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Astrochemie: Die erstaunlich vielfältige Chemie des Weltalls

In Molekülwolken im interstellaren Raum findet man teils höchst komplexe Stoffe. Dank Laborexperimenten und Modellierungen versteht man immer besser, wie sie dort entstehen.
ein Satellitenbild zeigt einen Nebel
In der Molekülwolke TMC-1 im Sternbild Stier hat man besonders viele komplexe organische Moleküle gefunden.

Mehrere hundert Lichtjahre von der Erde entfernt ist es kalt und dunkel. Zwar entstehen dort draußen im All gerade vereinzelt ein paar Sterne – doch sie sind noch jung und weit verstreut. Ihr Feuer hat deshalb keinen großen Einfluss auf die Temperatur um sie herum, die recht nah am absoluten Nullpunkt zwischen eisigen 100 und gerade einmal 10 Kelvin (minus 173 bis minus 263 Grad Celsius) liegt. Weil die Teilchendichte mitunter 1000 Billionen Mal geringer ist als die Gasdichte auf der Erde, nahm man lange Zeit an, in diesem dunklen, »leeren« Raum zwischen den Sternen würde nicht viel passieren.

Dank technischer Fortschritte in der Astronomie wissen wir heute allerdings, dass dort einiges los ist: Die Dichte der Materie ändert sich fortlaufend, Atomwolken verwandeln sich in Molekülwolken, die unter dem Einfluss der Schwerkraft kollabieren und Protosterne entstehen lassen. Mittlerweile haben Fachleute mehr als 260 verschiedene Moleküle im interstellaren Raum nachgewiesen, darunter Alkohole, Aldehyde, Säuren, Amide und noch viel mehr. Ein paar davon gibt es auch auf der Erde, andere wiederum wären auf unserem Planeten überhaupt nicht stabil.

»Manche der Moleküle, die wir gefunden haben und sicher identifizieren konnten, kommen nicht nur auf der Erde vor sowie in Gasnebeln in der Nähe der Sonne, sondern sogar in Molekülwolken in den entferntesten Galaxien am Rande des Universums«, erklärt Michel Guelin, Astronom am Institut de Radioastronomie Millimétrique in Grenoble, Frankreich. Daraus lasse sich letztlich schlussfolgern, »dass die Materie auf der Erde gleich zusammengesetzt ist wie jene am anderen Ende des Universums. Außerdem scheint dort die Chemie auf Kohlenstoffbasis zu dominieren, zumindest bis zur Stufe der präbiotischen Moleküle.« Das gibt zwar teilweise Antworten auf die Frage, was »dort draußen« alles existieren könnte. Doch es wirft gleichzeitig weitere Fragen auf: Fachleute auf der ganzen Welt versuchen nun zu verstehen, wie organische Moleküle, die man so oft mit der warmen, geschäftigen Umgebung lebender Organismen in Verbindung bringt, an einem so kalten, dunklen und leeren Ort entstehen können. Denn eigentlich würde man erwarten, dass dort alle chemischen Prozesse zum Erliegen kommen.

Ein Fünkchen Hoffnung für die interstellare Chemie

Das häufigste Element im Universum ist Wasserstoff (H). Zwei Wasserstoffatome bilden zusammen das einfachste vorstellbare Molekül (H2). Deshalb scheint es das Naheliegendste zu sein, genau danach in einer Molekülwolke Ausschau zu halten. Und tatsächlich haben Wissenschaftler bereits Signale von molekularem Wasserstoff im All beobachtet. Offenbar entsteht er im interstellaren Raum jedoch nicht so einfach wie gedacht.

