Direkt zum Inhalt

Bundestagswahl: Das deutsche Geheimnis wissenschaftlicher Exzellenz

Im Vorfeld der diesen Monat anstehenden Bundestagswahl beweist Deutschland, dass Weitblick und Stabilität die Forschung vorantreiben können. Eine Außenansicht von "Nature".
Bundeskanzlerin Angela Merkel blickt durch ein Mikroskop

Fragt man deutsche Forscher dieser Tage nach dem Grund der wieder erstarkten wissenschaftlichen Basis des Landes, werden sie fast zwangsläufig Angela Merkel erwähnen. Die Kanzlerin und mächtigste Frau der Welt besinne sich auch nach all den Jahren auf ihre Wurzeln als ostdeutsche Physikerin zurück, heißt es in deutschen Wissenschaftlerkreisen.

Während eines Jahrzehnts weltweiter finanzieller Turbulenzen hat die Regierung Merkel den jährlichen Wissenschaftsetat in einer stabilen, vorhersehbaren, durch und durch deutschen Art und Weise erhöht. Dies beflügelte nicht nur den Wettbewerb unter den Universitäten, sondern führte auch zu einer verbesserten Zusammenarbeit der Hochschulen mit den speziellen, aus öffentlichen Mitteln finanzierten Forschungseinrichtungen des Landes. Unter der Leitung Merkels konnte Deutschland seine weltweite Führungsposition in Bereichen wie etwa erneuerbare Energien oder Klimaschutz behaupten, und dank der Garantie einer starken Unterstützung der Grundlagenforschung gewann das Land auch auf anderen Gebieten zunehmend an Bedeutung.

Bei der Wahl ihres wissenschaftlichen Domizils entscheiden sich ausländische Forscher inzwischen zunehmend für Deutschland, statt in traditionell attraktivere Forschungsländer wie etwa die Vereinigten Staaten oder das Vereinigte Königreich abzuwandern. Zwar steht das Land in dem Ruf, "sicher, aber sonst ziemlich langweilig" zu sein, doch genau diese Eigenschaft ist es, die Deutschland bei einem Vergleich mit Äsops Fabel von der Schildkröte und dem Hasen gegenüber den anderen Ländern als die langsame, aber unermüdliche Schildkröte erscheinen lässt, die letztlich das Rennen gegen den vermeintlich schnelleren Hasen gewinnt. Und während sich das Land für die kommende Bundestagswahl am 24. September rüstet, erwarten die meisten Beobachter, dass sich diese Entwicklungen auch in Zukunft so fortsetzen werden.

Die Gründe des deutschen Erfolgs lägen allerdings jenseits von Forschungsbudgets oder einem etwaigen "Merkel-Effekt", erklärt Wolfgang Schön, Direktor des Max-Planck-Instituts für Steuerrecht und Öffentliche Finanzen in München und Vizepräsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft DFG, der wichtigsten Geldgeberin der universitären Forschung in Deutschland. Denn wie die Kanzlerin habe auch das Land tief reichende wissenschaftliche Wurzeln, fügt Schön hinzu.

"Ich wäre hellauf begeistert, wenn sich unsere Entscheidungsträger hier in den USA heutzutage noch einmal Deutschland zum Vorbild nehmen würden"Kenneth Prewitt

Vor der turbulenten Ära des 20. Jahrhunderts hatte Deutschland, was Wissenschaft und Technologie betraf, eine weltweit führende Stellung inne und etablierte während dieser Zeit Traditionen, an denen viele Länder bis heute festhalten. Zwar ringt das Land noch immer mit den Überbleibseln einer von Männern dominierten Hierarchie und den allgegenwärtigen, unflexiblen Vorschriften, doch die Stärke der deutschen Forschung scheint ungebrochen – insbesondere angesichts eines offenbar zunehmenden weltweiten Desinteresses an der Wissenschaft. "Ich wäre hellauf begeistert, wenn sich unsere Entscheidungsträger für Wissenschaftspolitik und Forschungsfinanzierung hier in den USA heutzutage noch einmal Deutschland zum Vorbild nehmen würden", gesteht Kenneth Prewitt, Politikwissenschaftler an der Columbia University in New York City, freimütig.

