Comeback des Wolfs: Der Wolf hätte fast überall Platz
In Zeiten der Corona-Stille machte zuletzt manche Tiergeschichte rasch und medienwirksam Karriere. Kaschmirziegen in den Straßen eines walisischen Küstenstädtchens oder Delfine in den Kanälen Venedigs: Dass es Sichtungen eingeführter Tiere und sogar eine komplette Falschmeldung bis in seriöse Medien schafften, verdeutlicht wohl vor allem den Wunsch vieler Menschen nach mehr Wildnis. Ein Beleg für ein Comeback der Natur in dicht besiedelte Regionen sind solche Meldungen nicht. Dabei gibt es eine wahre Geschichte über die erfolgreiche Rückeroberung verloren gegangener Lebensräume durch wilde Tiere in ganz Europa und auch mitten in Deutschland: das Comeback des Wolfs.
Seit vor genau 20 Jahren, im Mai 2000, auf dem Truppenübungsplatz Oberlausitz in Sachsen die ersten vier wilden Wölfe in Deutschland nach 150 Jahren der Abwesenheit geboren wurden, geht es beständig bergauf mit den hoch sozialen Rudeltieren. Stand Anfang April wurden hier zu Lande 105 Rudel, 29 Paare und 11 territoriale Einzeltiere nachgewiesen. Könnten es noch mehr sein? Allerdings, sagt eine neue Studie – viel mehr.
Tatsächlich verläuft die Bestandszunahme exponentiell mit einem jährlichen Zuwachs von rund 30 Prozent. Ausgehend von den ostsächsischen Pionieren haben Wölfe mittlerweile Reviere in einem nordwestlichen Band bis an die niedersächsische Nordsee besetzt. Einzelne Wolfsterritorien gibt es bereits auch in Baden-Württemberg, Bayern, Rheinland-Pfalz, Nordrhein-Westfalen, Schleswig-Holstein und Thüringen. Aus diesen Vorposten könnten sich in Zukunft ebenfalls großflächig neue geschlossene Verbreitungsgebiete entwickeln.
Das zumindest ist das Ergebnis der bislang umfassendsten Studie zur Frage, welche Lebensräume in Deutschland für die Wölfe in Betracht kommen. Forscherinnen und Forscher des Leibniz-Instituts für Zoo- und Wildtierforschung (IZW), der TU Berlin und der Veterinärmedizinischen Universität Wien haben sie nun dem Bundesamt für Naturschutz vorgelegt.
»Wahrscheinlich sind weite Teile Deutschlands als Lebensraum für den Wolf geeignet«, sagt Studienleiterin Stephanie Kramer-Schadt vom IZW. Sie und ihre Kollegen ermittelten ein Potenzial für 700 bis 1400 Wolfsreviere bundesweit. Bis zu 1400 Wolfsrudel könnten also in Deutschland leben – viele tausend Tiere wären das, und mehr als dreimal so viele, wie Forscher bislang angenommen hatten.
Die Wildtierbiologen griffen nicht nur auf Daten zu sämtlichen erfassten Rudeln zurück, sie erforschten auch die Lebensgewohnheiten von 20 deutschen Wölfen, die über ein Sendehalsband metergenau ihren Aufenthaltsort verraten. »Das grundlegend Neue ist, dass wir für unsere Studie komplett auf Daten zurückgreifen konnten, die ausschließlich in Deutschland gewonnen wurden«, sagt Kramer-Schadt.
Wölfe leben längst nicht mehr nur im Wald
Anders als früher gehen die Wissenschaftler nun nicht mehr von einer so starken Bindung der Wölfe an den Lebensraum Wald aus. Selbst in viel offeneren Landschaften mit Buschland oder in Gegenden, in denen sie ungestört sind, scheint der Wolf sich wohlzufühlen. Das zeigten die Beobachtungen beim Wolfsmonitoring in Sachsen. Sie belegen, dass Wölfe durchaus in reinen Agrarlandschaften zurechtkommen. Auch in Spanien leben Wölfe bereits in der offenen »Agrarsteppe«, genau wie in der »arktischen Wüste« der baumlosen Tundra oder den Wüsten des Nahen Ostens.