Wenn sich zwei Wasserstoffatome in der Gasphase zusammenlagern, wird nämlich so viel Energie frei, dass diese das neue Molekül wieder auseinanderreißen würde. H2 kann bloß deshalb trotzdem entstehen, weil in Molekülwolken auf rund 100 Gasteilchen ein Staubkorn kommt. Solche Körner besitzen üblicherweise eine Oberfläche aus amorphem, festem Wasser, da sich an ihnen einzelne Wassermoleküle ansammeln. Diese bilden sich entweder, indem Sauerstoff und Wasserstoff direkt am Staubkorn miteinander reagieren, oder es heften sich dort bereits bestehende Wassermoleküle an. Damit aus der amorphen Masse das kristalline Eis entsteht, das wir auf der Erde kennen, müsste man die Staubkörner allerdings deutlich über die dort herrschenden Temperaturen von 10 bis 100 Kelvin erwärmen.

Ohne die Staubkörner ließe sich nicht erklären, wie all die verschiedenen Moleküle entstehen

Die Staubkörner können die Energie abführen, die bei der Bildung von Wasserstoff frei wird, so dass das neue Molekül intakt bleibt. »Diese Energiedissipation ist sehr wichtig, weil sie einfache Additionsprozesse ermöglicht«, erklärt Masashi Tsuge, der an der Universität Hokkaido in Japan physikalisch-chemische Prozesse bei tiefen Temperaturen erforscht. Die von ihm erwähnten Additionsreaktionen spielen eine zentrale Rolle dabei, wenn sich freie Radikale zu neuen Molekülen verbinden: etwa CH2OH oder CH3O, die Methoxymethanol CH3OCH2OH bilden können. Ohne die Staubkörner ließe sich nicht erklären, wie all die verschiedenen Moleküle entstehen, die man im interstellaren Raum findet.

Dass es in den Weiten des Weltalls überhaupt Wasser gibt, stellt die Forscherinnen und Forscher jedoch vor ein weiteres Rätsel. Damit sich Wassermoleküle bilden können, ist nämlich deutlich mehr Energie nötig, als in einer eisigen Molekülwolken vorhanden ist. Wie Fachleute herausgefunden haben, ist Wasser zwar das häufigste Molekül auf den Staubkörnern, bildet sich allerdings nur dank des so genannten Tunneleffekts. Dieses quantenmechanische Schlupfloch eröffnet eine kleine, aber definierte Wahrscheinlichkeit dafür, dass etwas selbst dann geschieht, wenn dazu die nach der klassischen Physik erforderliche Energie fehlt.

Welche Rolle der Tunneleffekt in einer chemischen Reaktion spielt, lässt sich experimentell ermitteln, indem man die Temperatur senkt. Bei herkömmlichen Reaktionen, die durch Wärme angetrieben werden, nimmt die Reaktionsgeschwindigkeit mit sinkender Temperatur allmählich ab, da weniger Energie für die Reaktion zur Verfügung steht. Doch die quantenmechanische Tunnelwahrscheinlichkeit hängt lediglich von der Teilchengröße und der Entfernung der Reaktanten zueinander ab; sinkt die Temperatur immer weiter, kommt man daher irgendwann an den Punkt, an dem sich Quanteneffekte auswirken. Dann pendelt sich die Reaktionsgeschwindigkeit auf einem gleich bleibenden Niveau ein.

Aus demselben Grund ist die thermische Reaktionsgeschwindigkeit von Wasserstoff etwa 1,4-mal so hoch wie die von Deuterium (dem schwereren Isotop von Wasserstoff mit zwei Protonen). Die Tunnelreaktionsgeschwindigkeit von Deuterium ist hingegen 100- oder sogar 1000-mal höher, da der schwere Verwandte von Wasserstoff im Vergleich zum leichten Isotop die doppelte Masse besitzt. Daher kann ein Vergleich der Reaktionsgeschwindigkeiten von Deuterium und Wasserstoff einen guten Hinweis darauf liefern, ob der Tunneleffekt an der Reaktion beteiligt ist.