Die Struktur der modernen deutschen Wissenschaft beruht auf Konzepten, die Wilhelm von Humboldt – der preußische Gelehrte, Bildungsreformer und Wegbereiter für Ideen, die auch in unserer Zeit noch weltweit von Bedeutung sind – vor zwei Jahrhunderten entwickelt hatte. So vertrat Humboldt unter anderem die Meinung, dass Universitätsprofessoren sowohl an vorderster Front Forschung betreiben als auch einer Lehrtätigkeit nachgehen sollten. Seine Philosophie einer umfassenden, tief gehenden Bildung und eines akademischen Lebens frei von politischen und religiösen Einflüssen hat sich bis heute tief in die deutsche Seele eingebrannt. "Das humboldtsche System liegt uns sozusagen in den Genen", meint Thorsten Wilhelmy, Sekretär des Wissenschaftskollegs zu Berlin. "Das ist auch der Grund, warum sich Politiker in schwierigen Zeiten weniger dazu verleiten lassen, Kürzungen bei der Grundlagenforschung vorzunehmen."

Die Wissenschaft ist frei

Jene Ideale Humboldts hielten dramatischen politischen Umwälzungen stand. Adolf Hitlers Drittes Reich pervertierte die Wissenschaft und führte zur Zerstörung Deutschlands während des Zweiten Weltkriegs. 1949 wurde das Land in Form zweier Staaten neu gegründet, die unter gegensätzlichen politischen Systemen mit dem Wiederaufbau ihrer früheren wissenschaftlichen Stärke begannen. Im Grundgesetz heißt es: " Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei." Um Zentralisierung und Machtmissbrauch für alle Zeit zu verhindern, wurde ein in hohem Maße föderalistisch organisierter Staat geschaffen, in dem die Verantwortlichkeit für Kultur, Wissenschaft und Bildung bei den jeweiligen Bundesländern lag – eine Bestimmung, die sich sowohl positiv als auch negativ auf die universitäre Entwicklung auswirken sollte.

In der kommunistischen Deutschen Demokratischen Republik zentralisierte man dagegen die Forschung und stellte sie unter strenge staatliche Kontrolle. Die ostdeutschen Wissenschaftler wurden von ihren westlichen Kollegen abgeschottet, und da es mit der Wirtschaft des Landes stetig bergab ging, litt auch die Wissenschaft in der DDR zunehmend unter finanziellem Mangel.

Angela Merkel wuchs in diesem System heran, schloss ihr Studium an der Karl-Marx-Universität in Leipzig 1978 mit einem Diplom in Physik ab und wechselte nachfolgend an das Zentralinstitut für physikalische Chemie in Berlin, eines der renommiertesten Forschungszentren der DDR. Dort lernte sie ihren späteren zweiten Ehemann, den Quantenchemiker Joachim Sauer, kennen und promovierte mit der Abschlussnote "sehr gut". Doch ihre Begeisterung für Physik erstreckte sich nicht auf die erforderliche politische Bildung; in der DDR erhielt nämlich niemand einen Doktortitel ohne ein entsprechendes Zertifikat, das dem Absolventen ausreichende Kenntnisse in Marxismus-Leninismus bescheinigte. Für ihre schriftliche Arbeit mit dem Titel "Was ist sozialistische Lebensweise?" erhielt Merkel lediglich die erforderliche Mindestnote.

