Paläoanthropologie: Die edlen Wilden
In einer Umwelt, in der es jeden Tag aufs Neue darauf ankommt, das eigene Überleben sicherzustellen - wer wäre da schon bereit, ein behindertes Kind durchzubringen? Der Homo heidelbergensis, sagen spanische Forscher.
Es war ganz sicher kein leichtes Leben, das die eiszeitlichen Bewohner des spanischen Atapuerca-Höhenzugs führten. Gegen die Unbilden der Witterung, die Mühsal der Jagd, Krankheit, wilde Tiere hatten sie nur eine Strategie: härter sein, zäher sein. Immer wieder aufstehen und weitermachen. Dafür hat die Natur Homo heidelbergensis mit einer robusten, muskelbepackten Statur ausgestattet, und davon künden ihre mit Verletzungen und Knochenbrüchen übersäten Skelette.
Eine ganze Sippe der mutmaßlichen Neandertaler-Vorfahren haben Forscher der Madrider Universidad Complutense seit 1976 aus der Sima de los Huesos zu Tage gefördert. Hier in der "Knochenhöhle" türmten sich einst die Leiber, denn am Ende des unzugänglichen Schachts wurden anscheinend immer wieder verstorbene Angehörige "bestattet" – und zwar kurz und schmerzfrei per Wurf aus der Höhe. Empfindlichkeiten konnte sich eben keiner leisten. Oder doch?
Ein ganz neues Licht auf die Atapuerca-Sippe wirft nun der Fund eines vielleicht zehn Jahre alten, von Geburt an schwer behinderten Kindes. Anders als bei gesunden Neugeborenen war eine seiner Schädelnähte größtenteils zusammengewachsen, die Knochenplatten konnten dem sich ausdehnenden Gehirn keinen Platz machen, und der Druck im Innern stieg an.
Das Kraniosynostose genannte Krankheitsbild diagnostizierten die Forscher um die Anthropologin Ana Gracia jetzt nach der Rekonstruktion des zerscherbten Schädelfossils. "Trotz seiner Beeinträchtigung überlebte das Kind mindestens fünf Jahre", schreiben die Wissenschaftler. Was zeige: Die Andersartigkeit habe die Angehörigen nicht daran gehindert, ihm die gleiche Fürsorge angedeihen zu lassen wie ihrem gesunden Nachwuchs. Auch wenn vermutlich klar war, dass ihr Kind nie etwas zum materiellen Unterhalt der Gruppe beitragen können würde, die Eltern hätten es nicht einfach seinem Schicksal überlassen.
Freilich sind sich die Forscher der Schwierigkeiten einer solchen Interpretation bewusst. Denn sonderlich viel ist nicht bekannt darüber, wie der Heidelberg-Mensch mit seinesgleichen zusammenlebte. Ob er über Sprache verfügte oder sogar religiöse Empfindungen hatte – all das lässt sich bestenfalls in Ansätzen am Fundmaterial ablesen. Die kulturelle Entwicklungsstufe des späteren Neandertalers erreichte er jedenfalls nicht. Und was es in diesem Zusammenhang bedeutet, an mentaler Zurückgebliebenheit zu leiden, steht natürlich zur Debatte.
Auch die Altersbestimmung stellte eine ganz spezielle Herausforderung für Gracias Team dar. Den Verknöcherungsgrad der Schädelnähte wie üblich als Anhaltspunkt zu nehmen, kam in diesem Fall nämlich nicht in Frage, mit Hilfe anderer Merkmale ließ sich die Lebensdauer allerdings nur vage eingrenzen: Zum Zeitpunkt seines Todes sei das Kind "älter als fünf bis acht" und "jünger als zwölfeinhalb" Jahre gewesen.
Mit ihrer sozialen Ader steht die Atapuerca-Sippe übrigens nicht allein da: Zwei Neandertaler – einer gefunden im französischen La Chapelle-aux-Saints und ein anderer aus Shanidar im Irak – hatten beide ein stolzes Alter erreicht und mussten wegen ihres stark dezimierten Gebisses und ihrer Gebrechlichkeit von den anderen versorgt werden. Und auch im georgischen Dmanisi gruben Forscher ein Individuum aus, das im Lauf seines Lebens sämtlicher Zähne verlustig gegangen war. Auf ein Alter von rund 1,77 Millionen Jahren datiert, dürfte dieser Homo erectus sogar einer noch früheren Menschenform angehört haben als das Atapuerca-Kind.
