Tierversuche: Die Abkehr von keimfreien Labormäusen
An einem ungewöhnlich warmen Morgen im Februar fährt Mark Pierson zu einer größeren Tierhandlung in Minneapolis, etwa 20 Minuten von ihm entfernt. Er arbeitet als Wissenschaftler in der Immunologie an der University of Minnesota und kommt regelmäßig, um Mäuse zu kaufen, und die Mitarbeiter kennen ihn schon. Heute verlangt er wieder einmal zehn Tierchen, die der Angestellte geschickt aus dem Glaskasten angelt. Der Wissenschaftler nimmt gerne die kleineren Mäuse, weil die in der Regel jünger sind. Aber ganz so wählerisch ist er dann doch nicht – wahrscheinlich haben alle, was er will: Keime.
Die Mäuse kommen in eines der am strengsten kontrollierten Labors der USA: Hier werden üblicherweise gefährliche Krankheitserreger wie Tuberkulose und das Chikungunya-Virus erforscht. Für den Menschen schwer wiegende Infektionskrankheiten erwartet Pierson bei seinen Tieren nicht, immerhin aber tragen sie sicherlich Krankheitserreger, die anderen Mäuse im Forschungszentrum gefährlich werden könnten.
Die Neuen aus der Tierhandlung kommen in einen Käfig, in dem schon eine Gruppe glänzend schwarzer Labormäuse lebt. Bisher wurden diese in einer extrem sauberen Umgebung gehalten, frei von den meisten Krankheiten. Im Käfig teilen die Bewohner alles: Nahrung, Wasser, Nest – und vor allem Krankheitserreger. Sobald die neuen »schmutzigen« Mäuse einziehen, werden einige der alten Bewohner wohl erkranken oder sogar sterben. Der Rest wird ein starkes Immunsystem entwickeln, das eher dem von Mäusen in freier Wildbahn ähnelt – und womöglich auch dem des Menschen.
Piersons Vorgehen ist eigentlich ein No-Go und verstößt gegen alle Regeln. Seit mehr als 50 Jahren unternimmt die Wissenschaft große Anstrengungen, um mit möglichst sauberen Labormäusen arbeiten zu können. In den meisten Einrichtungen werden die Käfige desinfiziert und die Nahrung und Wasserflaschen sterilisiert. »Da wird wirklich viel dafür getan, natürliche Infektionsquellen bestmöglich vom Mauskäfig fernzuhalten«, sagt David Masopust, der Immunologe und Laborleiter an der University of Minnesota, bei dem auch Pierson arbeitet. Die Maßnahmen haben sich durchaus gelohnt, denn seit Krankheitserreger als Störfaktoren unter Kontrolle sind, erbrachten Versuche an Mäusen weniger variable Ergebnisse.
Doch nun deutet eine ganze Reihe von Studien darauf hin, dass diese Sauberkeit auch ihren Preis hat, da das Immunsystem der Nagetiere dabei langsam verkümmert. Der Weg zur standardisierten und makellosen Maus machte die Versuchstiere zu einem immer schlechteren Analog des Menschen, dessen Immunsystem sich nun einmal in einer Welt voller Mikroben entwickelt. Das bleibt womöglich nicht ohne schwer wiegende Folgen für alle Forscher, die Behandlungsmöglichkeiten und Impfstoffe aus dem Labor in die Klinik bringen wollen. Zwar kann im Moment niemand auf den Punkt bringen, wie die unbedingte Hygiene bei Standardmausmodellen im Einzelnen Fehleinschätzungen fördert, in jedem Fall aber muss die künstliche Umgebung einen gewissen Einfluss haben, meint Masopust. Es ist kein Geheimnis, dass erschütternd wenige der vielen am Tier entwickelten Therapien am Ende dann tatsächlich bei Menschen funktionieren: Einer Schätzung zufolge scheitern 90 Prozent aller Medikamentenentwicklungen in der klinischen Studie am Menschen. »Man muss sich schon fragen, ob die saubere Umgebung nicht für so manche irreführenden Daten verantwortlich ist«, sagt Masopust.