"Ich komme selbst aus der Grundlagenforschung und habe immer gesagt, dass man dort keine Vorhersagen treffen kann – man muss einfach etwas Platz frei lassen"Angela Merkel

Nach der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten im Jahr 1990 wurden die ostdeutschen Wissenschaftler hinsichtlich ihrer Fachkompetenz von speziellen Komitees des Westens evaluiert. Viele Forscher verloren daraufhin ihren Arbeitsplatz, doch Sauer wurde ein Wechsel an die Humboldt-Universität zu Berlin zugebilligt. Merkel, die nie zuvor offenkundig politisch agiert hatte, wagte den Sprung in die demokratische Politik und wurde bald darauf Mitglied der CDU. Mit Beharrlichkeit gelangte sie an die Spitze der Partei und wurde 2005 zur ersten deutschen Bundeskanzlerin gewählt. In den Jahren 2009 und 2013 gewann Merkel ebenfalls die Bundestagswahlen und wird aller Voraussicht nach auch in Zukunft Kanzlerin bleiben. Im März äußerte sich Merkel zu diesem Thema: "Ich komme selbst aus der Grundlagenforschung und habe immer gesagt, dass man dort keine Vorhersagen treffen kann – man muss einfach etwas Platz frei lassen."

Die aus öffentlichen Geldern finanzierte deutsche Forschung ruht auf fünf Säulen: den Universitäten und vier speziellen Forschungsorganisationen, die jeweils einen berühmten deutschen Wissenschaftler zum Namenspatron haben. Die 1948 gegründete Max-Planck-Gesellschaft betreibt heute 81 schwerpunktmäßig auf Grundlagenforschung ausgerichtete Institute, deren Direktoren bei der Auswahl von Forschungsthemen und Mitarbeitern relativ freie Hand gelassen wird und denen zudem umfangreiche Finanzbudgets zur Verfügung gestellt werden. So erhält etwa der Leiter eines biowissenschaftlichen Max-Planck-Instituts allein für die laufenden Forschungsprogramme eine jährliche finanzielle Grundausstattung von zwei Millionen Euro, zuzüglich der Kosten für größere Anschaffungen wie beispielsweise Laborausstattung oder Großgeräte.

Die Fraunhofer-Gesellschaft wurde ein Jahr später ins Leben gerufen und widmet sich ausschließlich der angewandten Forschung. Benannt wurde diese Organisation nach dem bayerischen Physiker Joseph von Fraunhofer (1787-1826), einem Pionier auf dem Gebiet der Präzisionsoptik. Nationale Forschungszentren, die auf langfristige, strategische Forschung nach staatlichen Prioritäten ausgerichtet sind, wurden in der Helmholtz-Gemeinschaft Deutscher Forschungszentren zusammengefasst, die den Namen des wegweisenden Physiologen und Physikers Hermann von Helmholtz (1821–1894) trägt. Und eine Reihe weiterer wissenschaftlicher Institute und Einrichtungen sind in einer Gesellschaft gebündelt, die sich nach dem Universalgelehrten Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) benennt.

"Die Übersichtlichkeit des deutschen Wissenschaftssystems kommt der ordnungsliebenden Mentalität der Deutschen sehr entgegen und ist auch für Außenstehende, Politiker eingeschlossen, leichter zu durchschauen"Ferdi Schüth

Laut einer Vereinbarung aus dem Jahr 1949 beteiligen sich Bund und Länder gemeinsam an der Finanzierung dieser Forschungsorganisationen; die Kosten für die insgesamt etwa 110 landesweiten Universitäten werden jedoch im Allgemeinen ausschließlich von den Bundesländern getragen. Zudem gibt es in Deutschland 230 Fachhochschulen, die die zukünftigen Fachkräfte für die Industrie ausbilden und daher nicht die Möglichkeit zum Erwerb eines Doktorgrads bieten. "Die Übersichtlichkeit und Transparenz dieser Struktur kommt der ordnungsliebenden Mentalität der Deutschen sehr entgegen", meint Ferdi Schüth, Direktor des Max-Planck-Instituts für Kohlenforschung in Mülheim. "Dadurch wird das System auch für Außenstehende, Politiker eingeschlossen, leichter zu durchschauen."

