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Fahrradpolitik: Deutschlands Dilemma auf zwei Rädern

Deutschland will mehr Fahrradfahrer – doch dazu braucht es mehr Sicherheit im Radverkehr. Es scheitert jedoch schon am einfachen Schutzstreifen.
Unfall mit Fahrradbeteiligung

Seit 200 Jahren gibt es auf der Welt Fahrräder – und seit gut 100 Jahren hat der Radfahrende ein Problem mit der Welt. Das Rad – zuvor nur artistisches Freizeitgerät der Wohlhabenden – wurde kleiner, industriell hergestellt, günstiger und gegen Ende des 19. Jahrhunderts zum Alltagsverkehrsmittel. Und prompt sahen sich Fahrradfahrer mit ständig wachsenden Problemen konfrontiert: Beschimpfungen, Pöbeleien und Angriffen. Letzteres vor allem durch Hunde, die es mit Hundepeitschen zu vertreiben galt. An den Lenker war deshalb eine passende Peitschenhalterung montiert. Wem das nicht ausreichte, konnte sich beim Versandhaus August Stukenbrok mit so genannten Hundebomben, Schreckschusspistolen oder Feuerwerk "zur wirksamen Abwehr von Hunden und zum Abschrecken von aufdringlichen belästigenden Personen" eindecken.

Der moderne Radfahrer muss nicht mehr mit Peitsche zur Arbeit fahren, sicherer unterwegs ist er aber auch heute noch nicht: Im Jahr 2015 sind 78 341 Fahrradfahrer verunglückt, 383 starben im Straßenverkehr. Seit den 1990er Jahren schwankt die Zahl der verunglückten Fahrradfahrer zwischen 65 000 und 78 000 Personen pro Jahr. Darin inbegriffen sind nicht nur Unfälle, bei denen zwei Verkehrsteilnehmer beteiligt sind, sondern auch "Alleinunfälle": gestürzte oder nur leicht verletzte Radfahrer. Dabei zählen die offiziellen Statistiken nur die polizeilich registrierten Unfälle – die Dunkelziffer dürfte um einiges höher sein. Fahrradfahrer müssen geschützt werden – und werden es seit vielen Jahren nicht. Warum eigentlich?

Kampf der Transportmittel

Ein nie entschärfter Dauerbrenner bleibt der Konflikt zwischen Rad- und Autofahrern: Von allen Verkehrsunfällen 2015, bei denen mindestens ein Auto und ein Fahrrad beteiligt waren, haben 75,4 Prozent der Unfälle die Autofahrer verursacht. Die Ergebnisse einer Studie der Unfallforscher der Versicherer (UDV) aus dem Jahr 2013 sprechen eine noch deutlichere Sprache: Bei Unfällen mit abbiegendem Auto und geradeaus fahrendem Rad trägt in 90 Prozent der Fälle der Autofahrer die Hauptschuld.

Ein typischer Radverkehrsunfall ist ein solcher, bei dem ein Radfahrer auf dem Radweg rechts hinter parkenden Fahrzeugen an der Kreuzung hervorkommt. Jeder dritte Autofahrer hatte vor dem Unfall mit einem Radfahrer hier den Schulterblick "vergessen", dokumentiert die Studie. Vor allem aber konnten auch alle anderen Rechtsabbieger einen schnell heranfahrenden Fahrradfahrer auf Grund der örtlichen Gegebenheiten schlicht nicht sehen. Das solch schlechte Sichtverhältnisse tödlich sein können, zeigen die Statistiken: Von den 17 Radfahrern, die 2016 in Berlin im Straßenverkehr umgekommen sind, verunglückten sechs durch eine Kollision mit einem rechts abbiegenden Lkw.

"Dass Kreuzungen sicher sind, wird eigentlich vorausgesetzt – dies ist aber nicht der Fall", meint deshalb Jürgen Gerlach, Professor für Straßenverkehrsplanung und -technik an der Bergischen Universität Wuppertal. Stattdessen verfolge man eine Planungskultur, die vor allem die Leistungsfähigkeit und den Verkehrsfluss an Kreuzungen berücksichtigt – zum Leid der Fahrradfahrer, die an den Kreuzungen dann oft übersehen werden.