Genau aus diesem Grund verwenden er und andere Forscher inzwischen für Versuche stärker keimbelastete Versuchstiere, um die natürliche Entwicklung des Immunsystems besser abzubilden. Einige Gruppen infizieren ihre Mäuse dabei gezielt, andere transferieren ein eher natürliches Mikrobiom. Die nicht keimfreie Maus birgt natürlich auch Risiken. Die Mäuse aus Tierhandlungen beherbergen ein Potpourrie an Krankheitserregern, als kämen sie direkt aus einem »von Charles Dickens beschriebenen Waisenhaus«, scherzt Aaron Ericsson, der an der University of Missouri in Columbia am Mikrobiom forscht. Die Tierpfleger im Labor nehmen es normalerweise sehr ernst mit der biologischen Sicherheit, und Mäuse sind eine wertvolle Ressource: »Niemand will hier einen Krankheitsausbruch provozieren.«
Lass sie Dreck fressen
Masopust interessiert sich schon seit mehr als einem Jahrzehnt für die Hygienefrage. Zum Knackpunkt wurde für ihn die Frage, wie sehr sich das Immunsystem von Labormäusen doch von dem des Menschen unterscheidet. Den Grund dafür vermuteten Forscher zunächst in genetischen Unterschieden. Masopust aber hatte eher die Umwelt- und Haltungsbedingungen der Labormäuse im Verdacht und fragte sich: »Gilt das für alle Mäuse – oder nur für die im Labor?«
Auf der Suche nach Antworten verglich er das Immunsystem verschiedener Gruppen von Mäusen – eine Gruppe aus dem Labor und eine Gruppe aus der Tierhandlung beziehungsweise aus freier Wildbahn. Bei Labormäusen fanden sich im Blut viel weniger Gedächtnis-T-Zellen gegen Tumore und Infektionen; also Immunzellen, die auf einen früheren Kontakt mit Erregern hindeuten und ein immunologisches Gedächtnis aufgebaut haben. Außerdem fehlten ihnen T-Zellen in anderen Körpergeweben fast völlig, anders als Menschen wie auch Mäusen aus freier Wildbahn oder Tierhandlungen, in denen es von solchen gewebeständigen Gedächtnis-T-Zellen nur so wimmelt. Insgesamt zeigten die Labormäuse ein weniger gut entwickeltes Immunsystem, das eher dem eines Säuglings als dem eines erwachsenen Menschen ähnelt.
Laut Masopust spielen vorausgegangene Infektionen demnach eine wichtige Rolle. Das würde aber bedeuten, dass sich das Immunsystem der Labormäuse modulieren ließe, indem man die Tiere verschiedenen Erregern aussetzt. Und wenn die keimarme Umgebung tatsächlich das Problem ist, überlegte er, dann müsste man die Mäuse vielleicht nur unter schmutzigeren Bedingungen halten.
Er entwarf also ein scheinbar einfaches Experiment: Er wollte eine Maus aus der Tierhandlung zusammen mit mehreren Mäusen aus dem Labor in ein und denselben Käfig stecken. Die bisher keimarmen Mäuse würden alle möglichen Krankheitserreger der neuen Maus aufnehmen – Pelzmilben, Madenwürmer oder Maus-Hepatitis –, um schließlich immunologisch eher wie die Maus aus der Tierhandlung zu werden. Mit diesem Maus-Wohngemeinschafts-Ansatz könnten die Forscher vielleicht »das Immunsystem unserer hoch geschätzten, gut definierten Inzuchtstämme dem Immunsystem des Menschen annähern«, erklärt der Immunologe Stephen Jameson von der University of Minnesota, der auch mit Masopust zusammenarbeitet.
