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Resignationssyndrom: Die Dornröschen-Kinder

In Schweden fallen jedes Jahr fast 100 Asyl suchende Kinder in einen apathischen Zustand, wenn sie erfahren, dass sie in ihr Heimatland zurückmüssen. Mediziner stehen vor einem Rätsel.
Mädchen mit Resignationssyndrom

Daria liegt seitlich auf einem Doppelbett, das eigentlich viel zu groß für ihren kleinen Körper ist. Ihre Augen sind geschlossen. Mit jedem tiefen Atemzug hebt und senkt sich ihr Körper. Man könnte annehmen, sie schläft. Doch der dünne Schlauch, der auf ihrer Wange festgeklebt ist und in ihre Nase führt, deutet darauf hin, dass etwas mit Daria nicht stimmt.

Daria ist sieben Jahre alt, Ukrainerin und wohnt in Schweden, wo ihre Eltern Asyl beantragt haben. Seit fünf Monaten öffnet sie ihre Augen nicht mehr. Sie reagiert nicht, wenn man mit ihr redet oder sie anfasst. Über den Schlauch, eine Magensonde, wird sie ernährt. Die Familie wird in der Reportage »Vom Leben überholt« begleitet, die 2019 von Netflix produziert wurde.

Daria ist eines von derzeit etwa 80 bis 100 Asyl suchenden Kindern in Schweden mit »uppgivenhetssyndrom«, was so viel wie »Resignationssyndrom« bedeutet. Das Resignationssyndrom hat in Schweden für hitzige Debatten gesorgt und Politiker, Ärzte und Journalisten in zwei Lager gespalten. Die eine Seite vermutet, dass die Eltern ihre Kinder lediglich dazu zwingen, den schlimmen Zustand vorzutäuschen, damit die Einwanderungsbehörde ihnen eine Aufenthaltsgenehmigung gewährt. Auf der anderen Seite stehen Menschen wie die HNO-Ärztin Elisabeth Hultcrantz, die apathische Kinder und deren Eltern seit ihrer Pensionierung ehrenamtlich unterstützt. Sie betrachtet das Syndrom als ernst zu nehmende Erkrankung und findet, dass viel mehr für die Betroffenen getan werden muss.

Während das Resignationssyndrom in Deutschland weitgehend unbekannt ist, beobachtete man es in Schweden zum ersten Mal im Jahr 1998. Anfang der 2000er Jahre soll es bis zu mehrere hundert Fälle pro Jahr bei Asyl suchenden Kindern gegeben haben. Inzwischen zählt Socialstyrelsen, das schwedische Zentralamt für das Gesundheits- und Sozialwesen, noch immer 80 bis 100 erkrankte Kinder jährlich. Die Behörde schätzt jedoch, dass der Anteil relativ zu allen Asyl suchenden Kindern zwischen 2014 und 2016 von rund 5 Prozent auf 2,4 Prozent zurückgegangen ist.

Bei den meisten Betroffenen tritt das Resignationssyndrom nicht schlagartig, sondern schleichend auf. Sie ziehen sich mehr und mehr zurück, wollen nicht mehr in die Schule gehen und verlieren ihren Appetit. Im fortgeschrittenen Stadium befinden sie sich, wie Daria, in einem komatösen Zustand, der oft Monate, manchmal sogar mehrere Jahre andauert. Viele von ihnen müssen künstlich ernährt werden und Windeln tragen. Die Kinder reagieren nicht, wenn Ärzte Schmerztests durchführen oder man mit ihnen redet. Sie wirken, als hätten sie ihren Körper verlassen und eine leblose Hülle zurückgelassen.

Die Erkrankung stellt Ärzte und Wissenschaftler vor ein Rätsel. Ähnliche Symptome zeigen zwar auch Patienten mit schwerer Depression oder dissoziativen Störungen – doch nicht in dem Ausmaß und der Häufigkeit, mit der man sie bei den Asyl suchenden Kindern in Schweden beobachten kann. Der Kinder- und Jugendpsychiater Göran Bodegård bezeichnete das Resignationssyndrom im Jahr 2005 als »depressive devitalisation«, also als depressive Entkräftung.

