Deutsch-deutsche Städtepartnerschaften: Zarte Bande, hartes Kalkül
»Däumer hat Angst vorm Fliegen«, schrieben die »Stuttgarter Nachrichten« im Oktober 1987. Klaus Däumer, das war der SED-Oberbürgermeister von Meißen. Er war auch der Kopf einer Delegation, die wenige Tage zuvor im baden-württembergischen Fellbach eingetroffen war. Die Meldung über seine Flugangst hingegen war eine Ente.
Zuvor hatten Däumer und sein Amtskollege aus Fellbach eine Partnerschaftsvereinbarung ihrer Städte unterzeichnet. Anschließend: geselliges Beisammensein, Besuch des Volksfests. Däumer sollte einen Vortrag über Meißen halten. Doch bei der SED daheim war man nicht in Feierlaune. Die Kreisleitung teilte den in den Westen gereisten Parteigenossen mit, dass sie Montagfrüh pünktlich in der Deutschen Demokratischen Republik zurückerwartet würden. Die Vorgabe hatte offenbar einzig das Ziel, Däumers Rede auf dem Volksfest zu verhindern. »Peinlich« sei ihm das vor dem Fellbacher Bürgermeister Friedrich-Wilhelm Kiel (FDP) (1934–2022) gewesen, erinnerte sich Däumer später. Dann aber hatte Amtskollege Kiel einen zündenden Einfall.
Sein Baudezernent besaß einen Flugschein. Die Idee stand: Däumer hält seinen Vortrag über Meißen, anschließend wird er unmittelbar zur deutsch-deutschen Grenze geflogen, um die schon vorausgefahrene Delegation einzuholen und den exakt getakteten Zeitplan doch noch einzuhalten. Problem nur: Auch diesen Vorschlag lehnte die SED-Kreisleitung ab. Dies sei ihm vor Kiel »noch peinlicher« gewesen, sagte Däumer. Am nächsten Tag schrieben die »Stuttgarter Nachrichten« dann von seiner angeblichen Flugangst, obwohl die Redaktion die wahren Hintergründe der Absage gekannt haben dürfte. Aber nicht einmal die Zeitung habe die junge Städtepartnerschaft mit der Wahrheit belasten wollen, erklärte sich Däumer die geflunkerte Überschrift.
Ohne Zweifel, die ersten deutsch-deutschen Städtepartnerschaften waren heikles Terrain. Lief nicht alles nach den eigenen Vorstellungen, war die SED-Führung sofort pikiert. Stets witterte sie Gefahr, dass kommunale Freundschaften die Menschen in Ost und West näher zusammenbringen könnten. Warum eine Mauer in den Köpfen aufweichen, die man in der Realität mit Stacheldraht sicherte? Deshalb schmetterten die SED-Oberen sämtliche bundesrepublikanische Annäherungen über Jahrzehnte hinweg ab.
Gleichzeitig war sich das ostdeutsche Regime gewisser Vorteile wohl bewusst. So war der Führung sehr daran gelegen, dass der Westen die DDR-Staatsbürgerschaft und somit auch den Staat selbst aus völkerrechtlicher Sicht anerkannte. Das war Inhalt der so genannten Geraer Forderungen. Städtepartnerschaften, die ja normalerweise zwischen Städten verschiedener Länder geknüpft werden, hätten die Idee zweier getrennter deutscher Staaten zur gelebten Realität machen können. Dieser Gedanke wiederum förderte auf der Westseite die Skepsis an Städtepartnerschaften, insbesondere in konservativen Kreisen.
Saarlouis erhielt im November 1985 eine Zusage
Mit Verblüffung nahm man es darum in West und Ost zur Kenntnis, als der saarländische Ministerpräsident Oskar Lafontaine (SPD) im November 1985, gerade erst von Gesprächen in Ostberlin zurückgekehrt, aus heiterem Himmel die erste deutsch-deutsche Städtepartnerschaft verkündete: Saarlouis, die kleine Stadt an der deutsch-französischen Grenze, bekam als erste westdeutsche Kommune überhaupt einen Partner aus der DDR – die Wahl fiel auf Eisenhüttenstadt.
