Wiedervereinigung: Die deutsche Einheit, ein Vorbild für Korea?
Kim Jong-un stellt sich auf das Schlimmste ein. Das von ihm regierte Nordkorea soll eine neue Verfassung erhalten, die Südkorea klar und deutlich als »unumstößlichen Hauptfeind« bezeichnet. Als der Diktator aus Pjöngjang dies im Januar 2024 verkündete, ließ er außerdem verlautbaren: »Wir wollen keinen Krieg. Aber wir haben auch keine Absicht, ihn zu vermeiden.« Und wenn es zu Krieg komme, müssten seine Soldaten bereit sein, den Süden zu bezwingen. Wie die Seite jenseits der innerkoreanischen Grenze darauf reagierte?
Yoon Suk-yeol, ein konservativer Populist, der vor knapp zwei Jahren mit hauchdünnem Vorsprung zum Präsidenten Südkoreas gewählt wurde, deeskalierte die Lage nicht wirklich: Kim werde er »Manieren beibringen«, sagte der 24 Jahre ältere Yoon im Wahlkampf. Nach Amtsantritt ließ Yoon dann unter anderem ein US-amerikanisches U-Boot, das mit ballistischen Raketen ausgestattet ist, in der südkoreanischen Hafenstadt Busan anlegen. »Damit stellen wir sicher, dass Nordkorea gar nicht erst an Provokationen in Form von Atombomben denkt«, erklärte Yoon. »Und wir warnen: Falls es dies doch tut, wird es das Ende des Regimes bedeuten.«
Die Beziehungen auf der koreanischen Halbinsel sind so schlecht wie seit Jahrzehnten nicht. Frieden hat es hier formal aber schon lange nicht mehr gegeben: Nach dem Zweiten Weltkrieg, als die japanische Kolonialmacht das Land verlassen hatte, wurde die Peninsula – ähnlich wie Deutschland – in Besatzungszonen der Siegermächte aufgeteilt. Im Norden entstand ein kommunistisch regierter Staat mit Nähe zur Sowjetunion, im Süden sollte dagegen liberaler Kapitalismus herrschen, durch Unterstützung der USA.
Allerdings herrschte ab Juni 1950 zunächst einmal Krieg. Der Norden hatte den Süden überfallen. Mehr als drei Jahre lang bekämpften sich Koreanerinnen und Koreaner so sehr, dass bald China im Norden und die Vereinten Nationen unter Führung der USA im Süden eingriffen. Es war der erste bewaffnete Stellvertreterkonflikt des Kalten Krieges, der Millionen Todesopfer forderte – und im Sommer 1953 nur mit einem Waffenstillstand endete. Und obgleich sowohl Nord- als auch Südkorea offiziell die Wiedervereinigung wollen, gibt es bis heute keinen Friedensvertrag. Vielmehr droht man sich derzeit erneut mit Krieg.
Frieden durch Klimaschutz – und Plutonium
Im Lauf der vergangenen sieben Jahrzehnte hat es aber immer wieder Vorschläge gegeben, wie die zwei verfeindeten Staaten trotz allem zusammenwachsen könnten. Nobuo Tanaka, ehemals japanischer Energiepolitiker und heute Vorsitzender des einflussreichen Thinktanks Sasakawa Peace Foundation in Tokio, wirbt seit Jahren für den Plan, Japan solle Plutonium von Nordkorea aufkaufen. So könnte sein Land die eigene Atomkraft am Leben halten und zugleich Nordkoreas Atomprogramm stoppen. »Japan müsste einen sehr guten Preis bieten«, vermutet Tanaka, damit das arme Nordkorea zustimmen würde. »Und Japan müsste versichern, das Plutonium ausschließlich für die Kraftwerke zu nutzen.«
Etwas Ähnliches hat sich vor anderthalb Jahrzehnten schon Hans-Josef Fell überlegt, der damals Abgeordneter für die Grünen im Bundestag war. »Mein Vorschlag ist es, die Energielieferungen nach Nordkorea nicht mit klimaschädlichem Schweröl, sondern mit einem Mix aus unterschiedlichen erneuerbaren Energien zu leisten«, schrieb er 2007 in einem Papier. Yoon Mee-hyang, parteilose Abgeordnete im südkoreanischen Parlament, schlägt heute in dieselbe Kerbe: »Nord- und Südkorea sind sich auf vielen Ebenen uneins. Aber beide Staaten wollen doch einen sauberen Planeten! Deshalb sollten wir unbedingt beginnen, in der Klimapolitik zu kooperieren.«
All diese Konzepte haben eines gemeinsam – sie beruhen auf der Annahme, dass Austausch die bilateralen Beziehungen zwischen verfeindeten Staaten verbessern kann. Und als Beispiel dafür, dass dies wirklich gelingt, muss immer wieder ein Land herhalten: »Wir orientieren uns hier natürlich viel an Deutschland«, sagt die Parlamentsabgeordnete Yoon Mee-hyang. Denn welches andere Land sollte als Vorbild dienen, wenn es darum geht, aus einer geteilten Nation wieder eine Einheit zu schmieden?
