Positive Psychologie: »Die Chancen stehen gut, dass wir im Alter zufriedener werden«
Spektrum.de: Herr Professor Esch, gemeinsam mit Eckart von Hirschhausen haben sie das Buch »Die bessere Hälfte« geschrieben. Der Titel bezieht sich nicht etwa auf eventuelle Lebenspartner, sondern auf die späteren Jahre unseres Lebens. Warum altern wir überhaupt?
Tobias Esch: Wir altern, weil der Prozess der Biologie ein Werden und Vergehen beinhaltet. Zum einen ist es ganz pragmatisch so, dass die einen Platz machen müssen für die anderen. Und zum anderen steckt in genau diesem Wandel der Lernprozess, die Reifung, die Entwicklung des Einzelnen, aber auch von uns allen. Ich lerne etwas, integriere, ziehe Konsequenzen, konserviere das Wissen und gebe es weiter. Doch der Wandel hat einen Preis, nämlich Abnutzung. Im Klartext heißt das Allostase – Zellalterung, verkürzte Telomere, Fehler, die sich bei der Zellteilung einschleichen und sich irgendwann nicht mehr ausreichend ausräumen lassen. Irgendwann lässt die Fortpflanzungs- und Weitergabefähigkeit nach, und es ergibt biologisch keinen Sinn mehr, mich noch zu erhalten. Ich habe meinen Job erledigt. Letztlich kann man also sagen: Altern ist der Preis für den Reifungsprozess, den wir unbedingt brauchen, um uns gesellschaftlich und kulturell weiterzuentwickeln.
Altern ist aber nicht nur ein unabwendbares biologisches Schicksal, sondern, wenn man Ihrem Buch Glauben schenkt, auch eine Verheißung, die Hoffnung, dass es zum Ende hin noch einmal besser wird …
Als Arzt und als jemand, der seit vielen Jahren über Glück, Stress und Stressbewältigung forscht, sehe ich in unserer Gesellschaft immer mehr Leute, die das Gefühl haben, nicht mehr hinterherzukommen. Und Fakt ist, dass immer mehr Menschen mit stressassoziierten Symptomen und Burnout aus der Bahn geworfen werden. Das hat nicht nur enorme volkswirtschaftliche Konsequenzen. Als Arzt sieht man Menschen, denen es nicht gut geht, die sich in einer Abwärtsspirale befinden und irgendwann unten aufschlagen. Und wenn man da unten ist, denkt man: Das ist das Ende! Man stellt alles in Frage, die Beziehung, die Familie, die Gesellschaft, die Sinnhaftigkeit, steckt in einem Tal der Tränen und weiß nicht – und das ist es, was mich am Thema Altern so fasziniert –, dass es mit der Zeit, quasi von allein, wieder besser wird.
Aber wie hängt die Tatsache, dass es wieder besser wird, mit dem Altern zusammen?
Erstens: Es ergeht sehr vielen Menschen so. Kein Zufall! Wir sehen statistisch eine U-Kurve der Lebenszufriedenheit. Demnach ist es »normal«, in der Lebensphase zwischen 30 und 59 in einem Tal zu stecken. Und das Zweite ist, wenn es denn nur gelingt, nicht völlig aus der Bahn zu geraten, sondern den Kopf noch über Wasser zu halten, wird es mit großer Wahrscheinlichkeit wieder besser, und sogar noch besser, als es zuvor war. Das gilt nicht für jeden Einzelnen – das zu behaupten wäre zynisch. Doch statistisch gesehen stehen die Chancen gut.
Mit welchen Methoden lässt sich das wissenschaftlich untermauern?
In der Medizin wird klassischerweise induktiv gearbeitet. Das heißt, wir betrachten Patienten und Kollektive, erheben epidemiologische Daten, erkennen Muster. Daraus schließen wir etwas, machen detaillierte Untersuchungen und Ableitungen, bis hin zur Zellbiologie und Biochemie, und entwickeln schließlich Modelle, als Abbildungen der Realität, basierend auf Empirie. Wir sind mit unserer Arbeitsgruppe in New York aber den umgekehrten Weg gegangen, den deduktiven. Wir forschten damals am endogenen Belohnungssystem und entwickelten ein Modell, mit dem wir drei theoretische Phasen des Glücks beschreiben konnten – abgeleitet aus Hirnforschung und Neurobiologie.