Es waren wohl die internationalen Ereignisse, die den Sinneswandel des DDR-Staatschefs Erich Honecker (1912–1994) möglich machten. Mitte der 1980er Jahre zogen die Gewitterwolken über den Blöcken ab. Vertreter der Sowjetunion und der USA trafen sich im März 1985, um die Verhandlungen zur Rüstungskontrolle wieder aufzunehmen. Im selben Monat gelang Michail Gorbatschow (1931–2022) der Aufstieg zum neuen Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion. Es begann »eine neue Ära der globalen Entspannung, die für die Gestaltung der deutsch-deutschen Beziehungen von Vorteil war«, wie es der Historiker Heinrich Potthoff (1938–2021) in seinem 1995 erschienenen Buch »Die ›Koalition der Vernunft‹: Deutschlandpolitik in den 80er Jahren« formulierte.
Diese Entwicklung schlug sich auch in politischen Resolutionen nieder. Am 12. November 1985 veröffentlichte die sowjetische Tageszeitung »Prawda« einen Beschluss zur Bedeutung zwischenstaatlicher Städtepartnerschaften zwischen sowjetischen und ausländischen Städten. Eine Intensivierung kommunaler partnerschaftlicher Beziehungen war nun auch von offizieller Moskauer Seite gewünscht. Wieder einen Tag später erhielt Lafontaine von Honecker die Zusage für die erste deutsch-deutsche Städtepartnerschaft. Dass ausgerechnet eine saarländische Stadt die erste Gunstbezeugung Honeckers erfuhr, dürfte kein Zufall gewesen sein.
Die Chemie zwischen Lafontaine und Honecker stimmte
Denn zweifellos stimmte die Chemie zwischen Honecker und Lafontaine. Nicht nur die Anzahl der Zusammenkünfte – zwischen 1982 und 1989 trafen sie sich achtmal – spricht dafür, auch das Gesprächsklima war stets harmonisch. Persönliche Erinnerungen des gebürtigen Saarländers Honecker an seine Kindertage mochten ebenso eine Rolle gespielt haben. Darauf deutet sein emotionaler Staatsbesuch in der Bundesrepublik 1987 hin, bei dem er ebenfalls das Saarland aufsuchte.
Eines war für das Politbüro um Egon Krenz aber klar: Die freundschaftliche Verbindung zwischen Eisenhüttenstadt und Saarlouis sollte die absolute Ausnahme bleiben. Ein SED-Parteigrande äußerte anonym gegenüber dem Nachrichtenmagazin »Der Spiegel«: »Wenn Erich [Honecker] mal weg ist, dann ist es mit den Sonderbeziehungen zum Saarland wieder vorbei.«
Was ihren internationalen Status anbelangte, hatte die DDR in den vorangegangenen Jahren vieles erreicht. Mit dem Grundlagenvertrag 1972 erkannte die Bundesrepublik die DDR erstmals als souveränen Staat an und bestätigte die Unverletzlichkeit der deutsch-deutschen Grenze. In der KSZE-Schlussakte von Helsinki 1975 wurden weiterhin die territoriale Integrität und das Prinzip der Gleichberechtigung aller teilnehmenden Staaten hervorgehoben. Eines fehlte aber nach wie vor und so sollte es bis zur Wiedervereinigung auch bleiben: die völkerrechtliche Anerkennung und damit die komplette Gleichstellung mit dem »Klassenfeind«.
In Westdeutschland löste die Nachricht von der ersten Partnerschaft mit einer Stadt aus der DDR einen regelrechten Boom aus. Allein zwischen Januar und April 1986 gingen beim Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen knapp 60 Interessensbekundungen bundesdeutscher Städte ein. Viele Lokalpolitiker erhofften sich nun, die deutsch-deutschen Beziehungen maßgeblich selbst mitzugestalten. Im Gegensatz zu ihren ostdeutschen Pendants, die in der zentralistisch ausgerichteten DDR keinerlei Entscheidungsbefugnis besaßen, konnten die westdeutschen Städte selbst entscheiden, ob sie sich um eine Partnerschaft bewarben.
Bis zum Mauerfall kamen 58 Städtepartnerschaften zu Stande
Und etliche Bürgermeister hatten Erfolg, die SED-Spitze warf ihre Bedenken immer wieder über Bord. 1986 vereinbarten Wuppertal und Schwerin sowie Honeckers saarländische Geburtsstadt Neunkirchen und Lübben (Spreewald) eine Städtepartnerschaft. Auch diese kommunalen Verbindungen wären ohne ausdrückliche Fürsprache westdeutscher Spitzenpolitiker bei Honecker undenkbar gewesen, selbst Bundeskanzler Helmut Kohl (1930–2017) unterstützte den Wunsch Wuppertals nach einer Partnerstadt aus der DDR. Bis zum Mauerfall im November 1989 sollten insgesamt 58 deutsch-deutsche Städtepartnerschaften entstehen. Welche Beweggründe die SED-Führung für ihre Entscheidungen hatte, ist unklar. Die Idee einer Anerkennung durch die Hintertür ist jedoch naheliegend.