Genügend Nahrung dürfte der Wolf in allen Teilen Deutschlands finden, der hohe Wildbestand macht es möglich. Rehe, Wildschweine sowie Rot- und Damhirsche sind die Hauptnahrung von Wölfen. Vor allem im Spätsommer können sie aber auch besondere Vorlieben für Obst entwickeln. »Sie sind als Habitatgeneralisten extrem flexibel und anpassungsfähig, solange sie ausreichend große Rückzugsgebiete haben, in denen sie ungestört den Tag verbringen können«, sagt Kramer-Schadt.
Verzögert illegaler Abschuss die Wiederbesiedlung?
Um sich nahezu in ganz Deutschland flächendeckend auszubreiten, braucht es aber mehr als das: »Der Wolf kann fast überall leben, das Habitat ist das geringste Problem«, sagt Andreas Zedrosser. »Ohne die Akzeptanz durch den Menschen ist jede Wiederbesiedlung zum Scheitern verurteilt«, sagt der Forscher der Universität Südostnorwegen in Bø. Zedrosser erforscht seit Langem das Comeback großer Beutegreifer in Europa. »Die Existenz und die Größe einer Population entscheidet sich an der Frage, ob wir sie akzeptieren und wie viele wir akzeptieren.«
Unter den »Big 3« der europäischen Wildnis – Braunbär, Luchs und Wolf – sieht Zedrosser den Wolf besonders im Nachteil. »Das Konfliktpotenzial ist hier am größten, weil auch die ganze mentale Kulturgeschichte vom bösen Wolf hinzukommt.«
So ist der illegale Abschuss vermutlich der entscheidende Hemmschuh bei der weiteren Ausbreitung der Tiere. Nur in einzelnen EU-Ländern dürfen sie begrenzt legal bejagt, fast immer ist der Abschuss eines Tieres mit Strafen bewehrt. Doch das scheint zahlreiche Menschen nicht zu stören: Sie greifen trotzdem zum Gewehr. Wie viele Wölfe genau gewildert werden, ist unklar, denn angesichts drohender Strafen beseitigen die meisten Täter die Kadaver, bevor jemand anderes sie findet. Von den 43 Wölfen, die man im Jahr 2020 tot auffand, waren nur zwei nachweislich an einer Kugel gestorben. In Statistiken über häufige Todesursachen rangiert die Wilderei darum auf den hinteren Plätzen, während Unfälle im Straßenverkehr ganz vorne stehen. Dabei kann man am Straßenrand verendete Wölfe womöglich einfach nur viel besser entdecken und erfassen.
Wie hoch ist die Dunkelziffer? Kramer-Schadt hat dazu mit ihren Kollegen im bayerisch-böhmischen Grenzgebiet Luchse intensiv überwacht. Sie fanden eine durch ökologische Bedingungen nicht erklärbare »Übersterblichkeit« von rund 15 Prozent der Population.
»Über solche Quoten an illegaler Verfolgung kann man auch beim Wolf spekulieren«, sagt sie. Studien in Schweden hätten eine Übersterblichkeit von rund 20 Prozent bei der Wolfspopulation ergeben; sprich jedes fünfte Tier landete vor der Flinte eines Wilderers. »Es fehlen uns für Deutschland aber Daten, um fundierte Aussagen treffen zu können«, sagt die Wissenschaftlerin.
