Ökosysteme: Der Wert der Zweiten
Langsam hebt sich der morgendliche Nebel über dem Petén in Guatemala. Erhaben tauchen die steil aufragenden Ruinen der antiken Maya-Stadt Tikal aus dem Dunst auf, die morgendlichen Rufe der Brüllaffen setzen ein, im Chor mit Vogelstimmen und Insektenzirpen. Wer auf den obersten Stufen der hohen Tempel steht, blickt bis zum Horizont über ein grünes Meer aus Bäumen: Das Gebiet gehört zum größten noch erhaltenen Tieflandregenwald Lateinamerikas außerhalb des Amazonasgebiets. Hier schleichen Jaguare und Tapire durch das Dickicht, die Artenvielfalt gehört zur höchsten Mittelamerikas – für das ungeübte Auge sieht so wohl eine unberührte Wildnis aus.
Doch der Eindruck täuscht. Denn zur Blütezeit von Tikal zwischen 200 und 900 n.Chr. lebten wohl mehrere Millionen Menschen in der Region Petén. Der Wald war großflächig für Ackerland gerodet worden, um die großen Maya-Siedlungen zu versorgen. Andauernde Kriege und wohl auch eine ökologische Krise, die durch Klimaveränderungen und ausgelaugte Böden den Menschen Hungersnöte bescherte, bereiteten der Hochkultur jedoch vor etwa 1000 Jahren, lange vor Ankunft der Spanier, ein Ende. Mit dem Verschwinden der Menschen kehrte die Natur zurück. Nur wirkliche Spezialisten können noch anhand der Verteilung einzelner Baumarten unterscheiden, ob bestimmte Flächen schon wieder echter Urwald oder noch nachwachsender Sekundärwald sind. In einer Welt, die von um sich greifender Abholzung und Artensterben geprägt ist, könne man diese Regenerationsfähigkeit nicht hoch genug schätzen, meint daher die Waldforscherin Robin Chazdon von der University of Connecticut in Storrs: "Nur ein Drittel der tropischen Waldfläche besteht tatsächlich aus Urwald. Außerhalb Südamerikas bestimmen überall nachwachsende Wälder das Bild."
Unterschätzte Vielfalt
Dass die Artenvielfalt auch in Sekundärwäldern noch oder wieder sehr hohe Werte erreichen kann, zeigen Arbeiten der Forscherin in Mittelamerika. Costa Rica beispielsweise kämpfte wie viele andere Länder der Tropen lange mit starker Entwaldung: Regen- und Trockenwälder fielen, um Plantagen oder Viehweiden Platz zu machen; ursprüngliche Natur beschränkte sich zunehmend auf die Nationalparks der Region. In den letzten Jahren und Jahrzehnten kehrte sich der Trend allerdings wieder um: Menschen zogen in die Städte oder bevorzugten lukrativere Einkommensquellen wie den zunehmenden Tourismus gegenüber der Landwirtschaft. Nutzflächen fielen brach, und die Pflanzen begannen, dieses Gelände zurückzuerobern – mit Macht. Auf ihren vor 10 bis 50 Jahren aufgegebenen Untersuchungsflächen zählten Chazdon und Co je nach Alter bis zu 90 Prozent der Baumarten, die auch in unberührten Tieflandregenwäldern Costa Ricas zu finden sind. Natürlich fehlen noch die typischen Urwaldriesen, die das allgemeine Blätterdach überragen, doch zumindest im Unterholz waren sie schon wieder aufgekeimt und auf dem Weg nach oben. Andere Studien zu kleinen Säugetieren, Vögeln, Amphibien und Reptilien oder Insekten weisen in eine ähnliche Richtung, denn viele Arten überleben im Sekundärwald oder wandern rasch wieder aus angrenzenden ursprünglichen Refugien ein. "Die Biodiversität erholt sich schneller als gedacht", fasst die Biologin zusammen.
Innerhalb von nur 200 Jahren, so ihre Schätzung, könne sich wieder ein Regenwald entwickeln, der nicht mehr von unbeeinflusster Wildnis zu unterscheiden ist. Vorherige Schätzungen gingen von viel längeren Zeiträumen aus. Begünstigt wird die relativ rasche Erholung durch ein erst vor Kurzem entdecktes Zusammenspiel verschiedener Arten [1]. "Tropische Wälder bilden ein riesiges Kohlenstofflager. Doch ohne Stickstoff nehmen sie auch kaum Kohlenstoff auf", erklärt Sarah Batterman von der Princeton University: Ist das Verhältnis von Kohlenstoff zu Stickstoff ungünstig, wachsen die Bäume schlechter. Dies gilt besonders für viele Regionen entlang des Äquators, in denen die geologisch alten Böden durch die andauernden Regenfälle stark ausgelaugt und an Nährstoffen verarmt sind.
"Wenn man ihnen heute eine Chance gewährt, können sie zu den Urwäldern von morgen werden"Robin Chazdon
Dennoch bemerkten die Forscher um Batterman, dass Sekundärwälder bereits zwölf Jahre nach Aufgabe der Landwirtschaft viel Kohlenstoff in der Vegetation gespeichert hatten: immerhin 40 Prozent der Gesamtmenge, die in Primärwäldern steckt. Diesen rasanten Wuchs verdankt die Vegetation einer bestimmten Pflanzenfamilie, den Leguminosen, die in den Tropen zahlreich als Bäume wachsen – hier zu Lande kennt man eher ihre krautigen Vertreter wie Erbsen, Bohnen oder Klee. "Stickstoff fixierende Bäume sind in Europa oder Nordamerika eher untypisch, aber im Regenwald sorgen sie dafür, dass das Ökosystem funktioniert", sagt der ebenfalls an der Studie beteiligte Lars Hedin von der Princeton University: Über in Symbiose lebende Bakterien reichern sie Stickstoff aus der Luft im Boden an, wovon benachbarte Pflanzen ebenfalls profitieren.