»Gilt das für alle Mäuse – oder nur für die im Labor?«David Masopust
Doch das war dann erst einmal gar nicht so einfach, weil die Forscher anfangs keinen Platz für die keimbelasteten Tiere fanden. »Ich wollte natürlich auf keinen Fall die Mauskolonien meiner Kollegen kontaminieren«, erklärt Masopust. Als er das Experiment zum ersten Mal mit den Tierpflegern besprach, gab das durchaus Anlass für helle Aufregung, erinnert er sich. Ein glücklicher Zufall wollte es, dass die Universität gerade ein Hochsicherheitslabor in Masopusts Gebäude plante. Die Anlage wurde für BSL-Stufe 3 (Biologische Schutzstufe 3) konzipiert, wo zwar für den Menschen infektiöse Krankheitserreger vorhanden sind, die Ausbreitung der Mauspathogene auf andere Mäuse aber verhindert wird. Schon 2013 konnten sich Masopust und seine Kollegen dort einen Raum sichern. »Ich hatte Glück, dass hier nicht alles voll ausgelastet war. Das Institut brauchte Einnahmen, und die Verantwortlichen waren relativ offen«, erinnert er sich. Inzwischen beherbergt dieser Raum 500 Mäuse in Plastikkäfigen, jeder davon mit einer Hand voll sehr gepflegter Labormäuse und einer rauflustigen Maus aus der Tierhandlung.
Nach einem Monat Zusammenleben zeigten die ehemals superreinen Labormäuse immunologisch dieselben Eigenschaften wie ihre Verwandten aus freier Wildbahn oder der Tierhandlung. Sie hatten mehr differenzierte Gedächtnis-T-Zellen als saubere Labormäuse, und sie entwickelten gewebeständige Gedächtnis-T-Zellen. Die normalen, sauberen Labormäuse waren mit Blick auf die Aktivitätsmuster ihrer Gene immunologisch vergleichbar mit neugeborenen Kindern; die von Tieren aus der Tierhandlung sowie aus den Mauswohngemeinschaften glichen eher Erwachsenen. Die keimbelasteteren Mäuse erwiesen sich auch gegenüber einer Infektion mit Listeria monocytogenes als wesentlich resistenter. Dies konnten die Forscher zeigen, indem sie einige Tiere mit Listerien infizierten; drei Tage später war die Zahl der Bakterien in diesen Tieren um mehr als vier Größenordnungen gesunken – eine Reaktion, die mit der Reaktion von Labormäusen vergleichbar ist, die gegen das Bakterium extra geimpft wurden.
Schon kurz nachdem Masopust mit seinen Arbeiten im BSL-3-Labor begonnen hatte, startete der Immunologe Herbert Virgin von der Washington University in St. Louis, Missouri ein ähnliches Projekt zum Immunsystem von Labormäusen. Allerdings wurden dabei Erreger nicht mit Hilfe von Mäusen übertragen: Stattdessen infizierten die Forscher die Tiere direkt, um eine bessere Kontrolle zu behalten. »Ich wollte als Virologin einfach wissen, welches Pathogen wirklich übertragen wird«, sagt Tiffany Reese, die damals in Virgins Labor tätig war und jetzt am University of Texas Southwestern Medical Center in Dallas als Virusimmunologin arbeitet.
Die Forscher hatten vier Krankheitserreger gezielt ausgewählt: zwei verschiedene Herpesvirustypen, ein Influenzavirus und einen parasitischen Wurm, der eine chronische Infektion im Dünndarm auslöst – und damit eben jenes Gemisch von Infektionen, das typischerweise viele Kinder in Entwicklungsländern trifft. Die Mäuse wurden sukzessive mit den einzelnen Erregern infiziert, damit sich die Tiere zwischendurch immer wieder erholen konnten; dies entspricht in etwa der natürlichen Situation beim Menschen, der auch eher nacheinander verschiedenen Infektionen ausgesetzt ist. Dazu stellten die Forscher eine Kontrollgruppe von Mäusen bereit, die zum Schein Kochsalzlösung erhielten. Die letzte Herausforderung für das Immunsystem aller Mäuse war dann eine Gelbfieberimpfung mit lebenden »attenuierten«, also abgeschwächten Viren.
