Insekten: Die 17-Jahres-Invasion
Wer zur Zeit hinter John Cooley herfährt, benötigt gute Nerven: Kreuz und quer fährt er momentan mit seinem Auto und offenem Fenster durch die östlichen Vereinigten Staaten – um alle paar hundert Meter seine Geschwindigkeit zu drosseln oder anzuhalten. Dann spitzt er die Ohren und tippt auf einen Datenlogger, der auf dem Beifahrersitz festgeschnallt ist.
Seit Mitte Mai ist der Evolutionsbiologe von der University of Connecticut unterwegs, um die Bestände bestimmter Singzikaden der Gattung Magicicada – auch Periodische Zikaden genannt – zu kartieren. Die letzten 17 Jahre haben diese lauten, rotäugigen Insekten zum Heranwachsen unter der Erde verbracht. Doch im Mai krochen sie zu Milliarden aus dem Untergrund, nur um wenige Wochen zu singen und Sex zu haben, bevor sie sterben. Wie die wenigen anderen herumziehenden Zikadenforscher zwischen North Carolina und New York weiß auch Cooley, dass er schnell arbeiten muss. "Die Zeit ist der wahre Feind – für die Zikaden wie die Wissenschaftler", sagt er. "Verpasst man seine Chance, bleiben Lücken in der Laufbahn und man muss weitere 17 Jahre warten."
Als Insektengattung mit dem längsten bekannten Lebenszyklus fasziniert Magicicada seit Jahrhunderten die Biologen. Die erste Ausgabe der Philosophical Transactions of the Royal Society von 1665 beinhaltet einen Bericht aus Neuengland über "Schwärme merkwürdiger Insekten und die Unbill, die sie anrichten". Auch Charles Darwin rätselte über ihr Dasein. Und selbst heute noch versuchen Insektenkundler zu verstehen, wie sich der eigenartige Lebenszyklus entwickelt hat, wie die Tiere die Jahre im Erdreich "zählen" und wie sie ihre Zeitpläne synchronisieren. "Sie gehören zu den größten ökologischen Mysterien da draußen", meint Walt Koenig, Verhaltensforscher an der Cornell University in Ithaca.
Außerdem sind sie eine entomologische Rarität: Unter tausenden Zikadenspezies weltweit bildeten nur die sieben in den östlichen und zentralen Vereinigten Staaten lebenden Magicicada-Arten derart extrem verlängerte und synchronisierte Lebensläufe aus. Am Südrand ihres Verbreitungsgebiets haben sich Magicicada-Populationen in drei Linien verschiedener Arten aufgespalten, die alle 13 Jahre auftauchen, im Norden folgen 12 Brutgruppen 17-jährigen Zyklen. Dieses Jahr entwickelte sich die so genannte Brut II: eine der größeren Bestandslinien, die zudem in wichtigen Ballungsräumen der Ostküste auftritt.
Höllenlärm der Massen
Seit ihrem letzten Auftritt 1996 durchlebten die Brut-II-Zikaden fünf Larvenstadien in der Erde, wo sie sich saugend von Pflanzensäften aus den Wurzeln von Bäumen ernährten. Als es diesen Frühling wärmer wurde, krochen die Nymphane aus dem Boden, bevor sie sich ein letztes Mal häuteten und losflogen. Bis zu 350 Exemplare pro Quadratmeter können in manchen Waldstücken sitzen, ihr Zirpen erreicht Lautstärken von mehr als 95 Dezibel, wenn die Männchen die Weibchen umwerben – genug, um unser Gehör zu schädigen. Nach der Paarung nagen die Weibchen kleine Schlitze in Baumzweige und legen dort ihre Eier ab. Wenn daraus in sechs bis zehn Wochen die Larven schlüpfen, wird der Boden mit den toten Körpern ihrer Eltern übersät sein. Die neue Nymphengeneration lässt sich dann zur Erde fallen, wo sie sich eingräbt und bis 2030 ihr unterirdisches Dasein fristet.
Im Allgemeinen stimmen die Biologen überein, dass dieses gigantische, synchrone Auftreten der Zikaden potenzielle Fressfeinde überwältigt, so dass zumindest einige der eher wehrlosen Zikaden bis zur Fortpflanzung überleben. Manche Forscher wagten auch die These, dass die Zikaden Lebenszyklen mit Primzahlenintervallen entwickelt hätten: Dies würde die Wahrscheinlichkeit verringern, dass Beutegreifer ihre Populationszyklen mit jenen der Insekten synchronisieren können. All das beantwortet aber nicht die Frage, warum die spezifische Generationenfolge genau 13 oder 17 Jahre dauert.