Demnach gibt es das Glück des Wollens, gerade in jüngeren Jahren, wo wir lernen und Appetit haben, risikobereit und begeisterungsfähig sind, aber auch kreativ – und manchmal vorlaut. Das Gehirn ist plastisch, aufnahmebereit und formbar, wie ein Schwamm. Probleme lösen, Begierde und Lust haben, auch auf Abenteuer, Vorfreude empfinden und das Bewältigen von Herausforderungen werden belohnt. Es geht vor allem um Wachstum und Autonomie. Dopamin ist hier ein wichtiger Botenstoff, und gerade das Vorderhirn steht in dieser Phase massiv unter seinem Einfluss. Demgegenüber steht die mittlere Lebensphase eher für das Absichern und Verteidigen des bis dahin Erreichten – das Entkommen beziehungsweise Vermeiden, im Gegensatz zum Appetit der vorherigen Epoche, stehen im Zentrum. Wir haben bis dahin eine Menge Lebenszeit investiert und viel gelernt, nun wollen wir den Bestand sichern, wir haben etwas zu verlieren. Überleben und Entkommen werden nun belohnt: In unserem Belohnungssystem schalten wir vermehrt in den Alarm-, Flucht- und Absicherungsmodus. Das Empfinden von Erleichterung wäre die »glückliche« Folge, also das gute Gefühl, wenn Gefahr und Stress eine Pause einlegen. Und dann gibt es schließlich noch, als letzte der drei Arten des Glücks, die Freude oder Glückseligkeit, eine Art inneren Frieden, der sich dann einstellt, wenn wir ankommen, wenn wir weder etwas zwingend haben wollen noch entkommen und wegrennen müssen. Wenn wir ernten, was wir zuvor im Leben gesät haben, das Schiff bildlich vor Anker geht oder wir in unseren sicheren Hafen einlaufen. Nicht Vermeidung, Überleben, Vergnügen oder Annäherung stehen im Vordergrund, sondern eine Art inneres Lächeln oder auch tiefe Verbundenheit, generell ein Zur-Ruhe-Kommen. Wir nennen diese Phase, die häufiger im Alter anzutreffen ist, auch Affiliations- oder die »Da-Seins-Phase«. Hier spielen vor allem Botenstoffe der Fürsorge, Verbundenheit und Beruhigung sowie des physiologischen »Herunterfahrens« eine Rolle.
Unser Modell legte nun nahe, dass es eine Art inneren Reifungsprozess zwischen den verschiedenen Formen des Glücks über die Lebenszeit hinweg geben müsste. Das haben wir auch aus den biochemischen Mustern der Botenstoffe, ihrer Bildungs- und Abbauwege und der beteiligten Rezeptoren geschlossen. Ich hätte mir aber ehrlich gesagt nicht träumen lassen, dass wir später dann anhand sehr großer Datensätze tatsächlich erkennen konnten, dass das Modell real ist: Es gibt eine Veränderung des Glücks über die Lebenszeit, von den Hochmomenten der Jugend, der Lust, in Richtung Zufriedenheit im höheren Lebensalter. Und dazwischen liegt die Phase des Stresses und der Erleichterung, wenn Stress und Schmerz nachlassen.
Und dieser Wandel des Glücks lässt sich auf neurobiologischer Ebene nachvollziehen?
Im Belohnungssystem im Gehirn sind verschiedene Formen von Glück wie Lust, Erleichterung und Zufriedenheit verankert. Daran sind verschiedene Neurotransmitter beteiligt, etwa Dopamin, Stresshormone wie Adrenalin oder Kortisol, Opioide, endogene Opiate, Serotonin, Oxytozin und Azetylcholin, die im Lauf der Evolution zu unterschiedlichen Zeitpunkten auftauchten und teilweise auch auseinander gebildet werden können. Wir haben zum Beispiel mit unserer New Yorker Arbeitsgruppe im Labor beschrieben, wie Morphium aus Dopamin entsteht. Das hat uns auf den Gedanken gebracht, dass zwischen der Vorfreude, also Dopamin, und der Herunterregulierung und Zufriedenheit, sprich endogenem Morphium, nicht nur ein chemischer, sondern auch ein neurobiologischer Zusammenhang bestehen könnte: Aus Vorfreude wird mit der Zeit Zufriedenheit. Je mehr von dem einen am Anfang vorhanden ist, desto mehr gibt es letztlich auch von dem anderen. Und dazwischen vermitteln stressabhängige beziehungsweise stresshormonbildende Enzymsysteme den Switch.