Die Apathie der Betroffenen hat aber auch viel mit der Katatonie gemeinsam, die mit bestimmten psychischen Störungen, beispielsweise einer Schizophrenie, einhergehen kann. Genau wie die Kinder mit Resignationssyndrom reagieren katatonische Patienten nicht auf ihre Umwelt und nehmen nicht mehr an alltäglichen Aktivitäten teil. Darüber hinaus zeigen sie allerdings typischerweise noch viele weitere Symptome, die man beim Resignationssyndrom nicht beobachtet – unwillkürliche, hastige Bewegungen etwa oder eine dauerhaft erhöhte Muskelspannung. Die apathischen Kinder liegen hingegen einfach nur schlaff da. Elisabeth Hultcrantz und Anne-Liis von Knorring, beide emeritierte Professorinnen, die in ihrer Freizeit apathische Kinder behandeln, schlagen daher in einer 2019 veröffentlichten Studie vor, es könnte sich bei dem Resignationssyndrom um eine spezielle Variante der Katatonie handeln.

Die Teilnahme am Leben verweigern

Andere Forscher glauben, dass sich das Resignationssyndrom mit dem »pervasive refusal syndrome« überlappt, was im Deutschen auch als »durchgängiges Verweigerungssyndrom« bezeichnet wird. Dieses haben Wissenschaftler erstmals 1991 beschrieben, es betrifft ebenfalls Kinder und Jugendliche. Bisher sind nur vereinzelte Fälle bekannt, unter anderem aus Großbritannien und Deutschland; eingehend erforscht ist es noch nicht. Während sich die apathischen Kinder in Schweden passiv dem Leben zu entziehen scheinen, lehnen die meisten Kinder mit dem Verweigerungssyndrom es allerdings aktiv ab, am Leben teilzunehmen. Das heißt, sie wehren sich – manchmal aggressiv –, wenn man sie untersuchen oder ihnen beim Essen oder Duschen helfen will.

Eines scheinen Kinder mit dem Verweigerungssyndrom und solche, die unter dem Resignationssyndrom leiden, jedoch gemeinsam zu haben: Sie haben jegliche Hoffnung auf eine gute Zukunft verloren. Elisabeth Hultcrantz zufolge, die ungefähr 60 Kinder mit Resignationssyndrom über längere Zeiträume behandelt hat, gibt es meistens einen klaren Auslöser für die einsetzende Apathie: einen abgelehnten Asylantrag. Hultcrantz erzählt von einem 13-jährigen Mädchen, das kürzlich aus der Apathie erwachte. Das Letzte, an das es sich erinnert, ist der Brief, in dem die schwedische Einwanderungsbehörde verkündete, dass der Asylantrag ihrer Familie abgelehnt wurde. Danach sei es schwarz geworden.

Dieses Muster findet man bei den betroffenen Kindern immer wieder. Auch bei Daria, dem Mädchen aus der Netflix-Reportage, scheint die Bekanntgabe ihrer Abschiebung das Einsetzen des Resignationssyndroms getriggert zu haben. Sie und ihre Schwester waren anwesend, als die Entscheidung über ihren Asylantrag verkündet wurde. Darias Mutter erzählt, dass zunächst die Gründe für die Flucht aus ihrem Heimatland dargelegt wurden. Sie und ihr Mann waren gefoltert und sie vergewaltigt worden. Daria und ihre Schwester sprachen inzwischen Schwedisch, so dass sie das Gesagte verstanden, bevor es für die Eltern übersetzt wurde. Daria habe direkt angefangen zu weinen – die Einzelheiten ihrer Migration hatten die Eltern ihren Kindern nie erzählt, um sie zu schützen. Kurze Zeit später fiel das Mädchen in Apathie.

