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Fukushima: "Der Zustand ist nach wie vor sehr kritisch"

Die Reaktoren von Fukushima sind immer noch nicht völlig unter Kontrolle. Gleichzeitig setzt bereits das Nachdenken ein, was anschließend mit dem Kernkraftwerk passieren muss. Spektrumdirekt sprach mit dem Helmholtz-Forscher Joachim Knebel vom Karlsruher Institut für Technologie (KIT) darüber, was die Nachbeben am Reaktor anrichten und wie die Anlage später gesichert werden kann.
Im Schutzanzug gegen den GAU
spektrumdirekt: Herr Knebel, wie gravierend wirkten sich die jüngsten Nachbeben für die beschädigten Reaktoren am Standort Fukushima I aus?

Joachim Knebel: Dem starken Beben vom 11. März 2011 folgten inzwischen zahlreiche Nachbeben, die auch die Region um Fukushima erschüttert haben – vier von ihnen erreichten eine Stärke über 6,5, aber unter 7,4. Solche Nachbeben können sich auch noch in den kommenden Wochen und Monaten wiederholen.

Helmholtz-Forscher Joachim Knebel vom Karlsruher Institut für Technologie | Der promovierte Ingenieur Joachim Knebel ist Sprecher des Helmholtz-Programms Nukleare Sicherheitsforschung und Chief Science Officer (CSO) am Karlsruher Institut für Technologie (KIT). Gegenwärtig steht er einer Arbeitsgruppe vor, die sich aus verschiedenen Helmholtz-Abteilungen zusammensetzt und aktuell die Geschehnisse rund um den japanischen Reaktor Fukushima untersucht.
Die bei Fukushima auftretenden Beschleunigungen des Bodens können dabei Werte bis zu zwei Meter pro Sekunde zum Quadrat erreichen, was die Situation vor allem an den durch die Wasserstoffexplosionen ohnehin vorgeschädigten Reaktorgebäuden verschärft. Dadurch öffnete sich wohl beispielsweise wieder ein Riss in einem Schacht, aus dem bis zu seiner Versiegelung am 6. April radioaktiv belastetes Wasser austrat. Zusätzlich können nichtstrukturelle Anlagenteile beschädigt werden, die provisorisch seit dem 11. März installiert wurden, insbesondere Stromzuführungen, Pumpen, Leitungen und Rohre.

Was muss man in dieser Richtung noch befürchten?

Darauf noch folgende größere Ereignisse mit Magnituden, die 7 überschreiten, haben ihre Epizentren wohl eher vor der Küste im Pazifik und erschüttern daher an den Standorten der Kernkraftwerke den Grund weniger stark. Eine Schädigung von intakten Kernkraftwerken durch diese Ereignisse ist nicht zu befürchten, da die erwarteten Bebenstärken unter oder im Bereich der Bemessungsgrenzen liegen, für die die Anlagen ausgelegt sein müssen. Diese Grenzen gelten bis zu einer Magnitude von 6,5. Ganz prinzipiell können aber außergewöhnlich starke Beben – mit einer Magnitude größer als 7 – in der unmittelbaren Nähe der Kernkraftwerke nicht ausgeschlossen werden.

Was bedeutet es, dass nun die höchste Stufe auf der internationalen Bewertungsskala für nukleare Ereignisse für die Katastrophe rund um Fukushima ausgerufen wurde?

Die internationale Bewertungsskala für nukleare Ereignisse (INES) nimmt eine nachvollziehbare Einstufung von nuklearen Ereignissen bezüglich ihrer sicherheitstechnischen Bedeutung vor. Stufe 7 bedeutet einen "Katastrophalen Unfall",
630 000 Terabecquerel entsprechen 630 000 Billionen Becquerel, die seit Beginn des Unglücks in die Atmosphäre freigesetzt wurden. Die Werte werden dabei auf die Zerfallsrate von Jod-131 umgerechnet, wobei ein Becquerel die mittlere Anzahl der Atomkerne angibt, die pro Sekunde radioaktiv zerfallen. (Anm. d. Red.)
der durch eine schwere Kernzerstörung, hohe Freisetzung an Radioaktivität – entsprechend dem Entweichen von mehreren 10 000 Terabecquerel Jod-131 – sowie große Auswirkungen auf die Gesundheit der Menschen und die Umwelt in einem weiten Umfeld um den Unglücksort gekennzeichnet ist.

Warum geschah dies erst jetzt?

