Verhaltensforschung: Die Augen des Totempfahls
"Big brother is watching you!" Wir alle kennen das Gefühl, im Fadenkreuz fremder Blicke zu stehen. Das gilt auch für Tiere. Doch was löst die Überwachung in Mensch und Tier aus?
In einer Cafeteria steht eine Spendenbüchse, geziert von einem niedlichen Blümchensymbol. Leute kommen und gehen, einige werfen Kleingeld hinein. 24 Stunden später – die Kantine ist genauso gut besucht wie am Vortag – wartet die Spendenbüchse wieder am Ausgang, doch diesmal mit einem kleinen Unterschied: Statt der Blume sind zwei Augen aufgemalt, die den Betrachter der Büchse direkt anschauen. Die abendliche Auszählung der beiden Tagesspenden zeigt, dass der Blick erfolgreicher war als die Blume: Die Kaffeetrinker hatten ein Vielfaches an Münzen in den Schlitz zwischen den Augen gesteckt.
Warum geben Menschen mehr Geld beim Anblick des Augenpaares? Weil aus dem Betrachter automatisch ein Beobachteter wird, vermuten Manfred Milinski und Bettina Rockenbach. Die beiden Wissenschaftler vom Max-Planck-Institut für Evolutionsbiologie in Plön haben unterschiedliche Quellen gesichtet, um Ursachen und Folgen sozialer Überwachung zu analysieren.
In dem Trick mit der sehenden Sparbüchse verbirgt sich ihrer Meinung nach eine universelle Verhaltenstendenz: Sobald eine Person das Gefühl hat, beobachtet zu werden, spielt sie den freundlichen Menschen – in der Hoffnung, beim nächsten Mal auch selbst gut behandelt zu werden.
Dieses Verhalten kennen Forscher auch aus dem Tierreich: So verdienen die im tropischen Indopazifik lebenden Putzerlippfische (Labroides dimidiatus) ihren Lebensunterhalt als mobiler Reinigungsdienst, indem sie andere Fische von Parasiten und abgestorbenen Hautzellen befreien. Diesen Eindruck vermitteln sie zumindest, wenn weitere potenzielle Klienten sie bei ihrem Geschäft beobachten. Agieren sie hingegen ohne Publikum, werden auch gerne ganze Fleischstückchen aus dem Gegenüber herausgerissen.
Der Beobachtete ändert demnach sein Verhalten, sobald er die Überwachung registriert. Um ein unverstelltes Bild des Anderen zu bekommen, sollte der Beobachter daher alles daran setzen, möglichst nicht entdeckt zu werden. Aus diesem Grund liegen die Augen zahlreicher Vogelarten auf dunklen Gefiederstreifen – durch das Muster entgeht den Artgenossen, dass sie fixiert werden.
Der Mensch ist hier ehrlicher: In seinen Augen umgibt die auffällige weiße Lederhaut die dunklere Iris. Dieser klare Blick erwies sich vermutlich bei den intensiven menschlichen Sozialgeflechten, die oft direkten Augenkontakt erfordern, als vorteilhafter gegenüber der kryptischen Variante.
So entsteht nach Ansicht von Milinski und Rockenbach ein Wettrüsten zwischen Beobachter und Beobachtetem: Ersterer muss möglichst unauffällig vorgehen, um ehrliche Informationen zu bekommen, das "Opfer" sollte dagegen beim kleinsten Anzeichen einer Überwachung auf uneigennütziges Verhalten umschalten – möglichst ohne dass das Gegenüber dies bemerkt. Realisiert der Beobachter wiederum seine Enttarnung, muss er das Verhalten des Anderen neu bewerten und darf sich nicht der Illusion der gespielten Freundlichkeit hingeben. Damit erscheint uneigennütziges Verhalten in einem gänzlich neuen Licht: Es könnte sich nichts weiter als eine List dahinter verbergen, um gezielt ein positives Bild von sich zu entwerfen.
Doch auch eine ganz andere Strategie lässt sich aus diesem Wettkampf ableiten: Wer seinen Sozialpartnern ständig das Gefühl der Überwachung gibt, zwingt sie zu freundlichem Verhalten. Genau diesen Effekt vermuten Milinski und Rockenbach hinter den Totempfählen der nordamerikanischen Ureinwohner. Die strengen Blicke der Natur- und Ahnengeister – Wesen mit riesigen menschlichen Augen – sollten die Stammesmitglieder zu uneigennützigem Handeln bewegen.