Während der Zeit des westdeutschen Wirtschaftswunders konzentrierte man sich in der Bundesrepublik zunehmend auf die Forschungsförderung. Auch wenn die Kosten der Wiedervereinigung eine immense Finanzlast für Deutschland bedeuteten, haben die Politiker doch in den meisten darauf folgenden Jahren die Wissenschaft beständig und massiv unterstützt. Bis 2015 verstärkte die Bundesregierung die finanzielle Förderung aller Forschungsorganisationen sowie der DFG pro Jahr um fünf Prozent. Im Rahmen des derzeitigen zwischen Bund und Ländern geschlossenen Pakts für Forschung und Innovation, der bis zum Jahr 2020 läuft, wurde dieser Zuwachs zwar reduziert, er beläuft sich jedoch immer noch auf beneidenswerte drei Prozent. "Diese Sicherheit in Bezug auf zukünftige Finanzierung macht es uns möglich, unsere Forschungsstrategien wirklich langfristig zu planen", betont der Chemiker und Präsident der Max-Planck-Gesellschaft Martin Stratmann. "Das ist ein entscheidender Vorteil, den nur wenige andere Länder bieten."

Angela Merkel trifft Alexander Gerst | Der Astronaut Alexander Gerst ist Deutschlands Botschafter im All – und erhält daher auch so etwas wie diplomatische Anerkennung. Hier gratuliert ihm Bundeskanzlerin Angela Merkel zu seiner zweiten Mission. Während des Besuchs der Kanzlerin beim DLR am 18. Mai 2016 wurde bekannt gegeben, dass Gerst als Commander nochmals zur ISS fliegen wird.

Langfristige zuverlässige Förderung hält Forscher

Das Vertrauen in jene langfristige Förderung war es letztlich, das die Immunologin und gebürtige US-Amerikanerin Dolores Schendel nach einem zweijährigen Postdoc-Aufenthalt an der Ludwig-Maximilians-Universität München in den späten 1970er Jahren davon abhielt, in die Vereinigten Staaten zurückzukehren. Eigentlich wollte die Wissenschaftlerin nur an der Etablierung eines Mäuselabors im Rahmen eines LMU-Forschungsprogramms zur Knochenmarktransplantation mitwirken. Doch Räumlichkeiten und technische Ausstattung erschienen ihr verlockend, und da ihre Forschung zunehmend anwendungsbezogen wurde und nicht mehr in schöner Regelmäßigkeit eine sensationelle Veröffentlichung nach der anderen lieferte, konnte sich die Forscherin zumindest auf die zugesicherten Finanzmittel vor Ort verlassen.

Später wechselte Schendel an das Helmholtz-Zentrum München, um ihre wissenschaftliche Arbeit in größerem Maßstab zu betreiben. Nach der Übernahme eines von der Immunologin gegründeten Start-up-Unternehmens wurde Schendel Vorstandsvorsitzende und wissenschaftliche Leiterin bei Medigene, einer in München ansässigen Biotechnologiefirma, die sich mit der Entwicklung von Immuntherapien beschäftigt. Heute führt die Wissenschaftlerin klinische Studien zum Test von Impfstoffkandidaten gegen Krebs durch. "Ich bin mir nicht sicher, ob ich all das in den USA erreicht hätte, denn dort ist die Finanzierung im Allgemeinen sehr viel unbeständiger", räumt die Immunologin ein.

Doch Schendel stellt einen Ausnahmefall dar. Zwar zählt Deutschland im Bereich der Ingenieurwissenschaften unbestritten zur Weltspitze; in der praktischen Anwendung von Erkenntnissen neuerer Forschungsfelder, etwa der Biotechnologie, kann das Land jedoch nur mit wenigen Erfolgsgeschichten aufwarten. Entscheidungsprozesse dauern ihre Zeit, und Veränderungen passieren nur langsam, nicht zuletzt wegen der Vielzahl bürokratischer Ebenen zwischen der Bundesregierung und den Regierungen der Länder. Zudem hat der Missbrauch der Wissenschaft während des Dritten Reichs, darunter auch die Eugenik und Versuche an Menschen, bei den Deutschen ein fundamentales Misstrauen gegenüber jeglicher Form von Genetik sowie einen Hang zu moralischer Entrüstung hinterlassen. Und dies wiederum hat an manchen Fronten zu einer eher schleppenden Entwicklung geführt.