Fast alle apathischen Kinder mussten traumatische Erlebnisse durchmachen: Manche haben etwa beobachtet, wie ihre Mutter vergewaltigt wurde, andere, wie ihr Zuhause zerstört wurde

Doch eine Abschiebung sei nur der Auslöser, nicht der Grund für das apathische Verhalten, sagt Elisabeth Hultcrantz. Alle Kinder mit Resignationssyndrom seien durch Erfahrungen in ihrem Heimatland traumatisiert – nicht zuletzt, weil sie oftmals unterdrückten Ethnien angehören. In Schweden waren erst viele Roma unter den betroffenen Kindern, dann Uiguren. Inzwischen sind es vermehrt jesidische Kinder, die erkranken. Auch eine Übersichtsstudie kommt zu dem Schluss, dass fast alle apathischen Kinder traumatische Erlebnisse durchmachen mussten. Manche haben etwa beobachtet, wie ihre Mutter vergewaltigt wurde, andere, wie der Vater bedroht oder zusammengeschlagen oder ihr Zuhause zerstört wurde.

Bei dem Verweigerungssyndrom vermuten Wissenschaftler ebenfalls unterschwellige Traumata als Ursache. Manche Kinder mit Verweigerungssyndrom wurden sexuell missbraucht, andere haben schwere Erkrankungen durchmachen müssen oder nahestehende Personen verloren. Manche Psychiater und Psychologen glauben deshalb, dass das Verweigerungs- und das Resignationssyndrom verschiedene Untergruppen der gleichen Erkrankung sein könnten.

Drohende Abschiebung reaktiviert alte Traumata

Bis zu einer Entscheidung über einen Asylantrag kann es mitunter Jahre dauern. In dieser Zeit normalisiert sich das Leben der betroffenen Kinder oft: Sie gehen zur Schule, lernen die Sprache und schließen neue Freundschaften. Deshalb merkt man von der Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS), unter der viele von ihnen leiden, zunächst meist nichts. »Doch ein Trauma wächst mit dem Kind, wenn es nicht behandelt wird«, so Hultcrantz. Wenn die inzwischen älteren Kinder von dem negativen Asylbescheid erfahren, würde ihre PTBS reaktiviert. Vieles spricht dafür, dass die Ankündigung der Abschiebung die Zukunftshoffnung der Kinder zerschlägt, weswegen sie nicht mehr am Leben teilhaben wollen und resignieren.

Obwohl die genaue medizinische Einordnung des Resignationssyndroms weiterhin unklar ist, wird es seit 2014 als eigenständige Erkrankung eingestuft. Als »uppgivenhetssyndrom« wurde es in die Klasse der depressiven Erkrankungen unter dem Diagnosecode F32.3A in die schwedische Version der Internationalen Klassifikation der Krankheiten, ICD-10, aufgenommen. Diagnostische Kriterien, anhand derer ein Arzt die apathischen Symptome von Patienten dem Resignationssyndrom zuordnen könnte, gibt es bisher aber nicht. Klare Diagnosen für psychische Erkrankungen zu stellen, sei bei Kindern sowieso schwierig, meint die Kinderpsychologin Katrin Glatz Brubakk. Angst und Depressionen beispielsweise hätten bei kleinen Kindern ähnliche Symptome.

Auch im Hinblick auf die richtige Behandlung der apathischen Kinder tappen Ärzte im Dunkeln. Wie Daria werden die meisten von ihnen zu Hause von ihren Eltern versorgt. In regelmäßigen Abständen erhalten sie Besuch von Ärzten und Pflegekräften wie Elisabeth Hultcrantz. »Es ist wichtig, dass man tägliche Routinen hat und die Kinder in alle Aktivitäten einbindet, selbst wenn sie nicht reagieren«, sagt Hultcrantz. Sie empfiehlt den Eltern etwa, die Kinder zu füttern, selbst wenn die Kinder das Essen nicht herunterschlucken und es wieder aus dem Mund hinausläuft. Was die Kinder brauchen – da sind sich Hultcrantz und Glatz Brubakk einig –, ist ein Gefühl der Sicherheit und Zuversicht. Dies zu vermitteln, sei für die Eltern allerdings schwierig, weil sie oft selbst die Hoffnung auf eine bessere Zukunft verloren haben, so Hultcrantz.