Reaktionen, die es nicht geben dürfte

Ein weiterer Beleg dafür, dass der Tunneleffekt in der Chemie eine Rolle spielt: Manche Reaktionen lassen sich beobachten, obwohl es sie gar nicht geben dürfte. Sie laufen bei Temperaturen ab, die zu niedrig sind, als dass die errechnete Reaktionsbarriere überwunden werden könnte. Eine solche Reaktion ist etwa die Hydrierung von Kohlenstoffmonoxid. Einige der häufigsten Moleküle in den eisbedeckten Staubkörnern, darunter Formaldehyd und Methanol, verdanken ihre Existenz also ebenfalls dem Tunneleffekt.

Der Einfluss des ungewöhnlichen festen, aber amorphen Zustands des Wassers auf der Oberfläche der Staubkörner reicht sogar noch weiter. Da die Reaktanten an der Kornoberfläche adsorbiert – das heißt locker gebunden – werden und dort verweilen, bleibt den Teilchen mehr Zeit, um miteinander zu reagieren. Für viele solcher Wechselwirkungen müssen die Atome auf der Kornoberfläche jedoch zu einem gewissen Grad mobil sein, um an der Oberfläche entlang zu ihren möglichen Reaktionspartnern zu gelangen. (Sie können sich, da sie bereits adsorbiert sind, nicht mehr frei bewegen, aber in gewissem Rahmen entlang der Oberfläche wandern. Man spricht von Oberflächendiffusion.) Die Beschaffenheit der Kornoberfläche sowie die Art und Weise, wie ein Atom an ihr haftet, beeinflussen entscheidend, wie sich das Atom dort verhalten kann.

Schon länger bekannt ist, dass Wasserstoff auf der Oberfläche von so gearteten Staubkörnern selbst bei den niedrigen Temperaturen des Kosmos diffundieren kann, denn Wasserstoffatome sind klein und binden bloß schwach an das Eis. Damit all die organischen Moleküle entstehen, die im interstellaren Raum beobachtet wurden, müssen jedoch Kohlenstoffatome miteinander reagieren.

In den Anfangstagen der Astrochemie nahm man an, Kohlenstoffatome könnten sich bei niedrigen Temperaturen problemlos auf der Oberfläche von Staubkörnern bewegen. Das widerlegten dann allerdings spätere Berechnungen zur Haftung von Kohlenstoff an amorphem, festem Wasser, wie es auf der Oberfläche der Staubkörner im All vorliegt: Demnach sollten die Bindungen von Kohlenstoff an festes Wasser ähnlich lang und stark sein wie kovalente Bindungen und nicht schwach wie etwa Van-der-Waals-Kräfte, wie sie oft zwischen Molekülen auftreten. Das bedeutet im Wesentlichen, dass das Kohlenstoffatom augenblicklich chemisorbiert würde, also keine Gelegenheit mehr hätte, bei den tiefen Temperaturen über die Oberfläche zu wandern. Es könnte demnach bloß dann mit einem weiteren Kohlenstoffatom reagieren, wenn dieses zufällig genau neben ihm adsorbiert würde. Die Wahrscheinlichkeit, dass an den Staubkörnern Kohlenstoffatome miteinander reagieren, wäre mit dieser Erklärung äußerst gering.

»Das Problem ist, dass beide Szenarien ohne experimentelle Untersuchung formuliert wurden«, sagte Tsuge gegenüber dem Wissenschaftsportal »Chemistry World«. Um Licht ins Dunkel der Debatte zu bringen, analysierten er und seine Kollegen die Prozesse mit einer Technik, die sich bereits bei der Untersuchung der Diffusion von OH-Molekülen auf Eiskörnern als nützlich erwiesen hatte: Die Forschenden lagerten zunächst Wassermoleküle auf einer ultrakalten Aluminiumoberfläche ab, um die amorphe Eisoberfläche zu erzeugen. Dann fügten sie einige Kohlenstoffatome hinzu, stimulierten sie mit einem sorgfältig eingestellten Laser, um sie von der Oberfläche zu desorbieren, und ionisierten sie anschließend, so dass man sie mit einem Massenspektrometer nachweisen konnte. Jedes Kohlenstoffatom, das über die Eisoberfläche diffundiert war und sich mit einem anderen verbunden hatte, fehlte bei der anschließenden massenspektrometrischen Zählung. Denn die Wellenlänge für die Ionisierung war exakt so eingestellt, dass nur einzelne Kohlenstoffatome ionisiert wurden. Mit diesen Experimenten wies das Team nach: Selbst Kohlenstoff kann über die Oberfläche von Staubkörnern diffundieren.