Und auch in der Bibel heißt es über den christlichen Gott: "Und kein Geschöpf ist vor ihm verborgen, sondern es ist alles bloß und aufgedeckt vor den Augen Gottes, dem wir Rechenschaft geben müssen."
Warum geben Menschen mehr Geld beim Anblick des Augenpaares? Weil aus dem Betrachter automatisch ein Beobachteter wird, vermuten Manfred Milinski und Bettina Rockenbach. Die beiden Wissenschaftler vom Max-Planck-Institut für Evolutionsbiologie in Plön haben unterschiedliche Quellen gesichtet, um Ursachen und Folgen sozialer Überwachung zu analysieren.
In dem Trick mit der sehenden Sparbüchse verbirgt sich ihrer Meinung nach eine universelle Verhaltenstendenz: Sobald eine Person das Gefühl hat, beobachtet zu werden, spielt sie den freundlichen Menschen – in der Hoffnung, beim nächsten Mal auch selbst gut behandelt zu werden.
Dieses Verhalten kennen Forscher auch aus dem Tierreich: So verdienen die im tropischen Indopazifik lebenden Putzerlippfische (Labroides dimidiatus) ihren Lebensunterhalt als mobiler Reinigungsdienst, indem sie andere Fische von Parasiten und abgestorbenen Hautzellen befreien. Diesen Eindruck vermitteln sie zumindest, wenn weitere potenzielle Klienten sie bei ihrem Geschäft beobachten. Agieren sie hingegen ohne Publikum, werden auch gerne ganze Fleischstückchen aus dem Gegenüber herausgerissen.
Ähnlich wägen auch Menschen ab, wie ein spieltheoretisches Experiment offenbarte: Ein Spieler durfte hierbei als Diktator frei über die Verteilung einer Geldsumme entscheiden. Konnte sein Mitspieler ihn sehen, teilte er fünfzig zu fünfzig – war das Spiel anonym, behielt er alles für sich.
Der Beobachtete ändert demnach sein Verhalten, sobald er die Überwachung registriert. Um ein unverstelltes Bild des Anderen zu bekommen, sollte der Beobachter daher alles daran setzen, möglichst nicht entdeckt zu werden. Aus diesem Grund liegen die Augen zahlreicher Vogelarten auf dunklen Gefiederstreifen – durch das Muster entgeht den Artgenossen, dass sie fixiert werden.
Der Mensch ist hier ehrlicher: In seinen Augen umgibt die auffällige weiße Lederhaut die dunklere Iris. Dieser klare Blick erwies sich vermutlich bei den intensiven menschlichen Sozialgeflechten, die oft direkten Augenkontakt erfordern, als vorteilhafter gegenüber der kryptischen Variante.
So entsteht nach Ansicht von Milinski und Rockenbach ein Wettrüsten zwischen Beobachter und Beobachtetem: Ersterer muss möglichst unauffällig vorgehen, um ehrliche Informationen zu bekommen, das "Opfer" sollte dagegen beim kleinsten Anzeichen einer Überwachung auf uneigennütziges Verhalten umschalten – möglichst ohne dass das Gegenüber dies bemerkt. Realisiert der Beobachter wiederum seine Enttarnung, muss er das Verhalten des Anderen neu bewerten und darf sich nicht der Illusion der gespielten Freundlichkeit hingeben. Damit erscheint uneigennütziges Verhalten in einem gänzlich neuen Licht: Es könnte sich nichts weiter als eine List dahinter verbergen, um gezielt ein positives Bild von sich zu entwerfen.
Doch auch eine ganz andere Strategie lässt sich aus diesem Wettkampf ableiten: Wer seinen Sozialpartnern ständig das Gefühl der Überwachung gibt, zwingt sie zu freundlichem Verhalten. Genau diesen Effekt vermuten Milinski und Rockenbach hinter den Totempfählen der nordamerikanischen Ureinwohner. Die strengen Blicke der Natur- und Ahnengeister – Wesen mit riesigen menschlichen Augen – sollten die Stammesmitglieder zu uneigennützigem Handeln bewegen.
Und auch in der Bibel heißt es über den christlichen Gott: "Und kein Geschöpf ist vor ihm verborgen, sondern es ist alles bloß und aufgedeckt vor den Augen Gottes, dem wir Rechenschaft geben müssen."
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