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Medizingeschichte: Die erstaunliche Wiederkehr der Traditionellen Chinesischen Medizin

Im Grunde wollten die chinesischen Machthaber ihre eigene Medizin zu Gunsten einer modernen Heilkunst loswerden. Doch dann verschaffte ausgerechnet der Westen der TCM eine unverhoffte Renaissance.
Akupunkturpuppe

Wer einmal versucht, mit Google das Alter der so genannten Traditionellen Chinesischen Medizin zu bestimmen, wird auf höchst widersprüchliche Angaben stoßen. Da ist etwa von »jahrtausendealter Heilkunde« die Rede, an anderer Stelle von »drei-«, »vier-«, ja selbst »sechstausend Jahre alter Medizin«. Der Legendenbildung wurde hier offenbar Tür und Tor geöffnet.

Tatsächlich gibt es für einen Historiker keine großen Unklarheiten über die Ursprünge der Chinesischen Medizin, denn er kann sich auf archäologische Funde in zahlreichen Gräbern aus dem 2. Jahrhundert v. Chr. berufen. Demnach wurde in China seit prähistorischen Zeiten eine Heilkunde überliefert, die bereits damals, wie die in den Gräbern entdeckten Schriften belegen, einen höchst eindrucksvollen Entwicklungsstand erreicht hatte. Mehrere hundert Substanzen pflanzlicher, tierischer und mineralischer Herkunft, aber auch künstlich hergestellte Dinge – zum Beispiel Wagenschmiere oder Strohmatten – dienten der Behandlung einer großen Bandbreite von Krankheiten und Verletzungen.

Aufbereitet wurden sie mittels einer komplizierten pharmazeutischen Technologie sowie auf verschiedene Arten verabreicht, etwa als Pillen, Waschlotionen oder so genannte Aufkochungen. Ein einigermaßen kohärenter theoretischer Hintergrund für diese Therapien lässt sich nicht erkennen. Von magischen Bezügen und Bemühungen, Dämonen aus dem Körper zu vertreiben, ist in den Schriften zwar reichlich die Rede, doch lassen sie sich mit den ausgefeilten pharmazeutischen Verarbeitungen der Natursubstanzen nicht in Verbindung bringen.

Ab dem 2. Jahrhundert v. Chr. entstand dann eine ganz neue Form der Heilkunst, die wir heute als Medizin im engeren Sinn bezeichnen. Eine Gruppe von Intellektuellen formte seinerzeit die Vorstellung, der Mensch solle sein Schicksal in die eigenen Hände nehmen. Diese Zeitgenossen postulierten, dass für Qualität und Länge des menschlichen Lebens Naturgesetzmäßigkeiten verantwortlich seien, nicht aber Dämonen oder Ahnen, wie es die seinerzeit herrschende Weltanschauung einer extremen existenziellen Fremdbestimmung behauptete.

Die damaligen Anfänge der chinesischen Naturwissenschaften schwankten zwischen zwei Polen. Einmal einer Methodik, wie sie sich auch schon zwei, drei Jahrhunderte zuvor im östlichen Mittelmeerraum entwickelt hatte: nämlich das Wesen der Dinge über eine Analyse ihrer kleinsten Bausteine zu ergründen. Andererseits verfolgten sie den in China letztlich erfolgreicheren Ansatz, es über das Verhältnis aller Dinge untereinander zu erkennen.

Bis zum Einbruch westlicher Wissenschaft und Technologie im 19. und frühen 20. Jahrhundert ging China zwei Jahrtausende lang diesen zweiten Weg. An Stelle der analytischen Naturwissenschaft, wie sie sich in Europa durchsetzte, wurde das Werden, Sein und Vergehen aller Phänomene mit einer ebenfalls rein säkularen, aber »relationistischen« Naturgesetzlichkeit erklärt. Sie bedeutet, dass alle greifbaren und erdenklichen Dinge in Gruppen eingeteilt werden, deren Einzelteile von derselben Art sind. Alle gleichartigen Einzelteile verhalten sich somit vergleichbar. Die einzelnen Gruppen – zwei, vier, sechs oder auch zwölf in der Yin-Yang-Lehre; fünf in der Fünf-Phasen-Lehre – verhalten sich zueinander nach ganz bestimmten Gesetzmäßigkeiten.