Falls der Asylantrag einer betroffenen Familie erneut geprüft wird und die Familie eine permanente Aufenthaltsgenehmigung in Schweden erhält, verbessert sich der Zustand der Kinder langsam. Ärzte vermuten, dass die Kinder merken, wenn sich die Stimmung im Haus bessert und die Eltern wieder Mut fassen. Bei manchen Kindern dauert es nach der positiven Neuigkeit einige Wochen, bis sie wieder zu sich kommen, bei anderen mehrere Monate. Auch Daria kam nach über einem Jahr im Resignationssyndrom wieder zu Bewusstsein. Ihre Eltern erzählen, dass sie ihrer Tochter den Brief vorgelesen haben, in dem die Einwanderungsbehörde bestätigt, dass ihnen nun Asyl gewährt wird. »Alles wird gut, niemand wirft uns raus«, habe sie zu ihr gesagt, erinnert sich Darias Mutter.

Es gibt jedoch auch Erfolge bei der Behandlung von Kindern mit Resignationssyndrom zu verzeichnen, ohne dass ihnen eine Aufenthaltsgenehmigung gewährt wird. Und zwar im schwedischen Rehabilitationsszentrum für Kinder »Solsidan«. Das Zentrum, dessen Name ins Deutsche übersetzt »Sonnenseite« bedeutet, liegt in einem kleinen Ort zwei Zugstunden nördlich von Göteborg. Die Erfinder der viel versprechenden Methode bezeichnen sie als »intensive Umwelttherapie«. Dabei wird jeder Tag für die apathischen Kinder minuziös geplant – vom Frühstück, bei dem sie mit am Tisch sitzen müssen, über Gesprächstherapien und Spaziergänge an der frischen Luft bis hin zum Kuchenbacken. Um einen Rührteig herzustellen, hält das Personal etwa den Schneebesen in der Hand eines Kindes fest. Das Leben soll sich für die jungen Patienten ganz normal anfühlen.

»Sie schienen nicht zu bemerken, dass du da warst«Die Psychiaterin Beth O’Connor über die betroffenen Kinder

Wichtig bei der Behandlung der apathischen Kinder sei, so beschreibt es eine Broschüre auf der Website des Zentrums, dass man die Eltern von ihren Kindern trenne. Oft seien die Eltern selbst behandlungsbedürftig, was die Chancen der Kinder, gesund zu werden, verschlechtere und in manchen Fällen eine Genesung sogar unmöglich mache. 30 Kinder sollen mit Hilfe der intensiven Umwelttherapie im Solsidan zwischen 2005 und 2014 vom Resignationssyndrom geheilt worden sein.

Gibt es das Resignationssyndrom wirklich nur in Schweden? Wenn man sich bei europäischen Einwanderungsbehörden umhört, scheint es zunächst so. In dänischen Asylannahmestellen kämen schon mal Hungerstreiks vor, berichtet Svend Erik Brande vom Dänischen Roten Kreuz. Aber apathische Zustände, wie man sie in Schweden beobachtet, habe er in den 18 Jahren, in denen er mit Asylbewerbern gearbeitete hätte, nie erlebt. In Deutschland gibt es ebenfalls keine Berichte über Flüchtlinge oder Asylsuchende mit Resignationssyndrom.