Die oben geschilderten Kriterien bezüglich der Schäden an der Reaktorhülle, der Kernzerstörung und Freisetzung an Radioaktivität überschreiten jetzt erst die für INES-Stufe 7 erforderlichen Werte, wenn man den gesamten Standort Fukushima I für die Bemessung zu Grunde legt. An der grundsätzlichen Gefährdungslage hat sich nichts geändert. Der Zustand ist nach wie vor sehr kritisch.

Wie viele radioaktive Spaltprodukte sind bislang ausgetreten?

Die National Safety Commission von Japan und die Nuclear and Industrial Safety Agency (NISA) haben erst am 12. April eine erste Abschätzung der freigesetzten Radioaktivität abgegeben. Basierend darauf wurde auf INES 7 hochgestuft, da mehr als 100 000 Terabequerel Jod-Äquivalent abgeschätzt wurden. Laut NISA wurden in Fukushima 630 000 Terabecquerel allein vom Jodisotop 131 frei.

Was bedeuten diese Zahlen im Vergleich zu Tschernobyl: Wie viel wurde damals freigesetzt?

In Tschernobyl wurden insgesamt 30 bis 50 Prozent der gasförmigen Spaltprodukte und 3 bis 4 Prozent des Kerninventars ausgetragen. Auf Grund des Graphitbrands und der dadurch bewirkten starken Auftriebseffekte gelangten diese Stoffe in sehr hohe Luftschichten und wurden durch den Wind über große Flächen verteilt.

Im Schutzanzug gegen den GAU | Mitunter ist die Strahlenbelastung auf dem Gelände des Kernreaktors Fukushima I so hoch, dass die Techniker abgezogen werden müssen. Aber auch sonst herrschen extreme Arbeitsbedingungen und hohe Strahlung. Der Aufenthalt im Umfeld der havarierten Reaktoren ist daher nur mit Schutzanzügen erlaubt – auch in der Leitwarte, wo die Rettungsarbeiten überwacht werden.
In Fukushima bedeuten die von NISA genannten Zahlen, dass etwa 1 bis 2 Prozent der gasförmigen Spaltprodukte freigesetzt wurden. Diese Zahlen beziehen sich allerdings im Gegensatz zu dem einen havarierten Reaktorblock in Tschernobyl auf das Inventar von drei Reaktorkernen in den Druckbehältern der Blöcke 1 bis 3 sowie mehrerer Kernladungen in den Abklingbecken der Blöcke 1 bis 4. In Tschernobyl wurden laut einer Pressemitteilung der NISA vom 12. April etwa zehnmal mehr Becquerel Jod-Äquivalent an Jod-131 und Zäsium-137 freigesetzt. Die bisher vorliegenden Daten aus Fukushima zeigen zudem keinen nennenswerten Austrag von Kerninventar in die Umgebung.

Welche technischen Möglichkeiten bestehen, den Bau von der Außenwelt abzuriegeln?

Die zurzeit wichtigste Maßnahme ist die Installation einer geschlossenen Kühlkette, die die in den Reaktoren und Brennelementlagerbecken frei werdende Nachzerfallswärme sicher und langfristig an die Umgebung abführt. Die augenblickliche Kühlung mit Wasser – zum Beispiel über die Feuerwehr oder die mobilen Pumpen – kann nur eine Zwischenlösung sein. Und es muss so schnell wie möglich sichergestellt werden, dass kein kontaminiertes Wasser mehr in den Pazifik fließt.

Eine verlässliche Aussage, wie man die Reaktorblöcke in Fukushima von der Außenwelt strahlungssicher abriegeln kann – etwa über einen Sarkophag –,
Mehr zum Thema finden Sie auf unserer Sonderseite "Erdbeben und Reaktorunglück in Japan".
ist mit der aktuellen Datenlage nur sehr schwer zu treffen. Ein Sarkophag kann helfen, die Anlage nach oben abzuriegeln. Eine vollständige Abdichtung gegen das Erdreich ist dadurch nicht gegeben, insbesondere nicht gegen das in den Gebäuden befindliche stark kontaminierte Wasser. Eine komplette Abkapselung – auch im Erdreich – ist auf Grund der Dimension der Anlage sicher nicht möglich. Wie sähe ein Rückbau der Reaktorgebäude aus?