Kulturland Amazonien?
Doch nicht alle Forscher sind gleichermaßen von der schnellen Erholung der Natur überzeugt. "Im östlichen Amazonasgebiet dauert dieser Prozess deutlich länger. Die Wälder wachsen hier langsamer", meint der Tropenökologe Hans ter Steege vom Naturalis Biodiversity Center in Leiden. Und selbst in gut entwickelten Sekundärwäldern fehlten noch wichtige Artengruppen: "Die typischen Harthölzer mit ihren schweren Samen breiten sich nur sehr langsam wieder aus. Sie tauchen erst spät auf." Und mit ihnen viele darauf angewiesene Arten wie Höhlenbrüter oder Epiphyten – Pflanzen, die im Geäst der Bäume wachsen.
Allerdings mehren sich die Anzeichen, dass der Tieflandregenwald Amazoniens nicht schon immer so dünn besiedelt war wie heute und vor allem von Jäger-und-Sammler-Gesellschaften extrem extensiv genutzt wurde. Noch vor wenigen Jahrhunderten scheinen vielerorts in der Region Hochkulturen existiert zu haben, deren Bevölkerung zum Teil in größeren Siedlungen lebte. Immer wieder stoßen Archäologen in jüngst gerodeten Arealen auf Spuren dieser Vergangenheit: vom Menschen beeinflusste Böden, Geoglyphen, Gräber oder Spuren von prähistorischem Maisanbau im Amazonasbecken. Manche dieser Zeugnisse reichen bis zu 6000 Jahre zurück, andere Siedlungen existierten womöglich noch, als die Konquistadoren erstmals Fuß auf den südamerikanischen Kontinent setzten.
Bevor der Mensch diese Flächen erneut entwaldete, hatte die Natur sie sich wieder zurückerobert. "Blickt man auf diese Wälder, würde man nicht erkennen, dass es je eine historische Störung gab", sagte Crystal McMichael vom Florida Institute of Technology in Melbourne gegenüber "Nature" in einem Artikel über ihre archäologischen Nachforschungen in Amazonien. Indirekte Hinweise deuten allerdings immer noch auf eine breite landwirtschaftliche Nutzung der Region. Denn trotz des extremen Baumartenreichtums im Amazonasbecken machen nur wenige Spezies mehr als die Hälfte des tatsächlichen Baumbestands aus, wie ter Steege und seine Kollegen kürzlich berichteten. Darunter befinden sich auch verschiedene Pflanzen, die nahrhafte Früchte, Nüsse oder Kautschuk liefern. Womöglich habe der Mensch bei ihrer Ausbreitung nachgeholfen, so die Forscher.
Zurück aus der Sojawüste?
"Wenn wir heutige Sekundärwälder betrachten und wie sie sich entwickeln, können wir auch Rückschlüsse daraus ziehen, wie der Mensch während der letzten 2000 bis 45 000 Jahre die Wälder beeinflusst hat und wie sie sich davon erholt haben. Die Urwälder von heute waren einst oft Sekundärwälder", leitet Robin Chazdon daraus ab und hofft: "Wenn man ihnen heute eine Chance gewährt, können sie zu den Urwäldern von morgen werden." Das gelte sogar für die großflächigen Sojaäcker oder Ölpalmenplantagen, die sich gegenwärtig in den Tropen ausbreiten und verheerend auf die Artenvielfalt wirken. Sie könnten sich ebenfalls wieder bewalden, wenn man der Natur die Freiheit ließe – wenngleich unter erschwerten Bedingungen, wie ter Steege mahnt: "Hier kann das Ökosystem ebenso zurückkehren. Je stärker jedoch der Boden verändert wurde, desto länger dauert die Wiederbewaldung. Und die Bäume müssten größere Distanzen zurücklegen, denn die betroffenen Flächen sind heute viel größer – zumal sich viele Arten auch nur langsam ausbreiten."
Immerhin zeigen die Erfahrungen der letzten Jahre, dass man die Wiederbewaldung durch gezielte Anpflanzung beschleunigen kann. "Das umgeht die Probleme bei der natürlichen Ausbreitung. Bringt man die Samen von Pionierpflanzen gezielt über großen Brachflächen aus – etwa per Flugzeug –, könnten sich die Böden rascher erholen. Es entstehen schneller wieder die Bedingungen, die empfindlichere Arten des Primärwalds zum Überleben benötigen", so ter Steege. Auf kleinen Flächen haben Naturschützer damit schon große Erfolge erzielt – etwa auf Borneo, in Ecuador oder Brasilien.
Doch bislang ignorieren viele Naturschützer diese Ökosysteme weit gehend, da sie in ihren Augen weniger wertvoll erscheinen. Das sei aber ein Fehler, so Chazdon: "Wir müssen weiterdenken, wenn wir eine möglichst hohe Artenvielfalt und starke Kohlenstoffsenken bewahren wollen." Zumal die Bedeutung der neuen Wälder noch wachsen wird: "80 Prozent aller Tropenländer besitzen nur noch oder mehr Sekundär- als Urwald. Es steht also viel auf dem Spiel." Denn ohne öffentliche Wertschätzung neigen viele Verantwortliche wie Behörden, Politiker oder Entwicklungsorganisationen dazu, diese Gebiete aufzugeben, so dass sie völlig zerstört werden – als vermeintlich nutzlose, weil degradierte Ökosysteme.
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