Hydrologie: Die Bio-Regenmacher
Die Warnung war unmissverständlich: Der "Brotkorb der Welt" sei gefährdet, weil die "schwebenden Flüsse" Südamerikas austrocknen könnten, mahnte der brasilianische Wissenschaftler Antonio Nobre von der nationalen Weltraumbehörde INPE vor zwei Jahren im Gespräch mit der Nachrichtenagentur Inter Press Service. Der Grund: Die zunehmende Abholzung des brasilianischen Regenwaldes zerstöre auch den regionalen Wasserkreislauf und das Recycling der Regenfälle, welches das begehrte Nass auch in die zentralen Gegenden des Kontinents schaufelt. Ohne diese Wiederaufbereitung der Niederschläge wären diese Gebiete von häufigeren Dürren bedroht – und damit die Ernteerträge einer der wichtigsten Agrarzonen der Welt. Soja, Zucker, Getreide und Fleisch aus Südamerika ernährt Millionen Menschen rund um den Globus.
Obwohl dieser hydrologische Zyklus also von immenser Bedeutung für das Ökosystem Amazonien und die Welternährung ist, klafften bislang immer noch immense Lücken in seinem Verständnis: Schafft sich der Regenwald tatsächlich selbst einen Teil seiner Niederschläge? Warum regnet es noch tausende Kilometer entfernt vom Atlantik teilweise heftiger als in Küstennähe, obwohl doch die Wasserdampffracht so weit im Landesinneren aufgebraucht sein sollte? Und wie wirkt sich die Zerstückelung des Waldes auf die Regenmengen aus?
"Zwischen 25 bis 56 Prozent seines Regens erzeugt der Regenwald tatsächlich selbst, indem er vorherige Niederschläge recycelt", bestätigt der Geowissenschaftler Luiz Aragão von der University of Exeter, der sich intensiv mit Stoffflüssen in Amazonien beschäftigt. Ein Teil des Wassers verdampft schlicht nach Regen von Blattoberflächen oder Ästen, der größte Teil wird jedoch aktiv über die so genannte Evapotranspiration von den Gewächsen freigesetzt: Sie pumpen das Wasser aus dem Boden in den Kronenraum, wo es über die Spaltöffnungen verdunstet. Ein Urwaldriese kann derart bis zu 300 Liter Wasser pro Tag an die Atmosphäre abgeben, und ganz Amazonien produziert hochgerechnet jeden Tag etwa 20 Milliarden Tonnen Wasserdampf.
Wie wichtig dieser Prozess ist, belegt eine aktuelle Studie von Dominick Spracklen von der University of Leeds und seinen Kollegen: "Luftmassen, die über dichten Wald ziehen, bringen doppelt so viel Niederschlag mit wie Luft, die über großflächig gerodete Gebiete streift", schreiben sie in Nature [1]. Und dieser Effekt ist noch weit entfernt von den eigentlichen Regenwaldgebieten zu spüren. Nobres schätzt, dass beispielsweise in Brasilia ein Drittel des Regens ursprünglich aus Amazonien stammt – obwohl die Landeshauptstadt über 1500 Kilometer südlich des zentralen Amazonasbeckens inmitten des Kontinents liegt. Spracklen und sein Team konnte mithilfe von Satellitenaufnahmen und Modellen der atmosphärischen Zirkulation nachweisen, dass der Regeneffekt sogar bis Paraguay und ins südliche Brasilien nachweisbar ist. Und für Afrika südlich des Kongobeckens gilt ebenfalls die positive Fernwirkung des Urwalds. "Die Lebensgrundlage unzähliger Menschen hängt von diesen Regenfällen ab", so Spracklen.