Wenige Erfolgsgeschichten in der praktischen Anwendung

Die Wiedervereinigung im Jahr 1990 zwang Deutschland, einige systembedingte Probleme in Angriff zu nehmen, wie etwa die fehlende institutsübergreifende Zusammenarbeit in der Wissenschaft. Im Folgenden machten sich die Politiker daran, die zahlreichen Hindernisse, die potenziellen Kooperationen im Weg standen, Stück für Stück zu beseitigen. 1999 beschloss die Vorgängerregierung Merkels, eine Koalition aus SPD und den Grünen, die Änderung eines Gesetzes, dem zufolge die Ministerien der Bundesländer ursprünglich für alle universitären Entscheidungen zuständig gewesen waren – von der Zuweisung der Finanzmittel bis zur Berufung von Professoren. Wenig später erlaubte ein Bundesland nach dem anderen seinen Hochschulen, ihre Angelegenheiten künftig selbstständig zu regeln.

Dieselbe Bundesregierung schlug auch eine weitere radikale Veränderung hinsichtlich der Universitäten vor, die traditionsgemäß allesamt als gleichrangig eingestuft worden waren, und lancierte 2005 als eine ihrer letzten Maßnahmen die so genannte Exzellenzinitiative. Dieses mittlerweile fest etablierte Programm sollte die Hochschulen ermuntern, um staatliche Fördergelder zu konkurrieren, indem sie die Spitzenforschung an ihren Fakultäten durch die Einrichtung von Graduiertenschulen und so genannten "Exzellenzclustern" – umfassenden Kooperationen mit Wissenschaftlern anderer Forschungseinrichtungen – vorantrieben. Universitäten, die in diesen Bereichen ein erfolgreiches Zukunftskonzept vorweisen konnten, erhielten zudem den Titel "Eliteuniversität", der mit einer zusätzlichen Finanzspritze verbunden war.

Als Merkel im November 2005 Bundeskanzlerin wurde, ernannte sie ihre gleich gesinnte Kollegin und Freundin Annette Schavan zur Ministerin für Bildung und Forschung. Unter deren Leitung durchlief die Exzellenzinitiative eine Reihe von Runden, die eine grundlegende Veränderung der deutschen Universitäten zur Folge hatten. Bis heute hat die Bundesregierung etwa 4,6 Milliarden Euro in das Förderprogramm investiert, und im Verlauf der diversen Runden wurde insgesamt 14 Universitäten der Elitestatus zuerkannt. Jene Hochschulen, denen der Titel bisher verwehrt blieb, verstärken ihre Bemühungen, diesen zu erreichen, unter anderem auch durch Kooperationen innerhalb von Exzellenzclustern, die ihnen neue Finanzierungsmöglichkeiten eröffnen. Die einst isolierten Säulen der deutschen Wissenschaft arbeiten also mittlerweile sehr viel enger zusammen.

Exzellenzinitiative lässt deutsche Unis besser dastehen

Merkel und Schavan traten ebenfalls für den Erlass von Gesetzen ein, die der Bundesregierung eine direkte Unterstützung der universitären Forschung ermöglichten und es den Universitäten zudem erlaubten, hochrangigen Forschern attraktive Gehälter zu zahlen, um diese für ihre Hochschule zu gewinnen beziehungsweise an dieser zu halten (als Beamte verdienen deutsche Akademiker deutlich weniger als Wissenschaftler in anderen Ländern oder in der Industrie). All diese Veränderungen trugen dazu bei, dass sich die deutschen Universitäten im internationalen Vergleich erheblich verbesserten. Während 2005 lediglich neun deutsche Hochschulen in der Rangliste der "Times Higher Education" Top 200 zu finden waren, sind es heute bereits 22. Und die LMU München, die in den meisten Jahren den Spitzenreiter unter den deutschen Unis darstellte und bislang jede Runde der Exzellenzinitiative gewann, verbesserte sich von Platz 61 im Jahr 2011 auf Platz 30 im Jahr 2017.