Ab dem 2. Jahrhundert v. Chr. wendeten die chinesischen Gelehrten diese Art der Weltsicht auch auf die Deutung von Krank- und Gesundsein an. Dabei mussten sie – eine Parallele zu Europa – stets und bis in die jüngste Gegenwart mit einer anderen Weltanschauung konkurrieren, die der Vorstellung einer existenziellen Selbstbestimmung widersprach: Wenn die Naturwissenschaftler ihre Maxime als »Mein Schicksal liegt in meinen Händen, nicht im Himmel« formulierten, dann antworteten ihre Gegenspieler mit dem Slogan »Die Planungen des Menschen sind nichts gegen die Planungen des Himmels«.

Das Bild der Gesellschaft prägten einerseits Konfuzianer und Legisten, also solche, die gesellschaftliche Harmonie durch Forderungen nach der Einhaltung einer ausgefeilten Morallehre und klarer Gesetzesvorgaben zu erreichen suchten; andererseits die Daoisten, die solche kulturellen Zwänge ablehnten und, zumindest in den Anfangsjahren, der Meinung waren, das einfache Leben in und mit der Natur sei das friedlichste. Die neue Medizin Chinas stand dem Konfuzianismus und Legismus näher als dem Daoismus. Sie lehrte, der Mensch müsse seinen Gefühlen Grenzen setzen und sein Leben in Einklang mit den Naturgesetzen führen, um mit Gesundheit belohnt zu werden.

Die Daoisten hielten mit der Ansicht dagegen, dass Krankheit etwas völlig Natürliches sei und man noch so viele Gesetze befolgen und dennoch erkranken könne. Die Law-and-Order-Medizin der Konfuzianer und Legisten konzentrierte sich auf die Lebensführung, um Gesundheit zu bewahren, und führte die Akupunktur ein, um leichte Befindlichkeitsstörungen zu beheben. Vielfach war die Nadelbehandlung nichts anderes als ein Aderlass, der mit dem Blut gefährliche Pathogene entfernen sollte.

Die daoistische Heilkunde hingegen erweiterte kontinuierlich ihre Kenntnis der Substanzen, welche die Natur zur Therapie von Erkrankungen zur Verfügung stellt. Unzählige Rezepturen wurden im Volk mündlich und in der gedruckten Literatur überliefert, um allen möglichen Leiden wirksam zu begegnen. Während die Akupunktur im Gesamtspektrum der therapeutischen Verfahren stets von bestenfalls zweitrangiger Bedeutung war und blieb und lediglich im Jahr 1601 ein einziges großes Sammelwerk hervorbrachte, lieferte die chinesische Arzneikunde den eigentlichen Rückhalt für diese Therapien.

Viele Arzneibücher der Zeit zeigen, wie sich die Kenntnisse laufend erweiterten; schließlich, im 16. Jahrhundert, enthielten sie bis zu 2000 Beschreibungen einzelner Substanzen. Sie wurden ergänzt durch Rezeptsammlungen mit bis zu 60 000 Vorschriften. Diese Handbücher waren nur die sichtbarsten Leuchttürme einer von Jahrhundert zu Jahrhundert heterogeneren heilkundlichen Landschaft. Ab dem 14. Jahrhundert schien sie – wie auch die europäische Medizin – die Orientierung zu verlieren und splitterte in divergierende Einzelmeinungen und Modeströmungen auf. Bereits 1754 verkündete der Arzt und Autor Xu Dachun (1693–1771), ein Zeitgenosse des italienischen Pathologen Giovanni Battista Morgagni (1682–1771), dass die Akupunktur eine verlorene Tradition sei. Auch die Herrscher stimmten ihm bei: 1822 verkündete die Regierung, die Nadeltherapie werde nicht mehr kompetent angewendet und sei daher zu meiden.

Der Generalsekretär und die Unwissenheit der Ärzte

Im Jahr 1915 verfasste Chen Duxiu einen »Appell an die Jugend« seines Landes. Darin beschuldigte der spätere Mitbegründer und erste Generalsekretär der Kommunistischen Partei Chinas nicht zuletzt die Ärzte der Chinesischen Medizin der beklagenswertesten Unwissenheit – ein Akt der Verzweiflung. Seit 70 Jahren hatten die westlichen Mächte England, Frankreich, USA, Russland, Deutschland, Spanien, Portugal, Holland und zum Schluss auch noch das kleine Inselreich Japan dem Land China eine Demütigung nach der anderen zugefügt und seine territoriale wie auch politische Integrität immer weiter eingeschränkt.