Koenig schätzt, dass die Antwort mit der Vogelwelt in Beziehung steht. Zusammen mit Andrew Liebhold vom US Forest Service in Morgantown hat er eine 45-jährige Datenreihe aus dem North American Breeding Bird Survey analysiert und festgestellt, dass die Vogelbestände ausgerechnet in Massenjahren der Periodischen Zikaden dazu neigen, zurückzugehen. Da sich Vögel normalerweise von den Zikaden ernähren, hatte Koenig eigentlich damit gerechnet, dass es umgekehrt wäre. Er vermutet daher, dass die Zikadenflut langzeitige Veränderungen im Waldökosystem bewirkt, an deren Ende die Vogelbestände alle 13 bis 17 Jahre zusammenbrechen. Die grundlegenden Mechanismen blieben noch geheimnisumwittert, so Koenig. Ein Einflussfaktor könnten jedoch die unzähligen toten Zikaden sein, deren Körper zu zehn Prozent aus Stickstoff besteht. Ihr Ableben jagt eine veritable Düngergabe in den Wald, die zwischenzeitlich das Pflanzenwachstum fördert, aber später den Vögeln das Leben schwer macht. "Das ist eine ziemlich abgefahrene Hypothese", gesteht er.
Um ihre Auferstehung zu synchronisieren, müssen die Nymphen irgendwie erkennen, wie lange sie schon unter der Erde waren. Gene Kritsky vom College of Mount St. Joseph in Cincinnati schätzt, dass die Larven wohl zusammenzählen, wie oft die Bäume im Frühling ihre Blätter austreiben. 2007 tauchten einige Brut-XIV-Zikaden ein Jahr zu früh auf, nachdem Bäume während eines starken Wintertauwetters Blätter entwickelten, diese dann nach erneutem Kälteeinbruch abwarfen und im folgenden Frühling ganz normal wieder neues Laub austrieben. Aber niemand weiß wirklich, wie sich die Zikaden an die Anzahl der Jahre erinnern, seitdem sie das letzte Mal aufgetreten sind.
Die Rolle der Nachzügler
Langsam machen die Biologen aber Fortschritte beim Ergründen, welche biologischen Mechanismen es den Zikaden erlauben, ihre Lebenszyklen zu wechseln. Mithilfe von DNA-Markern entwickelte ein Team um Cooley einen evolutionären Stammbaum der Magicicada und fand dabei heraus, dass sich große Artgruppen immer wieder in 13- und 17-jährige Kohorten aufgespalten haben. Grund hierfür sei wahrscheinlich ein gemeinsamer genetischer Schalter, der über die Artgrenzen hinweg vorhanden sei, so die Forscher.
Chris Simon von der University of Connecticut möchte diesen Ansatz nun mit verschiedenen genetischen Studien weiterverfolgen, etwa der Sequenzierung der RNA-Kopien von Genen, die während unterschiedlicher Lebensstadien der Zikaden aktiv sind. Besonders interessiert sie das gelegentliche Auftreten von Periodischen Zikaden, die vier Jahre zu früh auftauchen oder sich entsprechend verspäten. Diese "Irrläufer" werden zur leichten Beute und überleben normalerweise nicht. Doch Simon und andere Fachleute vermuten, dass derartige zeitliche Fehleinschätzungen auch neuen Brutlinien in der Vergangenheit den Weg gebahnt haben könnten. "Es stellt so etwas wie eine plötzliche Artneubildung dar", sagt sie. "Diese Fähigkeit zum Zeitsprung haben wir in anderen Organismen noch nicht beobachtet."
Ein Beispiel dieser Zeitreisen findet womöglich gerade jetzt im nördlichen Cincinnati statt, 500 Kilometer vom Verbreitungsgebiet der Brut II entfernt. Kritsky dokumentierte dort vor Kurzem Tausende von Zikaden an einem Ort, wo er 2000 ein paar Irrläufer beobachtet hatte – vier Jahre bevor die Stadt von den erwarteten 17-Jahres-Zikaden von Brut X überflutet wurde. Das jetzige Auftauchen könnte darauf hinweisen, dass veränderte Umweltbedingungen wie zum Beispiel die Erderwärmung sie zum vorzeitigen Auftreten ermuntern. Oder aber ein genetischer Faktor habe dafür gesorgt, dass einige Mitglieder der 17-jährigen Brut X nun auf einen 13-jährigen Lebenszyklus gewechselt sind, so Kritsky. Er muss nochmal vier Jahre abwarten, ob manche der Ausreißer aus dem Jahr 2000 wieder zu ihrem 17-jährigen Zyklus zurückgekehrt sind. Der Hauptschwung von Brut X tritt erst 2021 auf.
Kritsky ist dann 68 Jahre alt. Die langen Zyklen der Periodischen Zikaden erschwere ihr Studium, so der Biologe. "Man denkt vielleicht, dass wir schon viel über sie wissen. Doch dem ist nicht so. Nur sehr wenige Forscher haben fünf Generationen der Zikaden erlebt."
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