"Wo Wald ist, fällt auch Regen"
Damit beantworteten die Forscher wahrscheinlich eine lange offene Frage der Meteorologie. Denn obwohl der Prozess der Evapotranspiration schon lange bekannt ist, blieb bislang unklar, ob und wie viel Niederschläge ein Ökosystem selbst erzeugen kann – auch wenn laut Beobachtung vieler Waldbewohner weltweit anekdotisch gilt, dass "wo Wald ist, auch Regen fällt". Demgegenüber standen allerdings fundierte Wetterbeobachtungen, die einen ganz anderen Zusammenhang belegten: Demnach kam in Rodungsinseln sogar mehr Nass vom Himmel als in umgebenden intakten Baumbeständen.
Verantwortlich hierfür ist ein kleinräumiges Zirkulationsschema: Kahles Weideland heizt sich schneller auf als der benachbarte Regenwald, wo die Evapotranspiration kühlt. Dadurch beginnt die Konvektion über der offenen Stelle zeitiger und schreitet schneller voran, so dass sich hier früher Wolken bilden. Gleichzeitig saugt das entstehende Hitzetief die kühlere, feuchtere Luft aus dem Waldinneren heraus, weshalb dort zum Ausgleich Luft absinken muss – was die Wolkenbildung hemmt. Diese Verschiebung gilt allerdings nur lokal und löst sich auf, je mehr Wald vernichtet und zu blanken Agrarflächen umgewandelt wird. Sobald der Feuchtigkeitsnachschub aus dem natürlichen Ökosystem nachlässt, gingen auch die Gesamtniederschläge zurück, weil die Luft immer wenig Nachschub aus dem Wasserrecycling erhält, konstatiert Aragão.
Rund 60 Prozent der gesamten tropischen Landmasse profitiere von diesen Regenfällen, kalkulieren Spracklen und Co anhand ihrer Satellitendaten – und liefern damit zugleich weitere Belege für die These, dass ursprüngliche Wälder eine Art biologische Pumpe sind, die die globale Zirkulation mit antreiben. Vertreten wird diese Ansicht neben Nobre vor allem von den beiden russischen Wissenschaftlern Victor Gorshkov und Anastassia Makarieva vom Institut für Nuklearphysik in Sankt Petersburg, die 2005 erstmals diese Idee postulierten.
Wenn das von der baumreichen Vegetation ausgedünstete Wasser kondensiert, schrumpft das Volumen der lokalen Luftmasse, der Druck sinkt, und es entsteht ein Tief, so die Theorie. Und da Wälder dank ihrer zahllosen Blätter mehr Wasserdampf freisetzen als die Ozeane, entsteht ein Druckgefälle vom Ozean zum Land, das beständig Nachschub an Feuchtigkeit herankarrt. Nur dadurch ließe sich erklären, dass es im Inneren des Kongos oder in Westamazonien genauso viel oder sogar noch mehr regnet als in Küstennähe, so die Forscher. In Südamerika strömt die mit Feuchtigkeit angereicherte Luft beispielsweise parallel zur Andenkette nach Süden ab und tränkt dadurch die zentralen Bereiche Südamerikas in Bolivien und Paraguay.
Die Rolle der Pilze
Wie wichtig dieser Effekt sein kann, zeigt sich zudem in der Sahelzone Westafrikas: Ursprünglich erhielt sie 90 Prozent ihrer Niederschläge aus dem Wasserrecycling, das im breiten Regenwaldgürtel an der Küste des Kontinents von Guinea bis Ghana stattfand. Die Vegetation bereitete dort den Regen immer wieder auf und leitete ihn so in das trockenere Landesinnere weiter. Mittlerweile ist die Pumpe jedoch erheblich ineffizienter, da die Urwälder größtenteils gerodet und durch Acker- oder Brachland ersetzt wurden. Auch das ist ein Grund, warum der Sahel in den letzten Jahrzehnten immer wieder mit Dürrekatastrophen traurig auf sich aufmerksam machte.