Auch Beth O’Connor, die als Psychiaterin in pazifischen Flüchtlingslagern arbeitete, hatte in ihrer Karriere noch kein apathisches Flüchtlingskind erlebt. Bis zum Frühjahr 2018. Damals war O’Connor im Auftrag von »Ärzte ohne Grenzen« in einer australischen »Offshore-Haftanstalt« in Nauru tätig, einem kleinen Inselstaat im Pazifischen Ozean. Die Einrichtung beherbergte zeitweise mehr als 1000 Flüchtlinge und Asylsuchende. Die meisten von ihnen kamen aus dem Iran, einige aus Somalia, Myanmar oder anderen Ländern. O’Connor war schon ungefähr ein halbes Jahr in Nauru, als sie und ihre Kollegen das erste apathische Kind bemerkten. Insgesamt, so berichtet die Psychiaterin, hatten zwölf Menschen, darunter zehn Kinder, das Resignationssyndrom im fortgeschrittenen Stadium. Die Betroffenen aßen und tranken nicht, redeten nicht, waren inkontinent. »Sie schauten sich um, aber wenn du in ihr Sichtfeld tratest, sahen sie einfach durch dich hindurch«, erzählt O’Connor. »Sie schienen überhaupt nicht zu bemerken, dass du da warst.«

Zunächst vermutete das Ärzteteam, dass die Patienten an einer schweren Depression erkrankt waren. Doch Antidepressiva zeigten keine Wirkung. »Wir versuchten im Rahmen unserer Möglichkeiten alles, um den Kindern zu helfen, banden dabei ihre Familien mit ein. Aber nichts half, der Zustand der Kinder verschlechterte sich stetig«, erzählt O’Connor.

Zweithäufigste Störung unter Kindern in Nauru

Da es auf der Insel keine Möglichkeit gab, die Kinder per Magensonde zu ernähren, wurde ihr Zustand schnell lebensgefährlich. Einige Monate später wurden die Betroffenen von Nauru nach Australien transferiert, um sie dort im Krankenhaus zu behandeln. Dies schien die zurückgebliebenen Flüchtlinge und Asylsuchenden nur noch verzweifelter und hoffnungsloser zu machen, sagt O’Connor. Mehr Kinder erkrankten. Das Resignationssyndrom wurde nach der Depression zur zweithäufigsten psychischen Störung unter den Kindern in Nauru.

Im Flüchtlingslager Moria auf Lesbos gebe es ebenfalls apathische Kinder, berichtet Katrin Glatz Brubakk. Die Kinderpsychologin war dort von Juli bis Oktober 2019 im Auftrag von »Ärzte ohne Grenzen« tätig. Etwa sieben Kinder, die Glatz Brubakk während ihrer Zeit auf Lesbos versorgte, hätten aufgehört zu sprechen, würden sich zurückziehen und nicht mehr spielen.

Die apathischen Kinder in den Flüchtlingslagern in Nauru und auf Lesbos passen ins klinische Bild des Resignationssyndroms. Verschiedene Erhebungen zeigen, dass im Schnitt mindestens 50 Prozent aller Flüchtlinge traumatisiert sind. In den Flüchtlingslagern in Nauru berichteten sogar 75 Prozent der Menschen von mindestens einem traumatischen Ereignis, das sie entweder in ihrem Heimatland oder während der Migration erlebt hätten. Die Ungewissheit und die schlechten Bedingungen in den Flüchtlingslagern dürften die Traumata noch verschlimmern.

Das Trauma überwinden | Die Psychologin Katrin Glatz Brubakk hat im Flüchtlingslager Moria auf Lesbos mit Kindern gearbeitet.

Das Resignationssyndrom ist also kein rein schwedisches Phänomen. Aber warum gibt es dort so viele Fälle, während es unter den übrigen weltweit knapp 30 Millionen Asylsuchenden und Flüchtlingen so gut wie gar nicht vorkommt? Oder anders ausgedrückt: Warum vermehrt es sich, sobald es an einem neuen Ort auftritt, als handle es sich um ein ansteckendes Virus und nicht um eine psychische Erkrankung? Die einfachste Erklärung dafür wäre wohl, dass die Kinder die Apathie schlichtweg vorspielen. Die Anreize dafür sind groß: In Schweden wird die Abschiebung der Familie oft noch einmal überprüft, sobald ein Kind entsprechende Symptome entwickelt.