Chinas Reformer und Revolutionäre sahen nur einen Ausweg. China müsse, wie Japan bereits erfolgreich demonstriert hatte, die westlichen Wissenschaften und Technologien sowie deren kulturelle Grundlagen studieren und übernehmen. Erst dann könne es wieder als »Reich der Mitte« erstarken und unabhängig agieren.

Chen Duxiu und seine Mitstreiter fanden starke Worte, um die eigenen Traditionen mitverantwortlich für den Niedergang Chinas zu machen. Damit stand die Chinesische Medizin in ihrem Heimatland im Mittelpunkt ätzender Kritik. Anstatt die Leiden der Menschen zu heilen, sei die traditionelle Heilkunde Chinas selbst ein Teil der Krankheit, hieß es. Um diese zu überwinden, davon waren zu Beginn des 20. Jahrhunderts nahezu alle Reformer gleich welchen politischen Lagers überzeugt, müsse auch die Chinesische Medizin so schnell wie möglich von der Bildfläche verschwinden.

Lei Gong, Ahnherr der TCM | Lei Gong, legendärer Ahnherr der pharmazeutischen Technologie der Chinesischen Medizin, wacht über die Aufbereitung diverser Natursubstanzen. Die Darstellung stammt aus einem chinesischen Manuskript des 16. Jahrhunderts.

Die Schriftsteller Lu Xun (1881 – 1936), Ba Jin (1904 – 2005) und andere prangerten die aus ihrer Sicht hohlen Diagnosen und katastrophalen Therapien der traditionellen Ärzte in ihren Novellen an, wobei sie offenbar auch eigene Erfahrungen verarbeiteten. Der Autor des ersten Slapstickfilms Chinas »Die Liebe eines Obsthändlers« (1922) musste nicht lange suchen, um einen Berufsstand zu finden, den er in Übereinstimmung mit seinem Publikum der Lächerlichkeit preisgeben konnte – die traditionellen Ärzte.

Ein Versuch seitens der Politik, ein entsprechendes Verbot durchzusetzen, lief Ende der 1920er Jahre jedoch ins Leere. Nach der Gründung der Volksrepublik China im Jahr 1949 sah auch Mao Tse-tung keine Möglichkeit, dem Treiben der von der Politik ungeliebten, aber im Volk nach wie vor verwurzelten traditionellen Ärzte ein schnelles Ende zu setzen. Man müsse die Tradition, so der »Große Vorsitzende«, künftig als eine »Schatztruhe« ansehen, deren Schätze es allerdings erst einmal zu identifizieren gelte. Die offizielle chinesische Politik richtet sich nach dieser Maxime zwar bis in die Gegenwart – aber die Realitäten entwickelten sich ganz anders als geplant. Von Beginn der 1950er bis zur Mitte der 1960er Jahre tagte eine Kommission, um aus dem heterogenen Erbe der traditionellen chinesischen Heilkunde brauchbare »Schätze« zu heben.

Welche Anteile waren es wert, in einem modernen sozialistischen Staat bewahrt zu werden, der moderner Wissenschaft und Logik verpflichtet war? Die Mitglieder der Kommission waren in der Mehrzahl Ärzte der westlichen Medizin. Ihr Weltbild schlug sich in den Empfehlungen nieder, die schließlich zu der Konstruktion einer »Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM)« führte – einem ideologisch motivierten Kunstprodukt mit Versatzstücken der Geschichte.

Die Behörden versprachen sich davon, den Wirrwarr religiöser und weltlicher Konzepte sowie therapeutischer Praktiken abzulösen. Ihre tragfähigen Elemente sollten auf Resten traditioneller Konzepte allmählich in ein Erklärungsmodell moderner, sprich westlicher Medizin übergehen. Der Besuch des US-Präsidenten Richard Nixon in China im Jahr 1972 und die folgende Öffnung Chinas unter der Ägide Deng Xiaopings machten die Lage jedoch komplizierter, als es die politischen Strategen erwartet hatten.

Im Westen setzten die Berichte über durchaus vorhandene, geradezu mysteriöse Heilerfolge der Akupunktur einen wahren Strom interessierter Ärzte, Heilpraktiker, Laien und Politiker nach China in Gang. Sogar die CIA zog Erkundigungen ein über den militärischen Nutzen der angeblich so wirksamen Akupunktur-Anästhesie. Noch heute finanziert das US-Militär großzügig Akupunkturstudien. Nun steht allerdings weniger die bestenfalls marginale analgetische Wirkung der Nadelbehandlung im Operationssaal im Blick, sondern mehr ihr Nutzen zur Behandlung von posttraumatischen Stresserkrankungen bei Soldaten mit Kampfverletzungen.