Dieser Biorhythmus funktioniert also nur über ursprünglichen Waldgebieten, Plantagen aus Ölpalmen, Kakaobäumen oder anderen forstähnlichen Systemen können ihn nicht ersetzen. Das liegt zum einen an ihrer deutlich einfacheren Struktur. Regenwälder bestehen dagegen aus mehreren Stockwerken und weisen dadurch ein wesentlich vielfältigeres und umfangreicheres Blätterdach auf als die monotonen Baumreihen in Plantagen. Und die tausenden Baumarten können unterschiedlich tiefe Wasservorräte im Boden anzapfen und so für einigermaßen konstanten Nachschub aus dem Untergrund sorgen. Insgesamt verdunsten sie also mehr Feuchtigkeit als die eintönigen Pflanzungsreihen.
Nach und nach kommen die Geoökologen zudem dahinter, welch wichtige Rolle die biochemischen Prozesse des Ökosystems für das herrschende Wetter spielen. Jüngst erst konnten Meinrat Andreae und Ulrich Pöschl vom Max-Planck-Institut für Chemie in Mainz zeigen [2], wie Pilze in diesen Wasserkreislauf eingreifen. Wenn sie ihre Sporen freisetzen, stoßen sie gleichzeitig Kaliumsalze aus, die in der Atmosphäre als Kondensationskeime wirken. An sie lagern sich zuerst pflanzliche Moleküle wie Terpene an, die wiederum von Bäumen und anderen Pflanzen ausgestoßen werden. Schließlich kondensiert Wasserdampf an den entstehenden Kügelchen, die zu immer größere Tröpfchen heranwachsen, bis sie schließlich als Regen wieder zur Erde prasseln
Die vorher kaum beachteten Pilze scheinen zudem eine Schlüsselrolle inne zu haben, was sich den Forschern offenbarte, als sie die von ihnen aus der Atmosphäre herausgefilterten Partikel im Detail untersuchten: Von 77 Teilchen enthielten nur drei kein Kalium. Die Gewächse nehmen also direkten Einfluss auf die Anzahl und die Eigenschaften von Aerosolpartikeln in der Luft und somit auf die Bildung und Zusammensetzung von Nebel, Wolken und Niederschlag im Regenwald. Umgekehrt behindern die bei Brandrodungen entstehenden Aerosole wie Ruß oder Sulfatpartikel die Wolkenbildung und verringern damit die Menge an Niederschlägen. In trockenen Jahren verschärft dieser Prozess Dürren, wie sie Amazonien 2005 und 2010 heimgesucht hatten.
Beginnt die Pumpe zu stottern?
Ohnehin bereitet die Rodungstätigkeit Spracklen wie Nobre und anderen Kollegen Sorgen. Denn der Mechanismus gerät außer Takt, wenn der Wald durch offenes Weideland oder Felder ersetzt wird. Bereits heute hat sich der Wasserdampfferntransport auf den Kontinenten um mindestens fünf Prozent reduziert, weil große Regenwälder abgeholzt wurden, schätzten Line Gordon von der Universität Stockholm und seine Kollegen vor wenigen Jahren [3]. Austrocknungstendenzen im Zentrum und Süden Brasiliens führt Nobre bereits auf die Entwaldung in den Bundesstaaten Mato Grosso und Para zurück.
So exakt festlegen will sich Spracklens Team zwar noch nicht, aber einen Blick in die Zukunft wagen sie dennoch: Bis zu vierzig Prozent Amazoniens könnten bis 2050 gerodet worden sein, doppelt so viel Fläche wie heute. Tritt dieses Szenario ein, so könnten nach ihren Berechnungen die Niederschlagsmengen im südlichen Amazonien um mehr als ein Zehntel während der saisonalen Regen- und um ein Fünftel während der Trockenzeit sinken. Selbst im Einzugsgebiet des entfernt gelegenen Rio de la Plata in Argentinien wäre der Rückgang noch spürbar – mit allen Konsequenzen für die verbliebenen natürlichen Ökosysteme und die vom Regen abhängige Landwirtschaft. "Die Politiker sollten ernsthaft die Folgen der Entwaldung betrachten", warnt Dominick Spracklen: "Die Folgen sind nicht nur lokal spürbar, sondern in globalem Ausmaß." Vor allem wenn es einen der Brotkörbe der Welt betrifft.
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