Ähnlich wie schon Masopust fanden die Wissenschaftler auch hier deutliche Unterschiede in den zwei Gruppen, sowohl im Gen-Expressionsprofil als auch in der Reaktion der Tiere auf die Impfung. Anfangs bildeten beide Gruppen noch vergleichbar Antikörper; aber schon einen Monat später fanden sich bei den koinfizierten Mäuse niedrigere Antikörperspiegel, auch wenn bislang keiner sagen kann, ob dieser Unterschied die Wirksamkeit des Impfstoffs beeinflusst hat. »Noch ist unklar, ob sich ein bestimmter Nutzen zeigt«, erklärt Virgin. Er hofft natürlich, dass die Versuche mit den weniger rein gehaltenen Mäusen ganz allgemein zu einem besseren Verständnis der Mechanismen im Immunsystem führen.
Die Wildnis ruft
Andere Arbeitsgruppen holten ihre keimbelasteten Mäuse nicht aus Tierhandlungen, sondern suchten sie in der freien Wildbahn. So fuhr der Immunologe Stephan Rosshart vom US National Institute of Diabetes and Digestive and Kidney Diseases (NIDDK) in Bethesda in Maryland Hunderte von Kilometern weit herum und fing wild lebende Mäuse in verschiedensten Pferdeställen im Bundesstaat und im District of Columbia.
Rosshart hatte sich 2013 dem Labor der Immunologin Barbara Rehermann am NIDDK angeschlossen. Die beiden Forscher machten erst einmal Literaturrecherche zum Mikrobiom, weil sie mehr über die Gesamtheit der Mikroorganismen auf und in größeren Lebewesen erfahren wollten. Verschiedene Studien hatten bereits den Einfluss des Mikrobioms auf das Immunsystem gezeigt, wobei die meisten Veröffentlichungen auf dem Vergleich von zwei verschiedenen Populationen von Labormäusen basierten. Dabei lebt in der Regel die eine Gruppe der Tiere mit einem im Labor definierten Mikrobiom und die andere ohne dieses. Was würde passieren, fragte sich Rosshart, wenn er einer Labormaus das Mikrobiom einer in Wildnis lebenden Maus verabreichte? Dabei würde der genetische Hintergrund der Maus bewahrt werden und nur die Physiologie an die ihrer wilden Verwandten angenähert werden.
Rosshart hatte spezielle Anforderungen an den Spender des Wildnismikrobioms: Es musste ein erwachsenes Tier sein, das genetisch einer Labormaus ähnelte und frei von Krankheitserregern war, um nicht Gefahr zu laufen, die anderen Mäuse am Institut anzustecken. »Ich habe lange versucht, Stephan davon zu überzeugen, dass dies keine gute Idee ist, weil die Umsetzung sehr schwierig ist«, erinnert sich Rehermann. Doch Rosshart ließ sich nicht davon abhalten. So fuhr er jeden Morgen drei bis zehn Scheunen an, leerte mehr als 100 Mausefallen und fuhr mit den Mäusen zurück ans NIH. Dann sezierte er sie und konservierte ihr Gewebe und ihren Kot. Am Abend fuhr er dieselbe Route noch einmal ab, sammelte weitere Mäuse und füllte neue Fallen mit Erdnussbutter als Köder. Sein Tag begann morgens um halb fünf und endete gegen Mitternacht – zwei Monate lang und sieben Tage die Woche. »In der ersten Woche macht so etwas noch Spaß, aber nach einer Weile wird es dann schon zur Herausforderung«, sagt er.