Der Physiker Axel Freimuth, seit 2005 Rektor der Universität zu Köln, erklärt, seine Universität sei inzwischen kaum wiederzuerkennen. Unter Freimuths Aufsicht fand nicht nur der durch die Exzellenzinitiative bedingte tief greifende Wandel, sondern auch die Umgestaltung der universitären Lehre statt. Etwa zeitgleich mit seiner Ernennung zum Rektor begann man in Deutschland, sich von dem eigentümlichen System der langen Diplomstudiengänge zu verabschieden und sich den europäischen Standard von Bachelor- und Masterabschlüssen zu eigen zu machen, der Studierende auf effizientere Weise in drei bis fünf Jahren ein Studium absolvieren lässt. Mit der Einführung der universitären Autonomie entwickelte Freimuth zudem ein völlig neues Governance-System für seine Hochschule. "Wir haben gelernt, als Universität strategisch zu handeln. Jetzt herrscht hier eine völlig andere Stimmung", betont der Universitätsleiter.

Schwachstellen im Cluster

Inzwischen ist Deutschland von einem wahren Forschungscluster-Fieber befallen. Schavan hatte diverse Initiativen ins Leben gerufen, um Forscher der verschiedenen Wissenschaftssäulen zur Zusammenarbeit untereinander und mit der Industrie zu bewegen. Als eines ihrer bemerkenswertesten Projekte gilt die Schaffung eines Netzwerks staatlicher Gesundheitseinrichtungen – der so genannten Gesundheitszentren – unter Schirmherrschaft der Helmholtz-Gemeinschaft, die landesweite Kompetenzen im Gesundheitswesen, etwa im Bereich neurodegenerativer Störungen oder Stoffwechselerkrankungen, institutsübergreifend bündeln sollten.

Auch in Berlin experimentiert man an der Zusammenführung von ausgewählten Bereichen der Gesundheitsforschung. So wurde beispielsweise durch Zusammenlegung von Forschungsbereichen der Charité-Universitätsmedizin und des Max-Delbrück-Centrums für Molekulare Medizin in der Helmholtz-Gemeinschaft eine so genannte translationale Forschungseinrichtung, das Berliner Institut für Gesundheitsforschung, gegründet – unter anderem mit dem Ziel, Forschungserkenntnisse schneller in medizinische Diagnostikverfahren und Therapien "übersetzen" zu können. Das Land Baden-Württemberg investierte zudem Hunderte Millionen Euro in sein Cyber-Valley-Projekt, eine im Dezember 2016 lancierte Bündelung sämtlicher regionaler Forschungsaktivitäten im Bereich künstlicher Intelligenz, die von Großkonzernen wie BMW, Daimler, Porsche, Bosch und Facebook gefördert wird.

"Diese Bildung von Clustern hat wirklich enorme Vorteile", meint die Heidelberger Neurowissenschaftlerin Hannah Monyer, die an der Ruprecht-Karls-Universität und am Deutschen Krebsforschungszentrum, das ebenfalls der Helmholtz-Gemeinschaft angehört, tätig ist. Auch wenn Wissenschaftler jetzt vielleicht mehr Zeit mit Besprechungen und Organisation verbringen müssten, so Monyer, "ist es doch das Beste, was wir heutzutage tun können".

