Teilchenphysik: Die bisher präziseste Vermessung des Higgs-Teilchens
Das Higgs-Boson ist noch immer ein recht rätselhaftes Teilchen: Es entspringt einem Quantenfeld, das vom gesamten Universum ausgeht und anderen Elementarteilchen ihre Masse verleiht. Während die Massen der anderen Teilchen im Standardmodell der Teilchenphysik aus theoretischen Überlegungen abgeleitet werden können, muss die Masse des Higgs jedoch experimentell bestimmt werden. Eine möglichst genaue Messung ist für das Verständnis anderer Teilchenwechselwirkungen von großer Bedeutung. Nun hat ein internationales Forschungsteam die Masse des Higgs-Teilchens so präzise bestimmt wie nie zuvor. Die Ergebnisse wurden im Fachmagazin »Physical Review Letters« publiziert.
Die Messungen stammen aus einem Zeitraum von insgesamt vier Jahren und wurden bereits im Juli 2023 erstmals vermeldet – damals noch ohne unabhängige Begutachtung. Während des Messzeitraums sind mit dem Large Hadron Collider (LHC) am Europäischen Kernforschungszentrum CERN bei Genf, dem größten und leistungsstärksten Teilchenbeschleuniger der Welt, rund neun Millionen Higgs-Bosonen erzeugt worden. Davon kann jedoch stets nur ein sehr kleiner Teil experimentell beobachtet und erfasst werden, da ein Higgs-Boson nur für einen winzigen Sekundenbruchteil existiert, bevor es in leichtere Teilchen zerfällt. Es lässt sich also nur indirekt über seine Zerfallsprodukte nachweisen und vermessen.
Die Forscher kombinierten deren Spuren im Detektor des ATLAS-Experiments mit noch genaueren Kalibrierungen als zuvor und ermittelten so eine Higgs-Masse von 125,11 Gigaelektronvolt (GeV) mit einer Unsicherheit von 0,11 GeV. Bei der zurückliegenden Messung im Jahr 2019 war man noch von 125,35 GeV ausgegangen. Damit ist das Teilchen erstaunlich schwer – es wiegt etwa so viel wie zwei Eisenatome. Zum Vergleich: Ein Elektron bringt gerade einmal 511 Kiloelektronvolt auf die Waage. Das Ergebnis sei »die derzeit genaueste Messung der Masse des Higgs-Bosons und erreicht eine Genauigkeit von 0,09 Prozent«, schreiben die Physikerinnen und Physiker in ihrem Forschungsartikel. Das bedeutet, dass der wahre Wert um maximal 0,09 Prozent vom derzeitigen Messwert abweicht. Die systematische Unsicherheit der Messung sei um einen Faktor von etwa drei reduziert worden.
Präzisere Messungen helfen den Forschern, die Vorhersagen des Standardmodells der Teilchenphysik zu überprüfen und mögliche Abweichungen aufzuspüren – falls es sie denn gibt. Das Standardmodell fasst alle wesentlichen Erkenntnisse nach heutigem Stand zusammen und beschreibt die uns bekannten Elementarteilchen und die wichtigen Wechselwirkungen zwischen ihnen. Doch obwohl es immer wieder experimentell bestätigt wird, hoffen Physiker stets darauf, Abweichungen zu entdecken, um offenen Fragen auf die Spur zu kommen. Erst im Jahr 2022 hat die präziseste Messung der Masse des W-Bosons, die jemals durchgeführt wurde, einige mögliche Risse im Standardmodell aufgedeckt. Sie wich um sieben Standardabweichungen von der Vorhersage des Modells ab, ein Ergebnis, das niemand erwartet hatte. Allerdings bedeutet präzise nicht zwangsläufig genau; es könnte immer sein, dass die Messungen falsch sind, nicht die Theorie.
Tor zum Verständnis der Dunklen Materie?
Doch trotz dieser neuen, präzisen Messungen der Masse des Higgs-Bosons sind viele seiner Eigenschaften nicht einmal annähernd bekannt und aufgeklärt. Zum einen tritt das Higgs-Boson nicht immer mit der gleichen Masse auf, sondern hat eine Bandbreite vieler Massen, die Physiker als seine »Breite« bezeichnen. Zuletzt hatten Wissenschaftler die Schätzung dieser Kennzahl deutlich verfeinert. Sie hoffen damit der Beantwortung einiger Fragen über das rätselhafte Teilchen näher zu kommen, darunter: Wechselwirkt das Higgs-Boson tatsächlich mit sich selbst, wie das Standardmodell es vorhersagt? Und wie koppelt es an andere Teilchen? Außerdem ist bislang unklar, ob es womöglich verschiedene Versionen des Higgs-Teilchens gibt, die wir einfach noch nicht entdeckt haben.
Möglicherweise könnte das Higgs auch ein Tor zum Verständnis der Dunklen Materie sein, jenes geheimnisvollen Stoffs, der das Universum ausfüllt, den aber noch niemand gesehen hat. Manche Theorien sagen voraus, dass Dunkle Materie mit normaler Materie durch den Austausch von Higgs-Bosonen wechselwirkt. Wenn dies der Fall ist, könnte eine Kollision, bei der Higgs-Teilchen entstehen, auch Teilchen der Dunklen Materie erzeugen. Bisher fehlen aber entsprechende Hinweise in den Daten. Zwischen 2018 und 2022 wurde der LHC aufgerüstet, um die Energie und die Intensität der Teilchenkollisionen zu erhöhen. Und in der näheren Zukunft sind weitere Upgrades geplant. Vielleicht ist das Higgs-Teilchen dann schon bald nicht mehr ganz so rätselhaft wie jetzt.
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