Am Ende hatte Rosshart mehr als 800 Mäuse gefangen und präpariert. Mit seinen Kollegen wählte er drei mit passender Genetik und ohne Anzeichen von Krankheitserregern aus. Mikroben aus dem Kot der Tiere übertrugen die Forscher dann auf schwangere, bisher keimfrei gehaltene Mäuse, die das Mikrobiom an ihre Nachkommen weitergaben. Für die Auswertung der Daten verglich das Team diese Mäuse mit anderen, keimfrei gehaltenen Mäusen, deren Mikrobiom aus der desinfizierten Laborumgebung stammte.
Im Experiment selbst infizierten die Wissenschaftler die Mäuse mit einem mausadaptierten Grippevirus. Diese Infektion überlebten 92 Prozent der Mäuse mit Wildnismikrobiom, verglichen mit nur 17 Prozent der Mäuse mit Labormikrobiom. Die Tiere mit Wildnismikrobiom entwickelten auch weniger schwere Erkrankungen, als die Forscher sie noch Chemikalien aussetzten, die Darmkrebs auslösen. »Die etwas provokante Hypothese lautet: Wenn man eine Maus ihren Verwandten in der Natur angleicht, wird sie zum besseren Modell der Abläufe im Menschen, der ebenfalls in der Natur lebt«, erklärt Rehermann.
Reine Auswilderung führt allerdings nicht immer zur besseren Infektabwehr, wie im vergangenen Monat das Team der Evolutionsökologin Andrea Graham von der Princeton University in New Jersey zeigen konnte: So sind ausgewilderte Labormäuse sogar anfälliger für Wurminfektionen. Grahams Labormäuse hatten einen festen Zugang zum Freigehege; als die Forscher die erste Gruppe an Mäusen hinausließ, begannen die Tiere sofort das Gehege zu erforschen, Höhlen zu graben und neue Nahrung zu suchen. »Sie wirkten glückselig und machten die ganze Nacht durch«, erzählt sie. Die Erreger, auf die sie dort stießen, beeinträchtigten aber sehr deutlich ihre Fähigkeit, bestimmte Parasiten zu bekämpfen, wohingegen die Vergleichsmäuse aus Grahams Labor meist gut und schnell mit Parasiteninfektionen zurechtkamen. Die Tiere mit Freigang waren »innerhalb weniger Wochen stark wurmbelastet«, sagt sie, und noch ist unklar, wieso das so ist. Dies aufzuklären könnte auch bei der Frage weiterhelfen, wie das Immunsystem in einer natürlichen Umgebung funktioniert. Vielleicht hat hier die Bekämpfung tödlicher Erreger, wie Viren und Bakterien, Vorrang vor weniger fatalen Infektionen beispielsweise mit Würmern, überlegt Rosshart. »Prinzipiell ist die Immunantwort perfekt gerüstet, gegen alles und jedes«, fügt er hinzu.
Die Mausmodelle mit den Keimschleudern haben für viel Aufregung gesorgt. »Sie sind in vielerlei Hinsicht wegweisende Modellsysteme«, sagt Alexander Maue, Leiter der Abteilung Mikrobiomprodukte und Dienstleistungen bei Taconic Biosciences, einem Anbieter für Tiermodelle mit Sitz in Rensselaer in New York. Diese Mäuse ermöglichen es seiner Meinung nach »verschiedene Mechanismen der schützenden Immunität zu untersuchen, die man im normalen Reinraum-Mausmodell nicht erfassen kann«.
Modelle für Reihenuntersuchungen
Unklar ist noch, welche Modelle für welche Forschungsfragen am besten geeignet sind. In Masopusts Experimenten beispielsweise erhält jede Gruppe von Labormäusen einen anderen Cocktail an Krankheitserregern. Das ist Fluch und Segen zugleich, weiß er, aber auch die Menschen sind nun einmal sehr unterschiedlich. In Virgins Versuchsansatz dagegen erhalten die Mäuse einen definierten Satz von Krankheitserregern, wobei hier die Wirkung auf das Immunsystem nicht ganz so deutlich ist.