Unfallschwerpunkte Kreuzung – und der Alibi-Radweg

Besorgnis erregt dabei, dass die unsicheren Kreuzungen durch die eher gewollt als gekonnt angelegten Fahrradwege auf dem Gehsteig nicht sicherer werden. Im Gegenteil: Die parkenden Autokolonnen verdecken den Radfahrer - insbesondere Kinder sind gefährdet. Tatsächlich hat dies längst sogar der Gesetzgeber erkannt. Die Benutzungspflicht der Radwege wurde im Jahr 1997 abgeschafft – die wenigsten Autofahrer wissen das. Fahrradfahrer dürfen frei wählen, wo sie fahren möchten. Auf der Straße oder auf dem Radweg, es sei denn, Letzterer ist ausdrücklich mit einem der entsprechenden Verkehrszeichen (siehe Abbildung) gekennzeichnet. Eine Studie der Bundesanstalt für Straßenwesen aus dem Jahr 2009 hatte herausgefunden, dass jedoch nur wenige Fahrradfahrer von ihrem Recht Gebrauch machen. Die Autoren der Studie führen das darauf zurück, dass die meisten sich auf dem Radweg subjektiv sicherer fühlen oder dass unter Fahrradfahrern die Wahlfreiheit nicht allgemein bekannt ist.

Gerlach hält jedoch nicht viel davon, einfach alle Radfahrer zu ihrer eigenen Sicherheit auf die Straße zu schicken: "Aus Forschungen mit vor allem älteren Menschen und Kindern wissen wir, dass diese Personen gerne einen Schutzraum haben. Daher wäre ich nicht derjenige, der sagt, alle Radfahrer auf die Straße – damit schließen wir die unsicheren Radfahrer aus."

Stattdessen liegt nahe, die Fahrradwege zu verbessern. Hier wartet viel Arbeit: In vielen Kommunen und auf Landesebene ist die Radinfrastruktur nicht das Ergebnis einer strategischen Planung, sondern ein Resultat der verfügbaren Mittel und des verfügbaren Platzes, monieren die Autoren des nationalen Radverkehrsplans. Insbesondere in der Nachkriegszeit galt es als Optimum, eine autofreundliche Stadt zu konstruieren. Nachträglich wurden dann Linien auf den Bürgersteig gemalt – für Fahrrad-Aktivisten sind das Alibi-Radwege, die – siehe oben – spätestens an Kreuzungen für alle Verkehrsteilnehmer gefährlich werden.

Gute Fahrradwege sind möglich

Es gibt einige Möglichkeiten, wie Fahrradfahrer besser geschützt werden können. Der Schlüssel ist dabei eine verbesserte Radinfrastruktur mit guten Sichtverhältnissen, einfachen Übergängen und durchgehender Führung. Aber schon kurzfristig könnten Einbahnstraßen für Fahrräder in Gegenrichtung zugelassen werden – oder eine Fahrradstraße eröffnet werden, die den Fahrradverkehr von autoreichen Parallelstraßen abzieht.

Im Trend sind so genannte Protected Bike Lanes. Das sind Radwege, die mit Kunststoffpylonen zur Straße hin abgegrenzt sind. Die Fahrradstreifen können daher nicht einfach von Autos mitbenutzt werden, sie sind nicht zuparkbar und der Autofahrer ist gezwungen, nur mit dem gesetzlich vorgeschriebenen Mindestabstand von 1,50 Meter zu überholen. Als Straßenverkehrsplaner hält Gerlach jedoch nicht viel von den Protected Bike Lanes. Diese benötigen auf Grund der sich öffnenden Autotüren einen Sicherheitstrennstreifen von 75 Zentimetern. "Dann sollen die Radverkehrsanlagen so ausgebaut sein, dass sich mindestens zwei Radfahrer überholen können. Dazu brauchen sie zwei Meter Breite – insgesamt also 2,75 Meter pro Straßenseite. In Berlin finden sie sicher eine Straße, in der das gemacht werden kann; in Wuppertal, Düsseldorf oder Dortmund wird das schwieriger."