Tatsächlich berichteten zwei junge Erwachsene gegenüber einem schwedischen Magazin im September 2019, dass sie von ihren Eltern gezwungen worden seien, das Resignationssyndrom zu simulieren. Einer der beiden Betroffenen ist Nermin, dessen Eltern die Idee für das Schauspiel von einer befreundeten Familie bekommen hatten. Er durfte das Haus nur noch im Rollstuhl verlassen, kein festes Essen zu sich nehmen und sollte sich bei ärztlichen Untersuchungen nicht rühren. Wenn Nermin nicht gehorchte, so erzählt er, habe er von seinem Vater eine Ohrfeige bekommen. Nach einem Jahr als vermeintlich apathisches Kind begeht Nermin einen Suizidversuch, der an seiner Lage jedoch nichts ändert. Bis seine Familie die schwedische Aufenthaltsgenehmigung bekommt, soll es noch einmal knapp drei Jahre dauern.

Womöglich sind die jungen Erwachsenen aus dem Artikel nicht die Einzigen, die von ihren Eltern zu einem grausamen Schauspiel gezwungen wurden. Da die betroffenen Kinder in Schweden fast immer daheim gepflegt werden und nur sporadisch Kontakt zu Ärzten und Pflegern haben, ist es nicht unmöglich, die Symptome vorzutäuschen. Die Grundeinstellung des Gesundheitswesens sei, dass sich die Patienten ehrlich verhalten, sagt Karl Sallin, der als Kinderarzt in einem Krankenhaus in Stockholm arbeitet.

Karl Sallin, Elisabeth Hultcrantz, Katrin Glatz Brubakk und Beth O’Connor sind sich jedoch einig, dass nicht jedes betroffene Kind simuliert. Hultcrantz erzählt, dass alle Eltern, die sie in den vergangenen elf Jahren getroffen habe, verzweifelt gewesen seien, wenn die Krankheit einsetzte. »Sie glauben, ihr Kind würde sterben«, sagt Hultcrantz. Außerdem hätten alle Kinder, die sie behandelt hat, aus früherer Zeit schon ein Trauma gehabt. Auch Beth O’Connor erlebte, dass die Eltern der Patienten mit Resignationssyndrom in Nauru stark beunruhigt waren. Deren eigene psychische Verfassung verschlechterte sich in vielen Fällen ebenfalls stark, sobald ihre Kinder erkrankten.

Oft bleibt das Syndrom unerkannt

Doch wenn das Phänomen tatsächlich echt ist, wie lässt sich dann erklären, dass die Störung gehäuft an vereinzelten Orten vorkommt? Elisabeth Hultcrantz glaubt, dass Kinder sicher auch andernorts das Resignationssyndrom entwickeln. Psychiater und Psychologen würden anfängliche Symptome allerdings wahrscheinlich nur selten damit in Verbindung bringen. So war es etwa Zufall, dass Katrin Glatz Brubakk von dem schwedischen Syndrom gehört hatte und daher Hultcrantz kontaktierte, als sie dem ersten apathischen Mädchen im Flüchtlingslager auf Lesbos begegnete. Hultcrantz findet es deshalb wichtig, die Krankheit bekannter zu machen.

Karl Sallin ist sich da nicht so sicher. Denn: Stimmt seine Theorie, könnte das Syndrom umso mehr Kinder betreffen, je sichtbarer es wird. Sallin erklärt, dass die physischen Symptome, die keine organische Ursache erkennen lassen, oft solche seien, die im jeweiligen kulturellen Zusammenhang akzeptiert werden. Ein Kind, das in einer Familie lebt, in der viele Mitglieder unter Kopfschmerzen leiden, würde höchstwahrscheinlich auch eher Kopfschmerz als funktionelles Symptom entwickeln und beispielsweise keine Verdauungsbeschwerden. Dies läge nicht daran, dass ein Kind sich bewusst dafür entscheiden würde, Kopfschmerzen zu bekommen. Vielmehr hätte es den Kopfschmerz unbewusst als ein legitimes Symptom wahrgenommen, um der Außenwelt sein Unwohlsein zu signalisieren, so Sallin.