Sie sagen auch, dass sich diese Entwicklung bei Menschen möglicherweise beschleunigen kann, wenn sie schwere Schicksalsschläge durchmachen müssen. Wie funktioniert das?
Man findet dieses Phänomen in der Literatur zum Beispiel unter dem Begriff »posttraumatic growth«, oder auf Deutsch »posttraumatisches Wachstum«. Lange hatten wir jedoch kein Modell, um zu erklären, warum das so ist. Wir haben uns der Frage wieder aus Richtung der Grundlagenforschung genähert: Wie beschrieben, gibt es offenbar die verschiedenen Stufen des Glücks und die Abfolge von Botenstoffen, auf denen die verschiedenen Arten und Phasen basieren. Möglicherweise steht dahinter eben eine nüchterne biologische, gar biochemische Logik, weil ja ein Zustand gewissermaßen aus dem anderen hervorgeht. Dann macht es aber Sinn, dass diese einzelnen Phasen von Glück und Zufriedenheit normalerweise hintereinander ablaufen: In der Jugend soll ich nicht zufrieden sein und mit einem inneren Lächeln zu Hause sitzen, da soll ich voller Lust rausgehen, Lösungen finden, plastisch sein und mich anpassen. Dagegen soll ich im Alter, wenn ich zufrieden und eher angekommen bin, nicht alles in Frage stellen und von vorne anfangen. Ich soll das erlangte Wissen konservieren und weitergeben. Daher ist es wichtig, dass sich die einzelnen Phasen gegenseitig hemmen und durch Feedback-Schleifen regulieren. Solche Schleifen konnten wir zum Teil auch auf enzymatischer Ebene für die einzelnen Botenstoffe nachweisen, die daran beteiligt sind.
»Es ist normal, in der Lebensphase zwischen 30 und 59 in einem Tal zu stecken«
Und ein Schicksalsschlag durchbricht dieses Schema?
Genau – das könnte sein! Wenn mein Leben anders als »normal« verläuft, weil mir etwa nach einem Unfall Gliedmaßen abgenommen werden mussten oder ich im Rollstuhl sitze, dann macht es keinen Sinn mehr, diese eher lineare Abfolge der drei Glücksphasen aufrechtzuerhalten. Unserer Theorie zufolge wird bei Menschen mit schweren Schicksalsschlägen die beschriebene Hemmung möglicherweise aufgehoben, und die Phasen schnurren sozusagen zusammen, laufen früher oder schneller ab als normalerweise vorgesehen. Und tatsächlich finden wir Jugendliche, die zum Beispiel schwer erkrankt sind und innerhalb kürzester Zeit etwa vom verspielten Jungen zum Tröster ihrer Eltern werden. Zudem haben wir Personen mit Querschnittslähmung nach Unfällen befragt. Die Daten dieser Untersuchung werten wir noch aus, man kann allerdings vorab schon sagen, dass diese Menschen sehr häufig Frieden mit ihrem Schicksal schließen und sogar etwas Positives darin sehen können. Ein prominentes Beispiel ist aktuell die Olympionikin Kristina Vogel, die seit Juni 2018 gelähmt im Rollstuhl sitzt. Sie sagt zwar, dass sie manchmal den ganzen Tag heulen könne, verständlicherweise aber auch: »Zum ersten Mal in meinem Leben muss ich nichts mehr, es ist niemand hinter mir, der mich treibt.« Sie sei zum ersten Mal in ihrem Leben frei, und diese Situation wolle sie genießen.
Was können wir aktiv tun, um zu einer zufriedeneren zweiten Hälfte zu kommen?
