Domestizierung der Pferde : Die Ahnen der Przewalski-Pferde
Kumys ist in den Steppenländern Zentralasiens noch heute sehr beliebt, in der Mongolei gilt der dort "Airag" genannte Drink sogar als Nationalgetränk. Hergestellt wird er durch Vergären von Stutenmilch in einem ähnlichen Verfahren wie beim Brauen von Bier, bei dem allerdings Getreide als Grundlage genommen wird. Während Mitteleuropäer Kumys oft eher skeptisch beschnuppern, trinken die Steppenvölker Zentralasiens es ähnlich wie die Menschen andernorts Wasser oder Tee; oft genug ist es sogar Grundnahrungsmittel wie unser Brot und Vitaminlieferant wie hier zu Lande Obst und Gemüse.
Die Menschen im Norden des heutigen Kasachstan hatten also gute Gründe, vor rund 5500 Jahren Pferde zu halten. Waren und Reiter transportierten die Tiere vermutlich erst später – und so hat die Domestizierung des Pferds wohl kulinarische Hintergründe. Überhaupt hält die Evolutions- und Kulturgeschichte des Hauspferds noch Überraschungen bereit, berichten Ludovic Orlando vom Naturhistorischen Museum Dänemarks in Kopenhagen und gleich 46 Kollegen jetzt im Fachblatt "Science". Das Team hat das Erbgut dieser ältesten Hauspferde aus Kasachstan analysiert und stellt fest: Ihre genetischen Spuren finden sich im Erbgut heutiger Reit- oder Kutschpferde kaum noch. Sie lebten allerdings in den Przewalski-Pferden weiter, die einst über die Steppen zwischen dem Süden Sibiriens, Kasachstan, der Mongolei und dem Westen Chinas trabten.
Vom Jäger zum Züchter
In dieser riesigen Region hatte der kasachische Archäologe Viktor Zaibert da, wo die Steppen Zentralasiens langsam in die Wälder Sibiriens übergehen, gar nicht weit von der Hauptstadt Kasachstans, die Reste einer Siedlung entdeckt, die vor ungefähr 5600 bis vor 5000 Jahren bewohnt war. Mehr als 160 halb in den Boden eingegrabene Wohnhäuser haben die Forscher dort mittlerweile untersucht und dabei einige hunderttausend Tierknochen ans Licht gebracht, von denen die allermeisten von Pferden stammen.
Diese Tiere waren offensichtlich die wichtigste Beute der Jäger und Sammler in den Steppen Zentralasiens. Allerdings passen die Funde in der Botai genannten Siedlung nicht so recht zur Lebensweise von Pferdejägern: Die zerlegen das Opfer praktischerweise und tragen dann einzelne Teile in ihr Lager. Sandra Olsen von der University of Kansas, eine der Autorinnen, findet in Botai aber meist komplette Pferdeskelette. Zudem stammen sie ungefähr zur Hälfte von Hengsten und zur Hälfte von Stuten. Jäger hätten dagegen weit überwiegend Stuten erlegt, weil Hengste viel schwieriger zu erbeuten sind. Obendrein finden sich in den Zähnen und Kieferknochen einiger ausgegrabener Pferde Kerben, die typischerweise entstehen, wenn die Tiere einen Zügel tragen, mit dessen Hilfe sie geführt werden.
Als die Forscher dann auch noch Tongefäße mit den Resten von Fetten und Fettsäuren fanden, die von Stutenmilch oder Kumys stammten, war ihnen klar, dass die Jäger und Sammler damals offensichtlich dazu übergegangen waren, Pferde zu halten. Die Stuten molken sie wohl wie die Steppenvölker heute – und vergoren die Milch zu Kumys, während das Fleisch der Tiere willkommene Mahlzeiten lieferte und die Haut zu Leder gegerbt werden konnte.