Für das Resignationssyndrom würde dies Folgendes bedeuten: Kinder, die unter Bedingungen leben müssen, mit denen sie nicht umgehen können, könnten apathisch werden, wenn sie unterbewusst wissen, dass dies ein in ihrer Situation akzeptiertes Symptom ist. Je bekannter also wird, dass Asyl suchende Kinder, die Trauma und Stress ausgesetzt sind, das Resignationssymptom entwickeln, desto mehr Kinder befällt es womöglich. »Man muss sich die Frage stellen, ob das schwedische Gesundheitswesen die Krankheit erschaffen hat«, sagt Sallin.

Insgesamt können Forscher allerdings bislang bloß spekulieren, wie genau das Resignationssyndrom entsteht und warum es sich anschließend fast epidemieartig ausbreitet. Medizinische Studien und wissenschaftliche Literatur gibt es zu dem Thema kaum – obwohl schon vor 20 Jahren der erste Fall entdeckt wurde. Woran liegt das? Laut Hultcrantz ist das Problem teils ethischer Natur: Die Eltern der apathischen Kinder seien in einer Abhängigkeitssituation. Erst wenn die Familie einen positiven Beschluss von der Einwanderungsbehörde erhalten hätte, könne man sie fragen, ob man Untersuchungen für Forschungszwecke an ihren Kindern durchführen dürfe. Nur dauert die Apathie dann ja meist nicht mehr lange an. Die wenigsten Eltern seien generell dazu bereit, ihre Kinder der Forschung zur Verfügung zu stellen, sagt Sallin. Dass die Patienten über das ganze Land verteilt leben, erschwert es zusätzlich, genügend Probanden für eine Studie zusammenzutrommeln.

Einen Mangel an Forschungsideen gibt es jedoch nicht. Sallin schlug in einer 2016 erschienenen wissenschaftlichen Veröffentlichung vor, zu untersuchen, ob Benzodiazepine wirksam wären, um die Kinder aus der Apathie zu holen. Dabei handelt es sich um Angst lösende Pharmazeutika, die bei katatonischen Patienten Erfolge zeigen. Auch mit Hilfe der Elektrokonvulsionstherapie, bei der dem Gehirn unter Narkose sekundenlange Stromimpulse verabreicht werden, könnten sich vielleicht Erfolge erzielen lassen. Zudem würden Wissenschaftler gerne das Gehirn der betroffenen Kinder mit verschiedenen bildgebenden Verfahren untersuchen. Genau daran arbeiten Sallin und Hultcrantz derzeit. Über die Kinder, die in Nauru am Resignationssyndrom erkrankten, wird es hoffentlich bald mehr wissenschaftliches Material zu lesen geben.

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  • Quellen

Jans, T. et al.: Pervasive refusal syndrome. Three German cases provide further illustration. Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie 39, 2011

Lask, B. et al.: Children with pervasive refusal. Archives of Disease in Childhood 66, 1991

Ngo, T., Hodes, M.: Pervasive refusal syndrome in asylum-seeking children: Review of the current evidence. Clinical Child Psychology and Psychiatry 25, 2019

Sallin, K. et al.: Resignation syndrome: Catatonia? Culture-bound? Frontiers in Behavioral Neuroscience 10, 2017

Von Knorring, A.-L., Hultcrantz, E.: Asylum-seeking children with resignation syndrome: Catatonia or traumatic withdrawal syndrome? European Child & Adolescent Psychiatry 10.1007/s00787–019–01427–0, 2019

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