Eleanor Riley arbeitet als Immunologin an der University of Edinburgh im Vereinigten Königreich. Ihrer Meinung nach kann keines der bisherigen Modelle genau abbilden, was in der Natur passiert. Mäuse in freier Wildbahn unterscheiden sich in vielerlei Hinsicht von Labormäusen, dabei kann die Ernährung eine Rolle spielen, aber auch Tageslicht, Temperatur und Paarungsverhalten beeinflussen die Tiere. »Ich glaube, wir müssen mehr mit Ökologen und Zoologen zusammenarbeiten und uns die reale Welt ansehen, sonst laufen wir Gefahr, in einem eher reduktionistischen und zu stark vereinfachten Modell zu arbeiten«, sagt sie.
Doch schon eine stark abgespeckte Version der freien Wildbahn in einem Labor nachzubilden, ist eine Herausforderung, weiß Virgin. »Ich glaube, niemand bezweifelt, dass hier wichtige Fragen zu klären sind. Aber solche Experimente erfordern jede Menge Infrastruktur.« Das Wildnis-Mikrobiom-Modell umgeht viele der Probleme beim Arbeiten mit Krankheitserregern; doch auch Rosshart weiß genau, wie schwierig das Einfangen von Mäusen in der freien Wildbahn ist.
Abzuwarten bleibt noch, ob sich die Bedingungen beim Menschen mit den Keimschleudern überhaupt besser abbilden lassen als mit herkömmlichen, möglichst rein gehaltenen Labormäusen – besonders auch im Hinblick auf das Testen von Medikamenten. Im Idealfall könnte man natürlich untersuchen, ob ein bisher in klinischen Studien gescheiterter Therapieansatz in den neuen Modellen dieselben Ergebnisse zeigt.
Genau das macht nun Masopusts Gruppe und arbeitet dafür mit zwei Pharmafirmen zusammen. In einem Fall möchte das Unternehmen wissen, ob sich das Scheitern seines Therapieansatzes in der klinischen Studie mit Hilfe von Masopusts Modell hätte vorhersagen lassen. Für ein anderes Unternehmen testet Masopust eine Therapie, die in Reinraummäusen gut funktioniert hat. Die vorläufigen Daten deuten allerdings darauf hin, dass die Behandlung bei den Keimschleudern eher keine bedeutende Wirkung hat.
Auch in anderen Forschungsinstituten wird immer häufiger mit keimbelasteten Mäusen gearbeitet. Der Immunologe Daniel Campbell vom Benaroya Research Institute in Seattle in Washington erhielt im vergangenen Dezember die Bewilligung eines Antrags beim NIH, um seine eigenen Mauspopulationen zu etablieren. Mit seinen Kollegen zusammen möchte er Behandlungsansätze für Autoimmunität testen, einer Störung, bei der das Immunsystem gesundes Gewebe im eigenen Körper angreift. In pathogenfreien Mäusen scheinen etliche Therapien zu funktionieren, doch »viele der Ansätze ließen sich nicht gut auf den Menschen übertragen«, erklärt Campbell. Keimbelastete Mäuse haben ein besser entwickeltes Immunsystem als übliche Labormäuse und könnten seiner Meinung nach ein realistischeres Modell zum Testen neuer Therapieansätze sein, insbesondere zum Erkennen unerwünschter Nebenwirkungen. »Sicherheit ist immer ein wichtiges Thema«, sagt er.
Das Wohngemeinschaftsmodell zum Laufen zu bringen, war eine Herausforderung – laut Campbell war es aber die Mühe wert. Sobald er ausreichend Tiere hat, könnte er zahlreiche Fragen seiner Kollegen testen. »Sehr viele Forscher sind interessiert und wollen ihre Ansätze in den neuen Modellen untersuchen«, schwärmt er.
Der Artikel ist im Original »Squeaky clean mice could be ruining research« in »Nature« erschienen.
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