Dafür spricht, dass die DDR bereits Jahrzehnte zuvor nach ähnlicher Strategie operiert hatte: in den 1950er und 1960er Jahren, als die SED-Führung kommunistisch regierten Kommunen in Frankreich Avancen machte. Ziel war auch hier die Anerkennung unterhalb der diplomatischen Ebene, das Durchbrechen der außenpolitischen Isolation. So kamen beispielsweise die Verbindungen von Dessau zu Argenteuil und von Gera zu Saint-Denis zu Stande.
Welche Signalwirkung eine solche Verbindung hatte, lässt sich an der Reaktion aus Bonn ablesen: Die westdeutschen Partnerstädte der betroffenen französischen Kommunen mussten nun ihrerseits ihre Partnerschaft aufkündigen. Denn gemäß der Hallstein-Doktrin beharrte die Bundesrepublik darauf, dass ausschließlich sie selbst außenpolitische Beziehungen im Namen Deutschlands aufnehmen könne. Erst als die DDR mit dem Grundlagenvertrag staatsrechtlich anerkannt wurde, konnten die westdeutsch-französischen Verstimmungen beigelegt werden.
Auch bei den deutsch-deutschen Städtepartnerschaften saßen die SED-Politiker am längeren Hebel. Sie waren in der Position, Zugeständnisse zu machen, aber auch Grenzen des Austauschs vorzugeben. Und eine Grenze war klar: Es sollten möglichst wenige, möglichst ausgewählte Personen in die Bundesrepublik reisen. In einem Beschluss des Politbüros aus dem Jahr 1987 heißt es: »Es gilt zu gewährleisten, daß die Städtepartnerschaften nicht auf rein menschliche Begegnungen begrenzt werden.«
Dementsprechend waren es zunächst kleine Delegationen, die in den Nachbarstaat reisten. Dort besuchten sie so genannte Friedensseminare, auf welche die SED-Führung besonderen Wert legte und die von westlicher Seite maximal als notwendiges Übel angesehen wurden. In diesen Seminaren sprachen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer über die weltpolitische Lage und welche Beiträge die deutschen Staaten zu einem allgemeinen Frieden leisten könnten. Daneben fanden Sport-, Jugend- und Kulturbegegnungen statt, auf die wiederum die westdeutsche Seite drängte.
Mit den Jahren gestattete die SED teilweise größeren Delegationen die Reise, auch wurden die Programme erweitert. Zur personellen Ausgestaltung der Delegationen zeigten sich Zeitzeugen später uneins. Für die einen rangierte das deutsch-deutsche Projekt bis zuletzt auf der Ebene des Funktionärstourismus, jener Vergünstigungen, die allein den treuesten Parteimitgliedern vorbehalten waren. Andere hingegen betonten, dass sich die Partnerschaftsprogramme deutlich davon abgehoben hätten.
Die Stasi und ihre Spitzel waren allgegenwärtig
Für Begegnungen von Mensch zu Mensch sprechen auch die Erfahrungen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer selbst. Familien aus Neu-Ulm und Meiningen schickten sich Weihnachtskarten, Plauener und Hofer Bürger trafen sich auf ihren Reisen so oft als möglich am gemeinsamen Stammtisch und sangen deutsche Volkslieder. »Die Zeit« kam in einer Reportage über die Städtepartnerschaft zwischen Jena und Erlangen zum Schluss, dass es zwischen Berufskollegen aus Ost und West mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede gebe und am Ende alle die typisch deutschen Klischees erfüllten.
Und selbst bei zufälligen Treffen im Ausland waren die Städtepartnerschaften von Bedeutung. Als sich Studentinnen aus Jena und Erlangen am Neusiedler See in Österreich begegneten, reichte der Hinweis auf die Herkunft, um den restlichen Urlaub gemeinsam zu verbringen. Ein Indiz unter vielen, dass »allein das Zustandekommen der Städtepartnerschaft Erlangen–Jena schon den Wunsch nach Verbindungen stärkte«, schrieb 1995 der Politikwissenschaftler Gabriel Lisiecki in seiner Dissertation »Deutsch-deutsche Städtepartnerschaften«. Derlei Verbrüderungen und die westdeutsche Erkenntnis, dass »DDR-Teilnehmer im Allgemeinen mehr Bewegungsfreiheit und Eigeninitiative bewiesen, als zunächst erwartet worden war«, verunsicherten die verantwortlichen SED-Stellen zunehmend.