Stattdessen bricht Gerlach eine Lanze für den so genannten Schutzstreifen: Diese Streifen sind Teil der Fahrbahn und durch eine dünne, unterbrochene Linie und mit Fahrrad-Piktogrammen gekennzeichnet. Autos dürfen auf Schutzstreifen nicht parken und nur ausnahmsweise fahren, zum Beispiel in einer engen Straße. "In deutschen oder niederländischen Verhältnissen, also dort, wo ich einfach nicht wie in Berlin sehr breite Straßenräume zur Verfügung habe, sondern mit beengten Straßenraumsituationen umgehen muss, bringt ein Schutzstreifen die Möglichkeit, den Radfahrern einen Schutzraum zu bieten. Der Streifen war lange ein Streitfall, dass er nur vorgegaukelte Sicherheit biete. Doch die Evaluationsergebnisse zeigen eindeutig, dass der Schutzstreifen ein gutes und sicheres Merkmal ist, um dem Fahrzeugführer zu zeigen, hier gehört der Radverkehr auf die Fahrbahn. Außerdem ist der Radfahrer dann im Sichtfeld."

Um zu realisieren, was möglich ist, lohnt der Blick gen Westen über die Bundesgrenzen hinaus – in ein Land, in dem Politiker zur Arbeit radeln und es mehr Fahrräder als Menschen gibt: die Niederlande. Mit einem umfassenden Maßnahmenpaket entschloss sich die Regierung bereits in den 1980er Jahren, den Fahrradverkehr zu fördern. Also erhöhte man die Parkgebühren, reduzierte die Zufahrtsmöglichkeiten mit dem Auto in die Stadtzentren sowie die Verkehrsfläche von Autos. In vielen Innenstädten gilt ein Tempolimit von 30 Kilometern pro Stunde.

© Beeldtaal Filmmakers
Der Hovenring in Eindhoven
Der Hovenring in Eindhoven ist eine Rundbrücke, die mit Abspannseilen an einem 70 Meter hohem Pylon aufgehängt ist. Täglich nutzen etwa 4000 bis 5000 Fahrradfahrer die Brücke. Das Bauwerk soll zirka elf Millionen Euro gekostet haben.

Außerdem wurde in den Niederlanden schon früher damit begonnen, ein sinnvolles Radverkehrsnetz zu planen. Beispielsweise haben Fahrräder an Straßenübergängen oft Vorrang – gekennzeichnet durch weiße Dreiecke auf dem Asphalt. Wenn eine Kreuzung nicht komplett fahrradfreundlich umgebaut werden kann, beweisen die Niederländer dennoch, warum sie die Könige der Zweiräder sind: Für etwa 20 Sekunden bekommen einfach alle Fahrradfahrer an der Kreuzung grünes Licht – und fahren kreuz und quer und sicher in die Zielstraße ein. Man kann natürlich auch gleich etwas bauen wie den Hovenring in Eindhoven. Über eine Kreuzung wurde eine Rundbrücke nur für Fahrradfahrer und Fußgänger an eine 70 Meter hohe Säule aufgehängt.

Autonation Deutschland

Dem Fahrradverkehr kann also der Platz eingeräumt werden, den er braucht. In vielen deutschen Städten ist man allerdings noch nicht so weit. Hier hakt es, kritisiert Gerlach, insbesondere in den politischen Kommunalausschüsse, wo Radverkehr oft zur Randerscheinung wird: "Man bekennt sich zwar übergeordnet dazu, 'Fahrradstadt' zu werden; geht es dann an den einzelnen Straßenzug ran, muss plötzlich wieder der Parkraum gesichert werden. Geht die Verkehrsplanung ins Detail, werden Entscheidungen doch eher für den Kfz-Verkehr gefällt." Kurz: Der Parkstreifen spiele häufig eine größere Rolle als der Fahrradstreifen.

Eine Radinfrastruktur wie in den Niederlanden zu erschaffen, wäre ambitioniert – doch warum scheitert es in Deutschland schon am Schutzstreifen? Ein Blick in die Zahlen genügt, um Antworten zu finden. Im Zuge des Nationalen Radverkehrskongresses im April 2017 verkündete das Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur, im Jahr 2017 den Radverkehr mit 130 Millionen Euro zu fördern. Das ist allerdings nur ein kleiner Anteil des gesamten Budgets des Verkehrshaushalts: Allein 30 Milliarden Euro werden für Autos, Bus und Bahn ausgegeben. Es stehen also 0,5 Prozent Budgetanteil etwa 12 Prozent Radverkehrsanteil gegenüber: "Das steht in keinem Verhältnis zueinander", resümiert Gerlach. Natürlich könne man auch darüber streiten, ob die Förderung des Radverkehrs eine überregionale Aufgabe mit Bundesmitteln, eine Landesaufgabe oder eine kommunalpolitische Aufgabe ist. "Eigentlich sollten alle drei ihren Beitrag leisten, doch die Beiträge von allen dreien sind einfach noch zu gering", kritisiert der Verkehrsexperte weiter.