Fürsorge ist keine Selbstverständlichkeit, wie die Forscher anhand unserer eigenen Geschichte demonstrieren: Auf dem Friedhof des mittelalterlichen Armenhauses von St. James and St. Mary Magdalene im englischen Chichester fanden Archäologen nicht nur zahlreiche Gebeine von Leprakranken, sondern auch überdurchschnittlich viele Skelette von Menschen, die an Kraniosynostose litten. Wie Aussätzige scheint Homo heidelbergensis seine kranken Kinder nicht behandelt zu haben.
Eine ganze Sippe der mutmaßlichen Neandertaler-Vorfahren haben Forscher der Madrider Universidad Complutense seit 1976 aus der Sima de los Huesos zu Tage gefördert. Hier in der "Knochenhöhle" türmten sich einst die Leiber, denn am Ende des unzugänglichen Schachts wurden anscheinend immer wieder verstorbene Angehörige "bestattet" – und zwar kurz und schmerzfrei per Wurf aus der Höhe. Empfindlichkeiten konnte sich eben keiner leisten. Oder doch?
Ein ganz neues Licht auf die Atapuerca-Sippe wirft nun der Fund eines vielleicht zehn Jahre alten, von Geburt an schwer behinderten Kindes. Anders als bei gesunden Neugeborenen war eine seiner Schädelnähte größtenteils zusammengewachsen, die Knochenplatten konnten dem sich ausdehnenden Gehirn keinen Platz machen, und der Druck im Innern stieg an.
Die Folgen sind nicht nur ein verändertes Aussehen, sondern vermutlich auch geistige Zurückgebliebenheit. Heutzutage kann ein chirurgischer Eingriff dem entgegenwirken.
Das Kraniosynostose genannte Krankheitsbild diagnostizierten die Forscher um die Anthropologin Ana Gracia jetzt nach der Rekonstruktion des zerscherbten Schädelfossils. "Trotz seiner Beeinträchtigung überlebte das Kind mindestens fünf Jahre", schreiben die Wissenschaftler. Was zeige: Die Andersartigkeit habe die Angehörigen nicht daran gehindert, ihm die gleiche Fürsorge angedeihen zu lassen wie ihrem gesunden Nachwuchs. Auch wenn vermutlich klar war, dass ihr Kind nie etwas zum materiellen Unterhalt der Gruppe beitragen können würde, die Eltern hätten es nicht einfach seinem Schicksal überlassen.
Freilich sind sich die Forscher der Schwierigkeiten einer solchen Interpretation bewusst. Denn sonderlich viel ist nicht bekannt darüber, wie der Heidelberg-Mensch mit seinesgleichen zusammenlebte. Ob er über Sprache verfügte oder sogar religiöse Empfindungen hatte – all das lässt sich bestenfalls in Ansätzen am Fundmaterial ablesen. Die kulturelle Entwicklungsstufe des späteren Neandertalers erreichte er jedenfalls nicht. Und was es in diesem Zusammenhang bedeutet, an mentaler Zurückgebliebenheit zu leiden, steht natürlich zur Debatte.
Auch die Altersbestimmung stellte eine ganz spezielle Herausforderung für Gracias Team dar. Den Verknöcherungsgrad der Schädelnähte wie üblich als Anhaltspunkt zu nehmen, kam in diesem Fall nämlich nicht in Frage, mit Hilfe anderer Merkmale ließ sich die Lebensdauer allerdings nur vage eingrenzen: Zum Zeitpunkt seines Todes sei das Kind "älter als fünf bis acht" und "jünger als zwölfeinhalb" Jahre gewesen.
Mit ihrer sozialen Ader steht die Atapuerca-Sippe übrigens nicht allein da: Zwei Neandertaler – einer gefunden im französischen La Chapelle-aux-Saints und ein anderer aus Shanidar im Irak – hatten beide ein stolzes Alter erreicht und mussten wegen ihres stark dezimierten Gebisses und ihrer Gebrechlichkeit von den anderen versorgt werden. Und auch im georgischen Dmanisi gruben Forscher ein Individuum aus, das im Lauf seines Lebens sämtlicher Zähne verlustig gegangen war. Auf ein Alter von rund 1,77 Millionen Jahren datiert, dürfte dieser Homo erectus sogar einer noch früheren Menschenform angehört haben als das Atapuerca-Kind.
Fürsorge ist keine Selbstverständlichkeit, wie die Forscher anhand unserer eigenen Geschichte demonstrieren: Auf dem Friedhof des mittelalterlichen Armenhauses von St. James and St. Mary Magdalene im englischen Chichester fanden Archäologen nicht nur zahlreiche Gebeine von Leprakranken, sondern auch überdurchschnittlich viele Skelette von Menschen, die an Kraniosynostose litten. Wie Aussätzige scheint Homo heidelbergensis seine kranken Kinder nicht behandelt zu haben.
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