News: Die Basis des Gewissens
Er stützt seine Behauptung auf eine Studie, in der die Wissenschaftler mit Hilfe der Positronenemissionstomographie (PET) die Gehirne von 38 Männern und Frauen untersuchten, die des Mordes angeklagt waren. Einige der Testpersonen hatten aufgrund von Unzurechnungsfähigkeit auf nicht schuldig plädiert, während der Rest als verhandlungsunfähig eingestuft wurde.
Die Forscher überprüften die Kind- und Jugendzeiten der Personen. Dazu durchkämmten sie Gerichtsunterlagen, Interviews mit Anwälten, medizinische und psychologische Unterlagen sowie Zeitungsartikel nach Beweisen für körperlichen oder sexuellen Mißbrauch, Vernachlässigung, extreme Armut, Unterbringung in Pflegeheimen, schwere Familienkonflikte, zerrüttete Familienverhältnisse oder einen Elternteil mit krimineller Vergangenheit – allesamt Umwelteinflüsse, die im allgemeinen mit einem Hang zur Gewalt in Zusammenhang gebracht werden. Dann ordneten sie die individuelle Erfahrung, die sie ermittelt hatten, auf einer Skala von 0 bis 4 ein, wobei 0 keine Probleme bedeutet, 1 minimalen, 2 teilweisen, 3 beträchtlichen und 4 extremen Mißbrauch. Es stellte sich heraus, daß von den 38 Mördern nur zwölf erheblichen psychosozialen Mißbrauch und Entbehrung erlitten hatten (Bewertungen 2 bis 4). Die restlichen 26 hatten minimale oder überhaupt keine negative Erfahrungen erfahren (Bewertungen 0 – 1).
Mit PET-Untersuchungen wurde die Aufnahme von Glucose in verschiedenen Bereichen des Gehirns gemessen, während die Probanden einfache, sich wiederholende Aufgaben durchführten. Im Vergleich zu den Testpersonen aus zerrütteten Familienverhältnissen zeigten die 26 Probanden aus intakten Familienverhältnissen im Durchschnitt 5,7 Prozent weniger Aktivität im medialen präfrontalen Cortex. Noch deutlicher war der Unterschied in einem speziellen Teil des medialen präfrontalen Cortex: dem orbifrontalen Cortex auf der rechten Hemisphäre – er zeigte 14,2 Prozent weniger Aktivität. "Die Eltern gewalttätiger Kinder fragen sich: 'Was haben wir falsch gemacht?'" sagt Raine. "Kommen die Kinder aus einem intakten Heim, könnte die Antwort lauten: Überhaupt nichts. Ein biologischer Fehler könnte daran schuld sein."
In Tierversuchen wurde gezeigt, daß der direkt hinter der Stirn liegende präfrontale Cortex an der Hemmung der Funktionen des limbischen Systems beteiligt ist, eines weit tiefer im Gehirn liegenden Bereiches, der aggressives Verhalten verursacht. Ebenfalls an Tiermodellen wurde nachgewiesen, daß der rechte frontale Cortex bei der Angst-Konditionierung eine Rolle spielt. Darunter ist der Vorgang zu verstehen, wenn eine unterbewußte Assoziation zwischen unsozialem Verhalten und Bestrafung aufgebaut wird. Bei Menschen ist die Angst-Konditionierung möglicherweise der Schlüssel zur Entwicklung eines Gewissens.
"Warum greift nicht jeder Mensch andere Menschen an oder verhält sich gewalttätig?" fragt Raine. "Ein Grund ist, daß die meisten von uns eine starke Angst-Konditionierung besitzen. Wir wurden als Kinder für kleinere Vergehen, wie Stehlen oder Freunde verhauen, bestraft. Auf diese Weise haben wir die Verbindung zwischen unsozialem Verhalten und Bestrafung erlernt, und uns beschleicht deshalb ein Gefühl der Angst, wenn wir einen unsozialen Akt auch nur in Erwägung ziehen."
"Aber nicht jeder kann diese konditionierten Reaktionen mit der gleichen Leichtigkeit übernehmen", sagt er. "Während manche Menschen ein biologisches System haben, das es ihnen leicht macht, besitzen andere eines, welches die Aufgabe erschwert. Wenn Ihr rechter Cortex nicht richtig funktioniert, dann sind Sie biologisch benachteiligt bei der Ausbildung eines Gewissens."
Nach Aussage von Raine wirft diese Studie neues Licht auf ein altes Rätsel: Die Frage, wieso einige Kriminelle ganz eindeutig ein Produkt ihrer sozialen Herkunft sind, während andere ihrer anscheinend guten Erziehung zu trotzen scheinen.
Frühere Forschungsarbeiten haben bei Personen mit geringerer Aktivität in einigen Hirnbereichen, die durch Schäden bei der Geburt hervorgerufen wurden, eine erhöhte Neigung zu aggressivem Verhalten nachgewiesen. Allerdings gibt es keine Berichte, daß auch die Regionen des Cortex bei der Entbindung geschädigt werden können, die in der PET-Studie Unterschiede zeigten. Defizite sowohl im rechten als auch im linken präfrontalen Cortex wurden in der Vergangenheit auf Kopfverletzungen zurückgeführt. Die Mörder aus den intakten Familien wiesen allerdings nicht mehr Kopfverletzungen auf als die Mörder aus zerrütteten Verhältnissen. Nach Ansicht von Raine deutet dies darauf hin, daß Menschen mit dieser Art von Gehirnstörung geboren werden. Die Unterschiede in der Gehirnaktivität schienen auch nicht mit dem Alter, Geschlecht, ethnischer Herkunft, Schizophrenie oder allgemeinen Gehirnstörungen zu tun zu haben.
Die Ergebnisse sind konsistent mit einer englischen Studie aus dem Jahre 1981, in welcher die Angst-Konditionierung mit unsozialem Verhalten in Verbindung gebracht wurde, aber nur bei Individuen aus offensichtlich intakten Familien. Raine bestätigte diese Ergebnisse 1997 in einer Erhebung mit 1 795 Kleinkindern, die auf Mauritius leben.
Angesichts der homogenen Gruppe von Probanden in seiner aktuellen Studie können die Ergebnisse nicht für andere gewalttätige Bevölkerungsgruppen verallgemeinert werden, sagt Raine. Aus demselben Grund kann eine Messung der Aktivität im Cortex nicht als Test genutzt werden, um festzustellen, ob jemand ein potentieller Mörder ist. Die Resultate tragen jedoch dazu bei, die doppelte Rolle von Natur und Erziehung bei der Prädisposition eines Individuums für ein Verbrechen zu konkretisieren. In früheren Forschungsarbeiten entdeckte Raine, daß für Personen, die sowohl an Komplikationen bei der Geburt als auch unter Ablehnung durch die Mutter zu leiden hatten, mit einer doppelt so großen Wahrscheinlichkeit kriminell werden wie Menschen, die nur einem dieser Risikofaktoren ausgesetzt waren.
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