Die beste Wahl
Inzwischen haben die Forscher in Kasachstan zwei weitere Siedlungen der Pferdezüchter entdeckt. Krasnyi Yar mit 54 und Vasilkovka mit 44 Häusern waren deutlich kleiner als Botai. Sonst aber ähneln sich die Orte sehr, und in jedem von ihnen finden die Forscher massenweise Tierknochen, fast alle von Pferden. Auch das spricht dafür, dass die Menschen Pferde nicht jagten, sondern hielten: Wohl kein Jäger hätte sich damals so stark auf eine einzige Beute spezialisiert. Einen weiteren Hinweis auf Pferdezucht liefern Bodenanalysen aus Überresten von Gehegen, die Forscher in Botai und in Krasnyi Yar entdeckten: Innerhalb dieser rund 20 mal 15 Meter großen Koppeln enthält der Boden sehr viel Phosphat – einen typischen Inhaltsstoff der Exkremente. Die Botai-Menschen hatten offenbar auch die Pferdekoppel bereits erfunden.
Für Viehzüchter scheinen Pferde auf den weiten Steppen zwischen Ungarn und dem Westen Chinas schon vor Jahrtausenden ideal gewesen zu sein: Die Tiere sind hervorragend an die eiskalten Winter im Herzen Eurasiens angepasst und finden sogar unter einer Schneedecke genug zu fressen. Kühe, Schafe oder Ziegen hätten mit den harschen Bedingungen dagegen erhebliche Schwierigkeiten und bräuchten zusätzliches Winterfutter, das die Viehhalter vorher einlagern müssten. Kein Wunder, dass die Menschen der Botai-Kultur sich für Tiere entschieden, die ohnehin in der Gegend leben und vorher vor allem Jagdbeute gewesen waren.
Irgendwann kamen die Pferdebesitzer dann auf die Idee, ihre Tiere könnten doch auch Waren transportieren – oder sogar Reiter. Das sollte die Welt ähnlich revolutionieren wie vorher die Erfindung der Landwirtschaft: Die auf ihren eigenen zwei Beinen ohnehin sehr mobile Menschheit konnte sich und ihren Besitz, aber auch Waffen viel schneller als bisher bewegen. Bis zur Erfindung von Eisenbahn, Dampfschiff, Fahrrad und Auto war das Pferd für einige Jahrtausende daher für eine schnelle Fortbewegung das Mittel schlechthin. Die Eroberungsfeldzüge von Alexander dem Großen über Dschingis Khan und Karl den Großen bis zu Napoleon Bonaparte wären ohne Pferde nicht vorstellbar gewesen. Und wie wichtig solche Reittiere auch im Alltag waren, kann man selbst am Anfang des 21. Jahrhunderts in entlegenen Regionen wie im Süden Chiles beobachten: Mangels Straßen und Pisten sind dort an einem Samstagabend vor einer Diskothek manchmal mehr als 50 Pferde angebunden.
Schwierige klassische Archäologie
Mit den Methoden der klassischen Archäologie aber lässt sich der wichtige Umbruch, der mit dem Zähmen der Pferde einherging, nur schwer untersuchen. So hat sich deren Körperbau anfangs kaum verändert. Finden Archäologen also in einer ausgegrabenen Siedlung Knochen der Tiere, können sie nur über Umwege feststellen, ob dort Wildpferde gejagt oder Hauspferde gehalten wurden. Selbst wenn Reste von Stutenmilch an Bruchstücken von Tongefäßen oder Hinweise auf Zügel an den Zähnen der Tiere auftauchen, wissen die Forscher noch nicht, woher diese Pferde kamen – und wohin sie gingen.
Hinweise darauf gibt heutzutage allerdings das Erbgut der Tiere. Ludovic Orlando und seine Kollegen analysierten daher das Genom von 20 Pferden der Botai-Kultur sowie das von 22 Pferden, die während der letzten rund 5000 Jahre in Eurasien lebten, und verglichen diese Daten mit früheren Erbgutanalysen von 28 Pferden unserer Zeit und 18 Tieren aus der Vergangenheit. Am Ende konnten die Forscher das Genom der Botai-Pferde mit drei Wildpferden, die vor 5100 bis vor 42 800 Jahren gestorben waren, sowie mit 36 Hauspferden, die vor 5100 bis vor 100 Jahren lebten, und mit weiteren 22 Hauspferden unserer Zeit vergleichen. Dazu kamen noch sechs heute lebende Przewalski-Pferde und ein anderes, vor 118 Jahren verstorbenes Tier dieser Rasse, die als letztes überlebendes Wildpferd auf der Erde gilt und nur im Gebiet der heutigen Mongolei und dem Westen Chinas bis ins 20. Jahrhundert überdauert hat.