»Moleküle, die auf der Erde als instabil gelten, können dort sehr lange überdauern«Michel Guelin, Astronom

Mit dem Wissen, dass Additionen und Reaktionen von Kohlenstoff möglich sind, lässt sich die Herkunft einiger komplexerer Moleküle beschreiben, die ebenfalls im interstellaren Raum zu finden sind. Dazu gehören die Substanzen in der als TMC-1 bekannten Molekülwolke im Sternbild Stier. TMC steht für »Taurus molecular cloud«, was ins Deutsche übersetzt so viel heißt wie Stier-Molekülwolke. Einerseits ist die Stabilität der Moleküle in der Ödnis des interstellaren Raums eine ganz andere als auf der Erde: Sie zerfallen mit deutlich geringerer Wahrscheinlichkeit, denn die Reaktionspartner sind sehr spärlich vorhanden. »Moleküle, die auf der Erde als instabil gelten, können dort sehr lange überdauern«, erklärt Guelin. Dazu zählen etwa das Formylkation HCO+, protonierter Stickstoff N2H+, das Ethinylradikal CCH, Cyanethinyl C3N und Butadinyl C4H. Verglichen mit dem restlichen interstellaren Raum ist TMC-1 besonders arm an Energie und Materie. Dennoch hat man dort vor allem durch zwei Untersuchungen alle möglichen Arten von langkettigen und zyklischen Kohlenstoffmolekülen entdeckt.

In den zurückliegenden Jahren haben Forschende in TMC-1 verschiedene zyklische Moleküle auf Kohlenstoffbasis entdeckt: beispielsweise ortho-Benzin (C6H4), Cyanonaphthalin sowie Moleküle mit fünfgliedrigen Ringen wie Inden (C9H8) oder Cyclopentadiene.

Moleküle im Weltall | Komplexe Moleküle im interstellaren Raum (von links oben nach rechts unten): ortho-Benzin, Inden, Cyanonaphthalin, 1-Ethinylcyclopentadien, 2-Ethinylcyclopentadien.

Dass diese komplexen Moleküle dort draußen vorkommen, ließe sich einerseits erklären, wenn man annähme, dass sie Bruchstücke noch größerer Moleküle sind, die in der Umgebung eines heißen Sterns entstanden sind: Das wäre ein »Top-down«-Ansatz. Der Astrophysiker Christopher Shingledecker vom Benedictine College in den USA hält das allerdings nicht für sehr wahrscheinlich. In den Atmosphären alter, kohlenstoffreicher Sterne mit geringer bis mittlerer Masse sei zwar ein recht reichhaltiges chemisches Inventar gefunden worden, einschließlich Benzol. Die Beobachtung hochkomplexer Moleküle wie polyzyklischer aromatischer Kohlenwasserstoffe (zu denen Inden zählt) in kalten Molekülwolken bedürfe jedoch einer besseren Erklärung als eines solchen Top-down-Mechanismus. Denn derart große Moleküle würden durch Licht gespalten, bevor sie überhaupt in eine kalte Molekülwolke gelangen könnten. Deshalb favorisiert eine wachsende Zahl von Experten eine Bottom-up-Erklärung, bei der komplexe Moleküle in Molekülwolken entstehen, indem sich kleinere Vorläufersubstanzen zusammenlagern. Die Frage ist nun, welche Vorläufer das sein könnten.

