Textilien: Die Frau, das einbeinige Wesen
Hochgeschlossen, schwerer Stoff, knöchellang – so sah die angemessene Kleidung für die Frau im wilhelminischen Kaiserreich aus. Der Grund: Vom weiblichen Körper sollten möglichst keine detaillierten Formen sichtbar werden, vor allem wenn sich die Damen in der Öffentlichkeit bewegten. Damals wie heute und zu anderen Zeiten unterliegen Kleidung und Bewegungsfreiheit nicht nur pragmatischen Kriterien, sondern entsprechen auch den vorherrschenden kulturellen Normen. Wie sich aus den Kleidern und Röcken nun das weibliche Rollenverständnis in der Gesellschaft des 19. und 20. Jahrhunderts ablesen lässt, haben Kerstin Kraft und Regina Lösel von der Universität Paderborn untersucht.
Für ihr weitgehend abgeschlossenes Forschungsprojekt haben die beiden Kulturwissenschaftlerinnen Kleidungsstücke aus der Zeit von 1850 bis 1930 betrachtet, die im Historischen Museum in Frankfurt aufbewahrt werden. Außerdem sichteten sie historische Fotos, Gemälde, Zeitungen, medizinische Literatur und Bücher mit den Benimmregeln jener Zeit. Bis ungefähr 1920, so stellten die Forscherinnen fest, trugen bürgerliche Frauen lange Kleider aus schwerem Stoff, mit denen sie sich nur eingeschränkt bewegen konnten. Meist wurden die Röcke daher beim Gehen gerafft.
»Sitz gerade, schlenkere nicht mit den Armen«
Warum dem so war, erklären Kraft und Lösel damit, dass es in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts – anders als bei Männern – noch keine Selbstverständlichkeit war, dass bürgerliche Frauen auf offener Straße unterwegs waren. Vor allem aber galt es, sich angemessen zu bewegen, wie es auch in der Benimmliteratur jener Zeit vorgeschrieben wurde: »›Sitz gerade, schlenkere nicht mit den Armen, behalte die Beine bei Dir.‹ Für Frauen und Mädchen gab es klare Regeln«, erklärt Regina Lösel.
Der weibliche Körper musste beschützt werden, so die damalige Vorstellung. Deshalb brauchte er eine Stütze – und die lieferte das Korsett. »Männer wurden dahingegen als stark und dynamisch wahrgenommen. Sie mussten sich als ›Handelnde‹ frei bewegen und hatten deshalb Hosen an«, so Lösel. So wie das Korsett schnürte auch die Form der Kleider die Frauen ein. »Der Rock, durch den sie kaum Bewegungsfreiheit hatten, machte die Frauen zu einbeinigen Wesen«, findet Lösel. Dabei ging es sowohl um eine geringe Beinfreiheit als auch darum, dass die Beine der Frauen in der Öffentlichkeit nicht unerlaubten Blicken ausgesetzt waren. Dieses Konzept der »Einbeinigkeit« hat auch den Schnitt anderer Kleidungsstücke für Frauen bestimmt, etwa den Reitrock, mit dem Frauen im Damensitz zu Pferd saßen.
Der Einfluss gesellschaftlicher Normen auf die Form von Frauenkleidung wurde vor allem deutlich, als sich nach dem Ersten Weltkrieg und zu Beginn der Weimarer Republik eine neue Kleidermode durchsetzte: Bei Röcken verlief der Saum nun auf Kniehöhe, sogar Hosen wurden häufiger getragen. Das gesellschaftliche Rollenverständnis der Frau hatte sich gewandelt, auch weil sich Gesetze und Normen verändert hatten: »Mit der Republikgründung 1918 wurde zum Beispiel das Frauenwahlrecht eingeführt, und in der Weimarer Republik gab es die erste Welle von Frauen, die anfingen, in den bisherigen Männerdomänen Fabrik und Büro zu arbeiten«, erklärt Regina Lösel. Die Arbeiterinnen und Sekretärinnen mussten sich freier bewegen können – und durften es auch.
Moden prägten das Aussehen der Kleidung und wirkten sich auf die Bewegungsfreiheit aus. Dieses »Diktat« konnte mitunter Formen annehmen, die für die Gesundheit bedenklich waren. So war es in der Neuzeit bis in die 1860er Jahre in Deutschland üblich, den rechten und den linken Schuh identisch zu gestalten. Das wirkte sich vermutlich auf die Gangart der Menschen aus, sorgte aber auch für Rückenprobleme und Fußschmerzen. Erst durch die Schuhreform, die um 1857 der deutsche Arzt und Anatom Georg Hermann von Meyer angestoßen hatte, wurden wieder paarige Schuhe hergestellt.
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