Apotheke in Peking | Angestellte einer Apotheke in Peking wiegen die Bestandteile einer traditionellen Rezeptur aus.

Bald erschienen in den USA und Europa Bücher über die alternative Heilkunde aus dem Fernen Osten. Sie wurden zu Bestsellern. Für viele Leser stellte diese Lehre das lange ersehnte Gegenprogramm zu der auf Chemie und Technologie gegründeten Medizin des Westens dar.

Dummerweise wurden die frühen Erfolgsbücher von Autoren verfasst, die weder über ausreichende chinesische Sprachkenntnisse verfügten noch sich in chinesischer Medizingeschichte auskannten. Auch hatten diese »Experten« gar keine Möglichkeit, längere Zeit die tatsächliche klinische Praxis in China zu verfolgen. So glaubten sie stattdessen einfach, TCM sei das getreue Abbild einer mehrtausendjährigen Tradition. Sie projizierten alle ihre Erwartungen an eine ganzheitliche, natürliche, sanfte Heilkunde in den dürftigen Rahmen, den ihnen die kurzen Begegnungen mit chinesischen Informanten boten.

Trostsuche in fernöstlichen Weisheiten

Mit zahllosen Vorträgen vermittelten diese Autoren in den 1970er und frühen 1980er Jahren einem staunenden Publikum in den USA und in Europa ihr TCM-Konstrukt. Man kann sich nur wundern, wie sich Menschen einer aufgeklärten Gesellschaft hier verhielten. Menschen, die in Schule und Universität mit Naturwissenschaft und Logik konfrontiert waren, bestaunten nun primitivste Grafiken über die Fünf-Wandlungsphasen- oder die Yin-Yang-Lehre und akzeptieren diese als Ausdruck fernöstlicher althergebrachter Weisheiten.

Liest man heute diese Schriften über »Chinesische Medizin«, dann wird klar, dass hier offenbar eine Sehnsucht bedient wurde. Es war die Zeit des Club of Rome, mit dem Abklingen des Kalten Kriegs und der Furcht vor einer atomaren Auseinandersetzung. Es war auch die Zeit, in der im Westen neue existenzielle Ängste die Menschen ergriffen: Ölembargo, Energiewende, Umweltzerstörung, Artensterben, Klimawandel, Auflösung zwischenmenschlicher Beziehungsformen – all das war neu und verunsicherte die Menschen.

Es war eine Furcht, die auch gesellschaftlichen Wandel in Gang setzte, neue politische Parteien auf den Plan rief und, wie so oft in der Geschichte der Medizin, auch den Umgang mit dem eigenen Körper veränderte. Dabei kam es gar nicht so sehr darauf an, was TCM oder Chinesische Medizin wirklich darstellten. Je ungenauer die historische Kenntnis, desto leichter fiel die Projektion eigener Heilserwartungen auf das weiße Papier. Hinweise auf historische Fakten aus der chinesischen Medizingeschichte konterten viele Protagonisten der TCM- und Akupunktur-Bewegung mit aggressiver Polemik – und einer Abschottung vor den Tatsachen.

Die Chance, sich seriös und nüchtern mit der Geschichte auseinanderzusetzen und die sinnvollen Ideen und Praktiken mit den nützlichen Anteilen westlicher Medizin zu verbinden, ist all denen zuwider, die die TCM als Ausdruck einer Weltanschauung verstehen, die es scharf abzugrenzen gilt von der Biomedizin. Und genau hier kommt wieder die Politik Chinas ins Spiel, die dabei an zwei Fronten aktiv ist: zu Hause und im westlichen Ausland.

Zunächst hatten sich chinesische Politiker nur gewundert, dass »der Westen« ausgerechnet an etwas Interesse hatte, das man selbst so schnell wie möglich loswerden wollte. Dann aber entdeckten sie darin ein Exportpotenzial für chinesische pharmazeutische Produkte. Die TCM-Universitäten erhielten die Möglichkeit, mit einfachsten Lehrkursen von vertrauensseligen Westlern unfassbar viel Geld einzunehmen. Und schließlich erkannten die Verantwortlichen in China auch die Gefahr, die von der westlichen Begeisterung für die TCM als Alternative zu der Schulmedizin drohte.