Das langfristige Ziel könnte es sein, ein oberflächennahes Zwischenlager zu errichten, in das alle kontaminierten Bauteile und radioaktiven Inhaltsstoffe Zug um Zug mit dem Rückbau der Reaktorblöcke eingebracht werden. Ein konkretes Konzept für den Rückbau kann aber erst ins Auge gefasst werden, wenn die Strahlenbelastung und vor allem der Zustand der Anlage im Inneren geklärt sind. Außerdem muss die Nachzerfallswärme der Brennelemente entsprechend abgeklungen sein. Um dies zu erkunden, können zum Beispiel ferngesteuerte Manipulatoren mit entsprechender Sensorik und Optik eingesetzt werden.

Für die Situation in Fukushima ist zudem noch eine weitere Überlegung bedeutend: Normalerweise erfolgt der kontrollierte Rückbau einer kerntechnischen Einrichtung von innen nach außen. Zu Beginn entfernt man die Brennelemente und Einbauten, am Ende folgt die äußere Betonstruktur. Für Fukushima müsste der Rückbau teilweise umgekehrt erfolgen, da auf Grund der sehr starken Zerstörung der Reaktorgebäude zuerst ein Zugang zu den Reaktordruckbehältern sowie den Brennelementlagerbecken geschaffen werden muss.

Grundsätzlich gilt: Ein effektiver Rückbau erfordert eine genaue Kenntnis des Anlagenzustands sowie der Radionuklide vor Ort, so dass ein Plan für den Personeneinsatz oder den Grad der notwendigen Fernmanipulierbarkeit erstellt werden kann. Notfalls muss man die einzusetzenden Maschinen und Manipulatoren an die Gegebenheiten vor Ort anpassen, da der Standard nicht verwendet werden kann.

Was muss mit den anderen Anlagenteilen wie den Turbinenhallen oder den am Meer stehenden Komponenten passieren?

Das für den eigentlichen Reaktor Gesagte gilt für die übrigen Bauten und Komponenten am Standort ebenso. Auch hier muss zunächst der genaue Ist-Zustand erfasst werden: Wie ist die Integrität und die Statik? Welche Kontamination liegt vor und wie hoch ist diese? Ist eine Dekontamination nicht möglich, so müssen diese Komponenten zerkleinert, verpackt und in ein Zwischenlager transportiert werden.

Wie kann man das radioaktive Wasser unter dem Reaktor "entseuchen"?

Das in den Reaktorgebäuden und den Verbindungsschächten stehende, kontaminierte Kühlwasser muss in Behälter gepumpt werden, um es zu einem späteren Zeitpunkt zu dekontaminieren. Dazu muss man das Wasser eindampfen, bis nur noch ein hochradioaktiver Schlamm übrig bleibt. Diesen verpackt man dann und bringt ihn in ein Zwischen- oder Endlager. Der limitierende Faktor ist hier allerdings die Verfügbarkeit von Lagervolumen. Das große Tankfloß, das vor Fukushima zum Einsatz kommen soll und eine Speicherkapazität von etwa zehn Millionen Litern hat, ist eine Zwischenlösung. Die schlechteste Wahl bleibt sicher das Abpumpen des kontaminierten Wassers in den Pazifik.

Gibt es schon Abschätzungen, ob die Sperrzone dauerhaft evakuiert bleiben muss?

Leider liegen uns aus der Evakuierungszone keine veröffentlichten Messdaten bezüglich der Kontamination vor. Deshalb ist es schwierig, gesicherte Aussagen zu treffen. Unsere am Karlsruher Institut für Technologie durchgeführten Modellrechnungen deuten darauf hin, dass große Teile der evakuierten Zone innerhalb des 20-Kilometer-Radius um die Anlage gering kontaminiert sind. Allein in Richtung Nordwesten gibt es ein Gebiet mit sehr hohem Niederschlag von Radionukliden und damit auch Dosiswerten. Dies deckt sich mit Messwerten außerhalb dieser 20-Kilometer-Zone. Unsere Ausbreitungsrechnungen haben gezeigt, dass die Kontamination stark variiert, so dass die Landschaft sehr genau ausgemessen und Maßnahmen sorgfältig abgewogen werden müssen. In den Bereichen mit hohen Strahlungswerten gehen wir davon aus, dass die Bevölkerung dort ohne Dekontaminationsmaßnahmen – wie zum Beispiel dem Abtrag des Oberbodens oder der Reinigung der Gebäude und Straßen – in den nächsten Jahren nicht zurückkehren kann. Generell ist langfristig mit den betroffenen Kommunen und der Bevölkerung zu beraten, ob überhaupt und wenn ja, unter welchen Randbedingungen sich die Menschen dort wieder ansiedeln können.

Herr Knebel, wir danken Ihnen für das Gespräch.

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