Deshalb sollte die Staatssicherheit den Austausch geheimdienstlich »absichern«. Unter den Teilnehmenden der Städtepartnerschaft zwischen Weimar und Trier konnten Historiker im Nachhinein 14 inoffizielle Mitarbeiter identifizieren. Die Spitzel legten Dossiers über alle Trierer Delegationsmitglieder an und überwachten sie mit Hilfe von Abhöranlagen im berühmten Weimarer Hotel Elephant. Über den Trierer Bürgermeister Helmut Schröer (CDU) notierte ein Spitzel: »Er steht der Städtepartnerschaft skeptisch gegenüber, ist sehr kritisch gegenüber der DDR-Politik und seinen Politikern«, wie Schröer und sein Koautor, der Journalist Dieter Lintz (1959–2014), in ihrem 2012 erschienenen Buch »Trier – Weimar: Eine deutsche Städtepartnerschaft« berichten.
Als der Trierer Bürgermeister den Weimarer Delegierten Alfred Hohmann (Ost-CDU) privat besuchte, war die Stasi längst informiert. Denn Schröer hatte sich zuvor telefonisch angemeldet. Auch hatte eine Informantin, die »Gesellschaftliche Mitarbeiterin für Sicherheit Christiane«, am selben Tag die freundschaftliche Verbindung beider Politiker »entdeckt« und aus den Gesprächen über die jeweiligen Töchter geschlussfolgert, »dass zwischen den Besuchen in Trier und Weimar weitere Kontakte stattgefunden haben müssen«. Am Abend sei ihr aufgefallen, dass Schröer beim offiziellen Teil nicht mehr anwesend gewesen sei: »Das erweckte in mir den Verdacht, dass er einen Besuch bei H. [Hohmann] abstattete, was sich im Nachgang auch bestätigte.« Am nächsten Tag lud die Kreisleitung Hohmann zum persönlichen Gespräch, er sollte detaillierte Auskunft zu Schröers Besuch geben.
Obwohl sie zahlenmäßig stark vertreten war, blieb für die Stasi ein Restrisiko. Und die größte Sorge wurde bereits 1987 Realität. Elmar Wojciechowski, ein 55-jähriger Berufsmusiker aus Eisenhüttenstadt, meldete sich nach einem Auftritt mit seiner Musikgruppe in der Partnerstadt Saarlouis bei der örtlichen Polizeistelle und teilte den Beamten mit, dass er nicht in die DDR zurückkehren möchte. Letztlich sollten Republikfluchten im Rahmen der kommunalen Freundschaften aber die Ausnahme bleiben.
Rund 15 000 Menschen nahmen teil
So konnten von 1987 bis November 1989 rund 15 000 Menschen an dem deutsch-deutschen Projekt teilnehmen. Zwischen den Teilnehmenden entstanden Freundschaften, die auch die Wende überdauern sollten. Darüber hinaus verwischten die persönlichen Kontakte die Grenzen zwischen beiden Staaten. Danach gefragt, ob die Städtepartnerschaften ein Gefühl der Zusammengehörigkeit und der Annäherung an die Menschen der DDR im Sinne der Einheit der deutschen Nation vermitteln würden, antworteten bei einer Untersuchung im Jahr 1989 mehr als die Hälfte der westdeutschen Stadtoberhäupter mit Ja. Als Gründe für ihre Einschätzung nannten sie unter anderem den Abbau von Vorurteilen sowie den herzlichen Austausch untereinander.
Am 8. November 1989 trat Helmut Kohl vor das Rednerpult des Bonner Parlaments. In seiner Rede zur Lage der Nation ließ der Bundeskanzler die Abgeordneten mit Blick auf die DDR wissen: »Ein zentrales Anliegen unserer Politik für den Zusammenhalt der Nation bleiben die menschlichen Begegnungen.« Als erstes konkretes Beispiel führte Kohl daraufhin die deutsch-deutschen Städtepartnerschaften an: »Sie eröffnen vielfältige Möglichkeiten, Menschen zueinander zu bringen und persönliche Kontakte zu knüpfen.« Einen Tag später fiel die Mauer.
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.