»Gasphasenreaktionen im Weltraum kann man sich vorstellen wie eine Abfolge von Zusammenstößen zweier Moleküle«, erklärt Ralf Kaiser, Professor für Chemie an der University of Hawai’i. Die Wahrscheinlichkeit, dass mehr als zwei Teilchen in der Gasphase zusammenstoßen, ist selbst auf der langen astronomischen Zeitskala verschwindend gering. Die Kunst bestehe also darin, zwei mögliche Vorläufer für das zu untersuchende Molekül zu finden, um die interstellare Chemie zu ergründen. Anhand theoretischer Berechnungen haben Fachleute zu zeigen versucht, wie auf diese Weise komplexe Stoffe entstehen könnten: etwa, wie sich substituierte polyzyklische aromatische Kohlenwasserstoffe wie Fulvenallen (C7H6) oder 1- und 2-Ethinylcyclopentadien (1ECP und 2ECP) aus Benzol und Phenylvorläufern bilden. Doch laut den Vorhersagen müssten deutlich weniger der Substanzen im Weltraum vorhanden sein, als Astrophysiker tatsächlich beobachten.

Sind die Stoffe Fragmente größerer Moleküle – oder entstehen sie aus kleineren Bausteinen?

Wahrscheinlicher ist, dass diese komplexen aromatischen Moleküle aus der Reaktion von ortho-Benzin mit Methylradikalen (CH3) entstehen. Letztere hat man in Sagittarius A* beobachtet, einem supermassereichen Schwarzen Loch im Zentrum der Milchstraße. Shingledecker hat gemeinsam mit Forschungsteams aus den USA und Europa Experimente mit Methyradikalen und ortho-Benzin durchgeführt und die Ergebnisse mit Simulationen kombiniert, um die wahrscheinlichsten Produkte aus der Kombination der beiden Verbindungen zu identifizieren.

Wie ihre Studie zeigte, spielt ortho-Benzin möglicherweise eine wichtige Rolle in der Chemie der Taurus-Molekülwolke TMC-1, weil die Substanz »unter den bekannten zyklischen Molekülen in TMC-1 sehr effizient komplexere Stoffe erzeugen kann«, betont Shingledecker. Insbesondere ließen sich mit seinem Vorkommen Beobachtungen von Stoffen wie Fulvenallen, 1ECP und 2ECP erklären. Reaktionen mit ortho-Benzin erklären auch die Bildung von Inden und womöglich die von Cyanocyclopentadienen, die in TMC-1 beobachtet wurden, sowie von anderen zyklischen und stickstoffhaltigen Kohlenwasserstoffen. Das unterstreicht, wie wichtig diese Reaktionen in kalten interstellaren Molekülwolken sind.

Andernorts haben Forscher chemische Pfade ausgemacht, auf denen sich überraschend biotisch anmutende organische Moleküle bilden können. Ralf Kaiser erforscht zusammen mit Agnes Chang von der National Dong Hwa University in Taiwan, welche chemischen Reaktionen im gasförmigen interstellaren Raum und im Eis interstellarer Nanopartikel ablaufen können. Unter anderem haben sie untersucht, ob sich Kohlenstoffdioxid und Ammoniak dort zu Carbamidsäure verbinden können. Dieses Molekül ist ein wichtiger Bestandteil vieler biochemischer Prozesse: Es spielt etwa bei der biologischen Zuckersynthese aus Carbamatsalzen im Calvin-Zyklus eine Rolle, ebenso bei der Synthese der Nukleobasen, die aus Carbamoylphosphat die Nukleotide und schließlich die Nukleinsäuren in der DNA bilden. Sowohl Kohlenstoffdioxid als auch Ammoniak wurden im interstellaren Eis nachgewiesen und sind daher vermutlich Kandidaten für die interstellare Chemie. Chang hat die Berechnungen für diese Arbeit geleitet und erklärt: »Weil Ammoniak eine Lewis-Base ist, würde man erwarten, dass es sich mit Kohlenstoffdioxid verbindet und Carbamidsäure bildet.« Damit das in der Gasphase geschehen kann, muss jedoch eine energetische Barriere von 199 Kilojoule pro Mol überwunden werden. Anders ausgedrückt: Man braucht eine Temperatur um die 20 000 Kelvin (rund 19 700 Grad Celsius). Im eisigen Weltraum steht diese Energie nicht zur Verfügung.