Ganz ohne Förderung steht der Radverkehr nicht da, schränkt Gerlach ein: Das Land Nordrhein-Westfalen finanziert inzwischen Radschnellwege und auch was der Bund mit dem Nationalen Radverkehrsplan seit einigen Jahren mache, findet er durchaus gut. Der Bund lasse die Kommunen daher definitiv nicht allein.

Wie es nicht geht …

Druck auf die Entscheider in den Städten wurde bisher vor allem durch den Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Club e.V. (ADFC) ausgeübt. Doch diese Kommunikation war wohl oft nicht erfolgreich: "Der ADFC agierte fordernd, Verwaltung und Politik abwehrend. Stattdessen geht es nun mehr und mehr in die Richtung, dass die Fahrradfahrer nicht mehr als Exoten wahrgenommen werden, sondern als breite Masse aus der Bevölkerung", erklärt Gerlach.

… und was man tun kann

In Städten wie Münster, Freiburg und Marl, in denen bereits eine gefestigte Radkultur gelebt wird, hat der Radverkehr in der Kommunalpolitik eine ganz andere Relevanz. Eine Stadt, in der sich die Fahrradfahrer die Aufmerksamkeit der Kommunalpolitiker erst erkämpfen musste und die repräsentativ zeigt, was durch Bürgerengagement möglich wird, ist Wuppertal: Eine graugrüne Großstadt, gelegen im Bergischen Land in Nordrhein-Westfalen, mit so erheblichen Höhenunterschieden, dass es der Filmregisseur Tom Tykwer das "San Francisco Deutschlands" getauft hatte und dass sie als jene Stadt mit den meisten öffentlichen Treppen gilt. Und diese Stadt hat sich entschieden, Fahrradstadt zu werden – und kann bereits Erfolge vorweisen.

In Wuppertal sei der Radverkehr wie in vielen anderen Städten politisch gesehen zwar durchaus immer wieder genannt, in der Vergangenheit jedoch eher eine autoorientierte Politik und Verkehrsplanung verfolgt worden, berichtet Gerlach. Doch nun "ist Wuppertal eine Stadt, die macht sich jetzt auf den Weg, was aber aus dem Engagement der Bürgerschaft hervorgeht: Über den ADFC hinaus hat sich eine große Fahrradkultur gebildet. Davon werden Politik und Verwaltung nun überrollt."

Die Nordbahntrasse in Wuppertal | Die Nordbahntrasse ist eine ehemalige Bahnstrecke, die quer durch die Wuppertaler Innenstadt führt. 2010 wurde mit den Umbauten begonnen. Das Projekt wurde erst durch Bürgerengagement ermöglicht.

Wuppertal wurde 2015 mit dem Deutschen Fahrradpreis ausgezeichnet: Vor allem durch den massiven Bürgereinsatz konnte eine stillgelegte Bahnstrecke für den Radverkehr optimiert werden. 20 Kilometer durch die Stadt führend, vier Meter breit Platz für Fahrräder und ein zwei Meter breiter Bereich für Fußgänger in beide Richtungen, 19 Brücken, sieben Tunnel, LED-Beleuchtung, 40 Zugänge und zahlreiche Rastplätze machen die Panoramatrasse zur Freizeitattraktion und zum angenehmen Arbeitsweg im Alltag. Gerade prüft die Stadt, ob eine Seilbahn vom Hauptbahnhof auf die Südhöhen realisierbar ist – inklusive Fahrradmitnahme.

Je mehr Menschen vom Auto aufs Rad umsteigen, desto angenehmer wird der tägliche Weg zur Arbeit auch für motorisierte Verkehrsteilnehmer. Je mehr Fahrräder, desto weniger Stau; je mehr Fahrradfahrer, desto weniger Lärm in der gesamten Stadt. Genauso werden mit jedem Umsteiger vom Auto aufs Fahrrad die Feinstaubwerte besser – das dürfte bei den steigenden Werten in den Großstädten in der Zukunft ein noch stärkeres Argument werden. Ein weiterer Pluspunkt des Fahrrads: Auf Strecken bis zu sechs Kilometern ist es in vielen Städten sogar das schnellste Verkehrsmittel.

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