»Wandel durch Annäherung«
Tatsächlich berufen sich zumindest in Südkorea diverse Fachleute und Politiker auf das Beispiel Deutschlands, um ihre Positionen in der Nordkoreapolitik zu untermauern. Die Liberalen um die Demokratische Partei (DP) fordern meist Austausch mit dem Norden, im Sinne von Willy Brandts Motto »Wandel durch Annäherung«. Die Konservativen um die People’s Power Party (PPP) dagegen betonen, man solle bloß nicht mit dem Norden ins Gespräch kommen, ohne dabei stets die Menschenrechtsverletzungen anzusprechen – denn auch in Deutschland habe sich die BRD der DDR nicht angenähert, ohne auf ihren Prinzipien zu beharren.
Doch wie sehr taugt Deutschland mit seiner historischen Entwicklung überhaupt als Vorbild für Korea? Kim Nu-ry, Professor für Deutsche Literatur an der Chung-Ang-Universität in Seoul und einer der in Südkorea führenden Experten für die deutsche Teilung, ist sich zusehends unsicher in dieser Sache. »Deutschland gilt immer wieder als Referenzwert für das geteilte Korea«, so Kim. »Aber aus heutiger Sicht muss man sagen: Bei der Teilung hört es mit den Gemeinsamkeiten fast schon auf.« So hatten die Menschen in Deutschland keinen Krieg zwischen Ost und West erlebt. In Korea erschwere aber gerade die Vergangenheit des Koreakriegs heute eine Annäherung.
Zumal auch der zwischenmenschliche Austausch praktisch unmöglich ist. »Familien wurden geteilt und konnten bis auf seltene Ausnahmen nicht mehr miteinander sprechen«, betont Kim Nu-ry. »Dies ist ein wichtiger Unterschied zu Deutschland, wo es mehrere Lockerungen gab, was den Kontakt zwischen den Menschen in West und Ost anging.« Hinzu kommt, dass die Teilung Koreas mittlerweile deutlich länger anhält als die deutsche: In Deutschland waren es 41 Jahre, in Korea sind es schon bald doppelt so viele, fast 80 Jahre.
Diejenigen, die in Deutschland während der Teilung noch Erinnerungen an die andere Seite der Grenze hatten, konnten der nächsten Generation davon erzählen, wie das Leben drüben ist. In Korea gibt es nur noch sehr wenige Menschen mit solchen Erfahrungen. Das zeige sich auch daran, wie die Menschen zur Teilung stehen, berichtet Kim Nu-ry: »Zwar ist grundsätzlich eine Mehrheit für eine Wiedervereinigung, aber jüngere Menschen, die in der Teilung aufgewachsen sind, interessieren sich für das Thema weniger.«
Woher die Unzufriedenheit in Ostdeutschland kommt
Deutschland gilt längst nicht nur als Positivbeispiel für Korea, wie Kim Nu-ry weiß. »Ich habe ein halbes Jahrzehnt konkret zu den Folgen der deutschen Einheit geforscht, unter anderem zur Frage, warum so viele Ostdeutsche Jahre später unzufrieden mit der Einheit waren.« Aus südkoreanischer Sicht sei diese Entwicklung seltsam. »Denn in den späten 1980er Jahren waren es doch die Ostdeutschen gewesen, die gegen ihre Staatsform protestiert hatten.«
Bei seinen Forschungen, die sich maßgeblich aus Interviews und Literaturrecherchen speisten, arbeitete Kim Nu-ry drei Erklärungsansätze für die Unzufriedenheit unter den Ostdeutschen heraus. Es sind drei Punkte, die laut Kim für Korea relevant sind: »Erstens waren die Menschen in Ostdeutschland nicht demokratisch erzogen worden, sondern hatten eine stalinistische Prägung, so dass sich viele nach der Wende nur schwer anpassen konnten.« Zweitens: Die Anpassungsprobleme betrafen auch das Wirtschaftssystem, das vom Sozialismus zum Kapitalismus wechselte. Und drittens sei das Gefühl, kolonisiert zu werden, weit verbreitet gewesen: »dass der Westen den Osten geschluckt hatte, obwohl beim Mauerfall doch die Ostdeutschen die Protagonisten gewesen waren.«
Als im November 1989 die Berliner Mauer fiel, verstand der westdeutsche Kanzler Helmut Kohl (1930–2017) dieses überraschende Ereignis als politisches Geschenk. Der damals politisch angeschlagene Kohl hieß alle, die aus dem Osten in den Westen kamen, willkommen. Zugleich trieb er Gespräche zu einer deutschen Wiedervereinigung voran. Was dann folgte, war de facto eine Absorption der Deutschen Demokratischen Republik durch die Bundesrepublik Deutschland. Der Westen musste dafür allerdings den Osten sanieren. Und trotz der Treuhandpolitik, die weite Teile der DDR-Betriebe privatisierte, wurde es teuer für die Menschen im Westen – in Form des Solidaritätszuschlags bis heute.
