppen unterhalten gestresste Tagungsteilnehmer, die ein Päuschen zum Sonnenbad nutzen. Und Bio-Bratwürste oder Bio-Pommes konkurrieren mit organisch angebauten Früchten aus den Tropen – ein letzter Hinweis auf den Wert der Artenvielfalt: Sie schmeckt auch.

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