Ihr persönlich habe ein im Rahmen der Exzellenzinitiative gegründetes Cluster bereits enormen Arbeitsaufwand erspart, als ihre Forschung sie kurzfristig auf das ihr unbekannte Gebiet der Schmerzmechanismen geführt habe, berichtet die Neurobiologin. Statt sich von Grund auf in dieses Thema einarbeiten zu müssen, ging sie einfach eine reibungslose Zusammenarbeit mit einem nahe gelegenen Labor für Verhaltensforschung ein, deren Mitarbeiter sie mit wertvollen Tipps, Geräten und technischer Unterstützung versorgten.

Ein einziges großes Experiment mit Hoffnung

Die groß angelegten Kooperationen befinden sich allerdings immer noch in einer Testphase. 2014 gab der Biologe und Spezialist für Blutgefäßbildung Holger Gerhardt seine unbefristete Stelle am Francis Crick Institute in London auf und wechselte an das neu gegründete Berliner Institut für Gesundheitsforschung. "Es ist mir schon klar, dass das Ganze ein einziges großes Experiment darstellt", räumt der Forscher ein, "aber ich habe das Gefühl, hier wirklich etwas Neues aufbauen zu können." Jene Verbesserungen, die die Wissenschaftler derzeit genießen, werden jedoch zuweilen auf Grund des kulturellen Verlangens der Deutschen nach administrativer und moralischer Ordnung in Frage gestellt. Nach eigener Auskunft muss Gerhard beispielsweise häufig Partner innerhalb des Clusters daran erinnern, doch bitte keine unnötigen Organisationsstrukturen zu schaffen. Zwar erlaubt das deutsche Gesetz die Primatenforschung, praktisch lässt sie sich allerdings nur unter großen Schwierigkeiten durchführen. Und die Verwendung menschlicher embryonaler Stammzellen ist, abgesehen von einigen wenigen älteren Zelllinien, nach wie vor untersagt – ein Punkt, in dem Merkel unerschütterlich an ihrer ablehnenden Position festhält.

Manchmal fordert die moralische Entrüstung der Deutschen auch ziemlich heftige und rasche Konsequenzen. 2011 beging Merkel einen außergewöhnlich groben Fehler, als sie Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg, nachdem dieser des Plagiats an seiner Doktorarbeit überführt worden war, weiterhin ihre Unterstützung zusagte. Die Kanzlerin stellte sich hinter ihren Minister und erklärte, jene Vorwürfe seien für seine derzeitige Tätigkeit nicht von Relevanz, denn er sei ja nicht als wissenschaftlicher Referent beschäftigt. Doch innerhalb von zwei Wochen wurde zu Guttenberg zum Rücktritt gezwungen. Viele prominente deutsche Politiker sind im Besitz eines Doktortitels, und die Affäre löste seinerzeit einen wahren Kreuzzug aus, jede dieser Promotionsarbeiten auf einen potenziellen Plagiatsversuch zu überprüfen. Auch Schavan sah sich Anschuldigungen hinsichtlich ihrer 1980 verfassten Dissertation ausgesetzt. Zwar betrachteten viele Wissenschaftler Schavans Vorgehen nicht als Diebstahl geistigen Eigentums, dennoch musste auch sie im Jahr 2013 von ihrem Ministerposten zurücktreten.

Insgesamt berichten die Zahlen jedoch von einer positiven Entwicklung in der Wissenschaft. Der Anteil ausländischer Akademiker an deutschen Universitäten ist von 9,3 Prozent im Jahr 2005 auf 12,9 Prozent im Jahr 2015 gestiegen, und unter den oberen zehn Prozent der meistzitierten wissenschaftlichen Veröffentlichungen belegt Deutschland zurzeit einen höheren Ranglistenplatz als die USA. Trotz allem besteht in der deutschen Wissenschaft noch immer ein gewisser Nachholbedarf, insbesondere was die universitäre Infrastruktur angeht.