Die wirtschaftliche Situation in Korea spricht gegen eine Wiedervereinigung
Diese ökonomische Dimension sieht Park Sang-in, Professor für Wirtschaftswissenschaften an der Seoul National University, als entscheidenden Grund dafür, dass Deutschlands Wiedervereinigung nicht als Vorbild für Korea dienen sollte. »In Südkorea haben viele junge Menschen heute prekäre Jobs, müssen in den großen Städten hohe Mieten zahlen und können kaum Geld sparen. Würde die Politik ihnen sagen, dass sie jetzt den Aufbau Nordkoreas durch Steuern finanzieren müssen, wären viele von ihnen dagegen. Die jungen Menschen haben ihre eigenen Probleme.« Park ist ebenso überzeugt davon, dass sich Südkorea ohne Unterstützung der internationalen Gemeinschaft eine Wiedervereinigung nicht leisten könnte. Ein »Aufbau Nord« wäre schlicht zu teuer. Und die Menschen in Südkorea würden dafür wohl kaum von ihrem bisherigen Wohlstandsniveau abrücken.
Wirtschaft und Wohlstand bilden einen weiteren Unterschied zwischen Deutschland und Korea: 1989, als die Berliner Mauer fiel, war das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf der Bundesrepublik Deutschland knapp dreimal so hoch wie das der DDR. Jenes von Südkorea ist heute wohl etwa 50-mal so hoch wie das von Nordkorea. Während Südkorea mit fast 52 Millionen Einwohnern heute ein wohlhabender Industriestaat ist, zählt Nordkorea mit seinen knapp 26 Millionen zu den ärmsten Ländern der Welt. »Sollte das nordkoreanische Regime irgendwann zusammenbrechen«, so Park Sang-in, »gilt eine Absorption des Nordens durch den Süden nach dem deutschen Modell daher nicht als wahrscheinlich.«
»Der deutsche Fall wird im Norden nie erwähnt«Ji Seong-ho, Geflüchteter aus Nordkorea und Abgeordneter in Südkorea
Eher sei damit zu rechnen, dass beide Länder eine Art Föderation eingehen, in der sie gemeinsam Infrastrukturprojekte anstoßen und Handel treiben, so Park. Aber was aus südkoreanischer Sicht wirtschaftlich Sinn ergeben würde, könnte den Menschen in Nordkorea zu lange dauern und zu einem politischen Problem werden. »Es gäbe womöglich öffentlichen Druck, eine Wiedervereinigung so schnell wie möglich zu realisieren.« Dies habe jedenfalls das deutsche Beispiel gezeigt, findet Park: »Die Menschen aus dem Osten nicht sofort aufzunehmen, hätte vermutlich kein positives Signal gesendet.«
Die Sicht aus Nordkorea
Davon ist auch der Abgeordnete Ji Seong-ho überzeugt, der für die konservative PPP im südkoreanischen Parlament sitzt. Die Partei stellt derzeit den Präsidenten Yoon Suk-yeol. Als einer der wenigen in Südkorea kennt Ji die Teilung von beiden Seiten. Als junger Mann floh er aus dem Norden in den Süden, wo er eine Karriere in der Politik einschlug. Ob Deutschland auch im Norden als Wegweiser für eine koreanische Vereinigung gelte? »Der deutsche Fall wird im Norden nie erwähnt«, weiß Ji. Was kein Wunder sei: »In Deutschland verschwand letztlich der kommunistisch regierte Staat von der Landkarte. Dieses Szenario gefällt dem Norden natürlich nicht.«
Aber aus südkoreanischer Sicht erkennt Ji Seong-ho sehr wohl eine Vorbildfunktion Deutschlands. »Ich bemühe mich um großzügigere Unterstützungsprogramme für alle, die aus dem Norden in den Süden flüchten.« Ji schweben Sozialprogramme vor, die von Geldzahlungen bis zu Eingliederungskursen reichen. Er hofft, dass solche Maßnahmen eine größere Wirkung entfalten würden als die bisherigen Hilfen für die rund 30 000 Geflüchteten aus Nordkorea im Süden. »Wenn sich herumspricht, dass diese Menschen im Süden gut behandelt werden, dann könnten immer mehr Menschen kommen.«
Ji orientiert sich hier am Begrüßungsgeld, das im Westen an diejenigen ausgezahlt wurde, die aus dem innerdeutschen Osten kamen. Selbst wenn der Mauerfall in Berlin nur ein Zufall gewesen sein sollte, sei man in Deutschland immerhin für so einen Moment gewappnet gewesen – dank unermüdlicher Versuche, sich politisch anzunähern, die von Funkverbindungen über Passierscheine bis zu hohen politischen Treffen reichten. »Wir sollten weiter mit dem Norden sprechen«, sagen sowohl Ji Seong-ho von der konservativen PPP als auch Yoon Mee-hyang, die sich politisch eher als liberal einordnet.
Ohne Annäherung, das zeige das deutsche Beispiel dann doch, würde es bei einer plötzlichen Öffnung der Grenze wohl an Anhaltspunkten fehlen, um sich schnell auszutauschen und über grundsätzliche Themen miteinander zu sprechen.
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