Komplizierte Domestizierung
Bei diesen Vergleichen stechen rasch dramatische Unterschiede ins Auge: Genau wie in den vergangenen Jahrhunderten darf sich heute oft nur ein einziger Hengst mit besonders gewünschten Eigenschaften vermehren. Sehr wenige solcher Zuchthengste haben daher sehr viele Nachkommen, alle anderen gehen meist leer aus. Das sah vor gut 2000 Jahren noch ganz anders aus: "Damals beteiligten sich sehr viele Hengste an der Vermehrung, eine intensive Zucht wie heute gab es noch nicht", fasst der Paläogenetiker Michael Hofreiter von der Universität Potsdam die Ergebnisse einer Studie vom April 2017 zusammen, die ebenfalls Ludovic Orlando geleitet hat.
Eine ähnliche Vielfalt fanden die Forscher jetzt auch bei den Botai-Pferden, die vor rund 5500 Jahren über die Steppen Kasachstans trabten. Auch wenn es damals also offensichtlich keine so strikte Zuchtwahl wie heute gab, sieht man bei diesen Tieren doch den Einfluss der Menschen: Die Botai-Pferde waren massiger als die Wildpferde, vermutlich, weil ihre Züchter kräftigere Tiere bevorzugten, die mehr Fleisch lieferten. Eine Überraschung aber brachte der Vergleich der Botai-Pferde mit den Tieren, die vor höchstens 4000 Jahren über die Steppen Zentralasiens trabten, die im Römischen Reich Legionäre trugen oder die im 21. Jahrhundert in den Zuchtställen stehen: Dort finden die Forscher gerade einmal 2,7 Prozent Botai-Pferde-Erbgut. Zwei Erklärungen fallen Michael Hofreiter für dieses Ergebnis ein: "Entweder gab es irgendwo in Eurasien eine zweite Domestizierung von einer völlig anderen Wildpferdegruppe, von der dann alle späteren Hauspferde abstammten", überlegt der Forscher. "Oder die bereits domestizierten Botai-Pferde paarten sich sehr häufig mit Wildpferden aus einer anderen Gruppe." Die Herkunft der heute lebenden Hauspferde liegt daher weiter im Dunkeln.
Aus für die Wildpferde
Aber auch direkte Nachkommen der Botai-Pferde haben die Forscher aufgespürt. Die Przewalski-Pferde, die bis in das 20. Jahrhundert wild in den Steppen der Mongolei und im Westen Chinas lebten, sind nicht etwa wie bisher angenommen die letzten Wildpferde auf der Erde, sondern direkte Nachfahren der ersten Hauspferde, die vor 5500 Jahren im Norden Kasachstans lebten. "Offensichtlich verwilderten vielleicht nur ein paar Hundert dieser ersten Hauspferde wieder und haben bis heute als Przewalski-Pferde überlebt", schließt Hofreiter aus dem Erbgut der Tiere. Dabei konnten die Przewalski-Pferde eine große Erbgutvielfalt sehr lange bewahren, wie die Analyse des Erbguts eines vor 118 Jahren verstorbenen Exemplars zeigt, dessen Überreste in einem Museum landeten. Danach wurden diese vermeintlichen Wildpferde, die tatsächlich die Nachkommen der allerersten Hauspferde sind, in der Natur jedoch ausgerottet und überlebten nur in menschlicher Obhut. Dabei haben sie ihre Vielfalt im Erbgut weitgehend verloren. Seither wurden Przewalski-Pferde zwar wieder ausgewildert – Wildpferde aber sind sie trotzdem nicht, sondern nur die verwilderte Form der ersten Hauspferde.
Selbst eine Farbvariante, die von den Botai-Menschen vor 5500 Jahren vermutlich geschätzt wurde, ist bei den Przewalski-Pferden inzwischen wieder verschwunden. "Im Erbgut der Botai-Pferde fanden wir eindeutige Hinweise darauf, dass einige Tiere Tigerschecken waren: Sie hatten viele dunkle Punkte auf hellem Fell", erklärt Michael Hofreiter. Während solche Färbungen bei Züchtern beliebt sind, fallen sie in der Natur auf, und die betroffenen Tiere werden leichter zur Beute von Raubtieren. Bei den Przewalski-Pferden sind die Tigerschecken daher wieder verschwunden.
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