Charmante Schäbigkeit der deutschen Unis

Verglichen mit der makellosen Modernität der nichtuniversitären Forschungsinstitute zeichnen sich die Hochschuleinrichtungen durch eine charmante Schäbigkeit aus. Die stetig steigenden Studentenzahlen, denen der kostenlose Besuch einer Universität gewährt wird, belasten die Finanzhaushalte der Bundesländer derartig, dass für Erhaltung und Reparatur von Hochschulgebäuden einfach die Gelder fehlen. Der bröckelnde Beton in wissenschaftlichen Laboren und Hörsälen, die in den 1960er und 1970er Jahren mit der Erweiterung der Universitäten aus dem Boden schossen, sei beschämend, erklärt Wilhelm Krull, Generalsekretär der VolkswagenStiftung in Hannover, der größten privaten Förderin der deutschen Wissenschaft. "Es herrscht der Gegensatz zwischen Glanz und Elend."

Nur wenige Forscher in Deutschland glauben an eine Rückkehr des Landes in die alleroberste Riege der Wissenschaft. Dies könnte vielleicht an der Sprache liegen, die auf manche abschreckend wirkt, obwohl eigentlich heute in den meisten Forschungslaboren des Landes Englisch gesprochen wird. Die allgegenwärtigen Vorschriften und das obligatorische Ausfüllen von Formularen frustrieren viele. Und, ergänzt Krull, "Deutschland ist immer noch etwas risikoscheu. Radikale, disruptive Innovationen findet man hier eher selten."

Zudem muss das Land noch hart daran arbeiten, die Repräsentation von Frauen in der Wissenschaft zu verbessern. An Forschungsinstituten stieg der prozentuale Anteil weiblicher Wissenschaftlerinnen in Spitzenpositionen von geradezu jämmerlichen 4,8 Prozent im Jahr 2005 auf immer noch magere 13,7 Prozent im Jahr 2016 an, während sich an den Universitäten der Prozentsatz von Frauen in akademischen Führungspositionen von 10 Prozent im Jahr 2005 auf 17,9 Prozent im Jahr 2014 verbesserte. Diese Zahlen liegen jedoch immer noch weit unter den entsprechenden Durchschnittwerten der Europäischen Union. Und in der Industrie sieht die Situation kaum besser aus: Unter den insgesamt 160 Vorstandmitgliedern der 30 führenden Technologieunternehmen des Landes ist Schendel eine von nur drei Frauen.

Doch im Allgemeinen zeigen sich Wissenschaftler zuversichtlich, dass sich die Dinge auch in Zukunft stetig verbessern werden. Merkels Wahlprogramm verspricht eine dauerhafte Unterstützung von Forschung und Innovation sowie eine Anhebung der jährlichen Steigerung des Forschungsetats auf vier Prozent. Wenn die Kanzlerin nicht gerade auf Reisen ist, geht sie am Ende eines jeden Tages nach Hause in ihre Wohnung nahe der Humboldt-Universität, um den Rest des Abends mit ihrem Ehemann, dem Chemiker, zu verbringen. Schüth ist der Ansicht, Merkels positive Einstellung gegenüber der Forschung läge ganz einfach an ihren Wurzeln. "Sie weiß, was es heißt, eine Wissenschaftlerin zu sein, sie kennt den Wert der Forschung. Und diese persönliche Haltung kommt eben auch in ihren politischen Entscheidungen zum Ausdruck."

Der Artikel erschien unter dem Titel "The secret to Germany's scientific excellence" in "Nature" 549, S. 18-22, 2017.

WEITERLESEN MIT »SPEKTRUM +«

Im Abo erhalten Sie exklusiven Zugang zu allen Premiumartikeln von »spektrum.de« sowie »Spektrum - Die Woche« als PDF- und App-Ausgabe. Testen Sie 30 Tage uneingeschränkten Zugang zu »Spektrum+« gratis:

Jetzt testen

(Sie müssen Javascript erlauben, um nach der Anmeldung auf diesen Artikel zugreifen zu können)

Schreiben Sie uns!

Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.