Da gibt es eine Reihe von Möglichkeiten. Die erste ist zum Beispiel das Älterwerden an sich. Es klingt zwar paradox, aber einer der sichersten Vorhersagefaktoren für mehr Zufriedenheit ist zunehmendes Alter. Dafür muss man Geduld haben und darauf vertrauen, dass es besser wird. Und darauf achten, dass man überhaupt alt wird. Der zweite Aspekt ist Bewegung, und zwar nicht nur geistige, sondern auch körperliche, unabhängig davon, wie eingeschränkt man ist, im Rahmen des Möglichen. Sie ist besonders wichtig, um die Zufriedenheitskurve positiv zu beeinflussen. Außerdem brauchen wir Beziehungen, müssen vernetzt sein im sozialen Raum, in der Familie, innerhalb unserer eigenen Generation sowie generationenübergreifend. Spiritualität kann unserem Leben einen Sinn geben, aber auch zahlreiche weitere Faktoren sind wichtig, etwa Erlebnisse in der Natur, Achtsamkeit im Sinne von Genuss, Entspannung, innere Einkehr.
Wenn wir nach 25 Jahren zum Klassentreffen gehen, wirken manche unserer früheren Kameraden noch recht jugendlich, während andere deutlich gealtert sind. Kommen hier die eben genannten Faktoren ins Spiel?
Wie schnell wir altern, hat auf jeden Fall auch genetische Gründe. Je nachdem, welchen Wissenschaftler man zitiert, sind sowohl rund 50 Prozent unseres Alterungsprozesses als auch unserer Lebenszufriedenheit in den Genen festgelegt. Das wäre die vorprogrammierte Werkseinstellung. Trotzdem findet man innerhalb von Familien – und sogar bei Zwillingen – Unterschiede, und das ist dann genau der Teil, der mit der individuellen Biografie zu tun hat. Also zum Beispiel mit den oben genannten Dingen, aber auch mit der Ernährung, der Menge an Stress und Schlaf, UV-Licht und anderen Umweltfaktoren. Das Rauchen spielt für das Altern ebenfalls eine große Rolle.
Viele von uns äußern den Wunsch, in Würde zu altern, also bitte nicht pflegebedürftig und bettlägerig zu werden. Wie sehen Sie diesen Wunsch vor dem Hintergrund Ihrer Arbeit?
Der Wunsch, in Würde zu altern und damit selbstständig und selbstbestimmt zu sein, ist unter anderem geprägt von der Angst vor Abhängigkeit und Autonomieverlust. Wir haben die Vorstellung, körperlich oder geistig im Alter so eigeschränkt zu sein, dass wir auf andere angewiesen sind und etwa in unseren Grundbedürfnissen nach Hygiene oder Nahrung wieder auf das Niveau eines Säuglings reduziert werden. Aber wir entwickeln diese Angst zu einem Zeitpunkt, zu dem diese körperliche Unversehrtheit besonders wichtig für uns ist. Wir sehen in unseren Daten, dass Körperlichkeit bis zur Lebensmitte ein Haupttreiber von Glückserleben ist. Doch wenn wir diejenigen fragen, die nicht mehr richtig sehen oder hören können, die in ihrer Beweglichkeit eingeschränkt sind, dann sagen 80 Prozent der Betroffenen: »Passt, mir geht es gut.« Bei der Heidelberger Hundertjährigen-Studie waren 50 Prozent der Befragten dement – und trotzdem rund 80 Prozent der Teilnehmer, also zum Teil auch die Dementen, zufrieden. Offensichtlich emanzipieren sich ältere Menschen oftmals von dieser Reduktion der Würde auf den körperlichen Aspekt. Sie scheinen eine Art innere Freiheit zu entwickeln, etwas, was die Autonomie ersetzt, die allen, die noch nicht über 60 Jahre alt sind, so wichtig erscheint.
Was kann jeder Einzelne von uns daraus für sein Leben mitnehmen?
In meinen Augen ist es wichtig, das Bild vom Alter zu erweitern und auch die Schönheit im Älterwerden zu entdecken. Dass an die Stelle der glatten Haut, der gestählten Muskeln und des scharfen Verstands ein innerer Reichtum treten mag und bei vielen Menschen Dankbarkeit, eine gewisse Weisheit oder auch innerer Frieden vorherrschen. Und wenn man dieses Bild erweitern will, ist es wichtig, dass wir uns mit älteren Menschen umgeben, die diesen Geist versprühen. Denn letztlich wissen wir aus Studien nicht nur, dass das negative Bild vom Alter Stress erzeugt. Es beschleunigt auch das Altern selbst!
Die Fragen stellte Stefanie Reinberger.
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