Kohlenstoffdioxid und Ammoniak wurden im interstellaren Eis nachgewiesen und sind daher vermutlich Kandidaten für die interstellare Chemie

Um zu überprüfen, was bei der Reaktion stattdessen entstehen könnte, brachten die Forscher die beiden Chemikalien bei fünf bis zehn Kelvin auf ein Substrat auf und erhitzten das Ganze pro Minute um ein Kelvin. Anschließend sahen sie sich die Infrarotspektren an. In Kombination mit ausgefeilten Photoionisations-Massenspektrometrie-Messungen sowie Berechnungen zeigte sich, dass Ammoniak und Kohlenstoffdioxid bereits bei 39 Kelvin miteinander zu reagieren begannen: »Im Eis schrumpft die Barriere auf irgendeine Art und Weise und die Reaktion läuft leichter ab«, erklärt Chang. Durch die niedrigere Reaktionsbarriere zerfällt das Produkt zwar auch leichter wieder in seine Vorläufersubstanzen. Wenn aber die Temperatur steigt, sublimiert Carbamidsäure aus dem Lösungsmittel. Das Molekül ist so stabil, dass es die höheren Temperaturen in Sternentstehungsregionen übersteht, in denen sich womöglich auch Planeten bilden. Die Arbeit eröffnet ein interessantes alternatives Szenario für die Bildung erster präbiotischer Moleküle – bisher nimmt man oft an, diese seien auf der Erde durch die Energie eines Blitzschlags entstanden.

Kaiser weist auch darauf hin, dass in der Studie zur Carbamidsäuresynthese das Ammoniak in der eisigen Phase als Lösungsmittel dient. »Das ist interessant, denn auf der Erde ist Ammoniak ziemlich giftig. Im Weltraum hingegen benötigt man es, um Moleküle zu bilden, die möglicherweise an der Entstehung des Lebens beteiligt sind«, sagt er. Allerdings wurden bislang weder Carbamidsäure noch ihr Salz in einer Molekülwolke wie TMC-1 oder in Sternentstehungsregionen wie SgrB2 beobachtet. Es sei aber durchaus möglich, dass Teleskope wie das James-Webb-Weltraumteleskop oder das Atacama-Großmillimeter-Array sie bei künftigen Durchmusterungen entdecken, schreiben Kaiser und Chang in ihrer Studie.

Viele weitere Rätsel sind ebenfalls noch ungelöst. Vergleicht man die relative Häufigkeit von Schwefel im Weltraum mit der in den bisher in Molekülwolken beobachteten Substanzen, scheint eine beträchtliche Menge zu fehlen. Das Problem des fehlenden Schwefels hat besonderes Interesse geweckt, weil schwefelhaltige Moleküle für Lebewesen essenziell sind, wie Tsuge betont. Die Vermutung liegt nahe, dass Schwefel in nicht nachweisbaren Formen wie S8 vorliegen muss. Dazu, wie sich dieses Molekül im interstellaren Raum bilden könnte, gibt es derzeit aber nur Theorien und keine schlüssigen experimentellen Beweise.

Weil Forscherinnen und Forscher im Weltraum dieselben Moleküle finden wie solche, die oft als Vorstufen des Lebens oder als wichtig für Lebensprozesse auf der Erde gelten, spekulieren manche Fachleute, diese großen Moleküle könnten von extraterrestrischen Lebensformen stammen. Doch Laborarbeiten und theoretische Berechnungen enthüllen zunehmend ein wahrscheinlicheres Szenario für ihre Herkunft, das vielleicht noch faszinierender ist: eine überraschend vielfältige Chemie im interstellaren Raum.

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