Chinas Furcht vor Rückkehr der chinesischen Medizin

Vor 100 Jahren war China noch Spielball der westlichen imperialen Mächte. Das asiatische Land wurde selbst vom kleinen Japan gedemütigt, weil es noch immer und zu lange in Yin-Yang- oder Fünf-Wandlungsphasen-Theorien schwelgte. Damit kann man kein Handy zum Klingeln, keine Lampe zum Leuchten und schon gar keine Rakete zum Abheben bringen, darüber waren sich alle Politiker in China einig.

Die sensiblen und durchaus intelligenten jungen Leute im Westen, die sich von den Naturwissenschaften abwenden und chinesischen Traditionen folgen, werden kein Einstein sein und auch kein Steve Jobs oder Bill Gates. Für den wissenschaftlichen und technologischen Fortschritt sind sie schlicht belanglos. Doch ist es für die örtlichen Behörden ein bedrohliches Szenario, wenn auch in ihrem Land immer mehr Stimmen laut werden, die eine Rückkehr zu den alten Konzepten fordern. Nicht überraschend sehen sie darin im Wettkampf der Zivilisationen den Grundstein für eine erneute Schwächung Chinas.

Da mag es verwundern, dass es weiterhin Kampagnen von chinesischer Seite gibt, die der TCM in Europa einen noch größeren Stellenwert erkämpfen wollen. Solche Aktivitäten sind aus einem rein kommerziellen Interesse verständlich. China möchte die Beschränkungen abbauen, die dem vermehrten Export seiner TCM-Fertigarzneien nach Europa im Weg stehen. Aber in zweiter Linie sind sie ein Bemühen, die moderne chinesische Deutung auch im Westen durchzusetzen. Demnach sei die TCM nun ein Bestandteil der modernen Medizin, begründet in den biologischen Wissenschaften und mit einer rein molekularbiologischen Legitimation versehen. Nur auf diese Weise, so vermuten die Behörden, lässt sich vermeiden, dass der Funke der TCM als Alternative zu moderner Wissenschaft vom Westen auf China überspringt und dort einen Flächenbrand auslöst.

Die Beijing Declaration on TCM aus dem Jahr 2007 und die Bologna-Erklärung von 2012 sind genau diesem Ziel verpflichtet. Auf den ersten Blick mag es absurd sein, wenn die chinesische Seite betont, dass chinesische Medizin so eng mit chinesischer Kultur verknüpft sei, dass sie nur in China und von Chinesen erlernt werden könne – dann könnte man dasselbe ja auch für die aus europäischer Kultur entstandene westliche Medizin behaupten. Hinter dieser Forderung steht freilich nichts als die Befürchtung, die Kontrolle über die zukünftige Entwicklung zu verlieren.

Der Westen reagiert auf die TCM bislang sehr unterschiedlich. Diejenigen Gruppierungen, die sich auf die chinesische Heilkunde als Alternative zu der ungeliebten westlichen Medizin konzentrieren, stehen denjenigen gegenüber, die versuchen, die »Realität« der Wirkungen von Akupunktur und Arzneidrogen aus China zu erforschen.

Die vielen Defizite der so genannten Schulmedizin und die Therapieerfolge der alternativen oder komplementären Therapien sind nur ein Teil der Ursachen dafür, dass sich die TCM ebenso wie Ayurveda und andere Heilkunden aus fremden, zumeist östlichen Kulturen (aber auch aus der Geschichte Europas) so hartnäckig behaupten können.

Die Auseinandersetzung um Sinn oder Unsinn von TCM und Akupunktur ist kulturell und sozialpsychologisch vielschichtig. Sie berührt nicht nur rein fachliche, sondern auch weltanschauliche, politische und kommerzielle Aspekte des Gesundheitswesens und wird somit noch auf geraume Zeit einer rein nüchternen Betrachtung entzogen bleiben.

  • Quellen

Unschuld, P.U.: Was ist Medizin? Westliche und östliche Wege der Heilkunst. C.H.Beck, München, 2. Auflage 2012

Unschuld, P.U.: Chinesische Medizin. C.H.Beck, München 2003; eine völlige Neubearbeitung unter dem Titel "Traditionelle Chinesische Medizin" erscheint in diesem Frühjahr.

Unschuld, P.U.: Ware Gesundheit. Das Ende der klassischen Medizin. C.H.Beck, 2. Auflage 2011

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