Truppenübungsplätze als Trittsteine zur Neubesiedlung
Doch es gibt Hinweise, etwa im Muster der Neuansiedlungen. Es spricht dafür, dass sich Wölfe in Deutschland möglicherweise noch schhneller ausgebreitet hätten, wenn nicht immer wieder Tiere geschossen würden. Ilka Reinhardt vom LUPUS-Institut für Wolfsforschung in Deutschland stellte mit Kollegen fest, dass die Besiedlung neuer Gebiete in Deutschland in den Anfangsjahren stets über Truppenübungsplätzen als Trittsteine ablief. Ökologische Gründe, warum diese Gebiete besser geeignet sein sollten als beispielsweise große Naturschutzgebiete, fanden sie nicht. »Eine Analyse der Totfunddaten ergab, dass es auf gesperrten Truppenübungsplätzen nicht nur weniger Verkehrstote, sondern auch weniger illegale Verfolgung gibt als in öffentlich zugänglichen Gebieten«, sagt Reinhardt. Gerade in der Anfangsphase einer Neubesiedlung, wenn die Rudel erst winzig sind, könne illegale Verfolgung gravierende Auswirkungen für eine Population haben, sagt die Forscherin.
Auch IZW-Wissenschaftlerin Kramer-Schadt sieht die Wolfsbestände in Deutschland bislang nicht als dauerhaft gesichert an. »Wir sprechen immer noch von einer sehr seltenen Art, die erst den kleineren Teil ihres ursprünglichen Lebensraums wiederbesiedelt hat.«
»Neue Wolfsgebiete müssen sich vorbereiten«
LUPUS-Forscherin Reinhardt, die das Comeback des Wolfs seit vielen Jahren begleitet, sieht die Voraussetzungen für ein Miteinander von Wolf und Mensch heute aber deutlich günstiger an als zu Beginn der natürlichen Wiederbesiedlung Anfang der 2000er Jahre. Sämtliche Flächenländer hätten inzwischen Managementpläne für den Umgang mit Wölfen in den Schubladen, und besonders bei der Hilfe für Tierhalter habe sich viel getan. »Das ist generell in allen Bundesländern auf einem guten Weg«, sagt sie. Einige Länder finanzieren mittlerweile Schutzmaßnahmen für Schafe und Ziegen wie Elektrozäune oder auch Herdenschutzhunde zu 100 Prozent.
Besonders wichtig sei, dass auch Privatleute mit nur wenigen Tieren vom Staat gefördert würden. Denn anders als bei professionellen Tierhaltern gebe es in der Hobbyhaltung oft keine ausreichenden Schutzmaßnahmen gegen Wolfsattacken. »Hier hapert es manchmal noch mit dem Glauben an die Wirksamkeit solcher Maßnahmen«, sagt Reinhardt.
Die bisherige Erfahrung aus 20 Jahren Wolf in Deutschland zeige, dass die meisten Übergriffe auf Weidetiere dort passieren, wo Wölfe sich neu ansiedeln und die Schaf- und Ziegenhalter sich noch nicht auf deren Anwesenheit eingestellt haben, bilanziert das Bundesamt für Naturschutz. Auch die IZW-Untersuchung empfiehlt, in den bislang von Wölfen unbesiedelten Gebieten Herdenschutz vorzubereiten.
Und Wolfsforscherin Reinhardt rät den künftigen Wolfsregionen: »Wir sollten nicht warten, bis es die ersten toten Schafe gibt, sondern die Tierhalter vorausschauend so ausstatten und beraten, dass sie ihre Tiere schützen können.« Gerade für Schäfer sei der Wolf aber häufig nicht das entscheidende Problem, glaubt Reinhardt. »Fürs Fleisch bekommen sie wenig, und die Wolle ist kaum was wert.« Viele Schäfer stünden ökonomisch mit dem Rücken zur Wand. »Der Wolf ist dann noch das i-Tüpfelchen obendrauf.«
Mensch und Wolf könnten selbst dann noch einigermaßen konfliktfrei nebeneinander leben, wenn tatsächlich einmal 1400 Rudel durch die Lande streifen, glaubt Reinhardt – unter der Bedingung, dass die Tierhalter nicht alleingelassen würden. »Dass ein Miteinander von Wolf und Mensch möglich ist, zeigen doch die Länder in Süd- und Osteuropa mit viel mehr Wölfen und viel Weideviehhaltung.« Auch in der Lausitz, dem am dichtesten besiedelten Wolfsgebiet Deutschlands, gehöre der Wolf inzwischen wieder dazu. »Das ist für die allermeisten Menschen überhaupt kein Thema mehr.«
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