Covid-19: Die Frau, die Coronaviren jagt
Die Besorgnis erregenden Proben trafen am 30. Dezember 2019 um 19 Uhr am Institut für Virologie in Wuhan ein. Wenige Augenblicke später klingelte das Handy von Shi Zhengli. Ihr Chef, der Institutsdirektor, rief an. Das Zentrum für Seuchenkontrolle und -prävention der Stadt hatte bei zwei Patienten mit einer atypischen Lungenentzündung (Pneumonie) ein neuartiges Coronavirus entdeckt. Man wolle, dass Shi Zhengli und ihr renommiertes Labor der Sache nachgingen. Falls sich der Verdacht auf einen neuen Erreger bestätigen würde, könnte dieser eine ernsthafte Bedrohung für die Gesundheit der Bevölkerung darstellen – er gehöre nämlich zu einer Familie von Viren, die von Fledermäusen übertragen werden und die auch die Atemwegserkrankung Sars verursachten, das Schwere Akute Respiratorische Syndrom. Zwischen 2002 und 2003 waren 8100 Menschen an Sars erkrankt, von denen fast 800 starben. »Lassen Sie alles stehen und liegen und kümmern Sie sich umgehend darum«, erinnert sich Shi an die Worte des Direktors.
Shi ist Virologin – auch bekannt als Batwoman. So jedenfalls nennen viele Kollegen die Forscherin, weil sie seit 16 Jahren in Fledermaushöhlen auf Virenjagd geht. Nachdem sie das Telefonat mit ihrem Chef beendet hatte, verließ sie die Konferenz, an der sie eben noch in Schanghai teilgenommen hatte, und stieg in den nächsten Zug nach Wuhan. »Ich hatte mich gefragt, ob sich [die städtische Gesundheitsbehörde] geirrt hatte«, sagt Shi. »Ich hätte nie damit gerechnet, dass so etwas in Wuhan, in Zentralchina passieren würde.« Bei ihren bisherigen Untersuchungen hatte sie eigentlich die subtropischen Provinzen Guangdong, Guangxi und Yunnan im Süden des Landes als jene Regionen ausgemacht, in denen Coronaviren am wahrscheinlichsten vom Tier auf den Menschen überspringen könnten – insbesondere von Fledermäusen. Diese Säugetiere gelten als berüchtigtes Reservoir vieler Krankheitserreger. Falls die neuen Keime wirklich Coronaviren sein sollten, befürchtete Shi in diesem Moment, »könnten sie aus unserem Labor stammen«?
Während Shis Team am Institut der Chinesischen Akademie der Wissenschaften fieberhaft nach dem Ansteckungsherd und der Art des Erregers suchte, breitete sich die neuartige Erkrankung aus wie ein Lauffeuer. Bis zum 17. März 2020 sind laut WHO in China 81 116 Menschen infiziert worden. Davon leben 84 Prozent in der Provinz Hubei, deren Hauptstadt Wuhan ist. 3231 Menschen sind dem Virusinfekt erlegen. Außerhalb von China haben sich 92 228 Menschen in mehr als 152 Ländern auf allen Kontinenten mit Ausnahme der Antarktis mit dem neuen Virus infiziert. Mehr als 3788 Menschen sind gestorben.
Die Suche nach der Quelle
Es ist eine der schlimmsten Epidemien der letzten Jahrzehnte. Schon seit Langem warnen Wissenschaftler davor, dass neue Infektionskrankheiten viel häufiger auftreten könnten – insbesondere in Entwicklungsländern, wo Mensch und Tier dicht beieinanderleben und dadurch verstärkt miteinander in Kontakt kommen.
»Es ist unglaublich wichtig, die Infektionsquelle und den artübergreifenden Übertragungsweg genau zu bestimmen«, sagt der Krankheitsökologe Peter Daszak, Präsident der EcoHealth Alliance, einer gemeinnützigen Forschungseinrichtung mit Sitz in New York City, die mit Wissenschaftlern weltweit – darunter auch Shi – zusammenarbeitet, um neue Viren bei Wildtieren zu entdecken. Ebenso wichtig sei laut Daszak die Suche nach verwandten Krankheitserregern – den »bekannten Unbekannten« –, um »zu verhindern, dass sich ähnliche Vorfälle wiederholen«.
Ihre erste Virusexpedition kam Shi vor wie ein Urlaub. Es war ein sonniger Frühlingstag im Jahr 2004. Die Wissenschaftlerin sammelte mit einem internationalen Forscherteam Proben von Fledermauskolonien, die in Höhlen nahe Nanning hausten, der Hauptstadt des Autonomen Gebiets Guangxi. Schon die erste Höhle war typisch für die Region. Sie ist groß, gut zugänglich und weist zahlreiche Kalksteinsäulen auf – und ist deshalb als Touristenziel beliebt. »Die Höhle war faszinierend«, erinnert sich Shi. Weißliche Stalaktiten hingen wie Eiszapfen von der Decke, die Feuchtigkeit ließ die Tropfsteine glänzen.
Doch die Urlaubsstimmung verflog rasch. Viele Fledermäuse – dazu gehören auch mehrere Arten der Insekten fressenden Hufeisennasen, die in Südasien weit verbreitet sind – leben in tiefen, engen Höhlen, die in steilem Gelände liegen. Shi und ihre Kollegen mussten stundenlang zu möglichen Siedlungsplätzen wandern und bäuchlings durch enge Felsspalten kriechen. Doch die fliegenden Säugetiere sind schwer zu fassen. In einer Woche, die für die Forscher besonders entmutigend war, hatte das Team mehr als 30 Höhlen durchsucht und nur ein Dutzend Fledermäuse gefunden.
Das Ziel dieser Expeditionen war es, jenes Virus dingfest zu machen, der zum Sars-Ausbruch geführt hatte. Sars löste die erste große Epidemie des 21. Jahrhunderts aus. Ein Team aus Hongkong hatte berichtet, dass sich Wildtierhändler in Guangdong das Sars-Coronavirus als Erste eingefangen hatten – und zwar von Zibetkatzen. Diese den Mungos ähnelnden Säugetiere sind im tropischen und subtropischen Asien und Afrika heimisch.
Das erste tödliche Coronavirus
Vor Sars hatte die Welt kaum etwas von Coronaviren gehört, sagt der Virologe Linfa Wang. Er leitet das Studienprogramm für neu auftretende Infektionskrankheiten an der Duke-NUS Medical School in Singapur. Coronaviren waren ihm zufolge eigentlich nur dafür bekannt, dass sie eine gewöhnliche Erkältung auslösen können. »Der Ausbruch von Sars veränderte die Lage.« Wang forscht über Coronaviren, die von Fledermäusen übertragen werden. Mit dem Sars-Erreger, betont er, sei erstmals ein tödliches Coronavirus aufgetreten, das pandemisches Potenzial besaß. Diese Entdeckung ließ die Wissenschaftswelt aufhorchen. Es begann die weltweite Suche nach Viren, die in Tieren schlummern und auch Menschen infizieren könnten.
Shi war eine der Ersten auf jenem Forschungsgebiet. Von Beginn an waren Daszak und Wang ihre Wegbegleiter. Schon bald standen sie bei ihren Untersuchungen vor einem Rätsel: Wie hatten sich die Zibetkatzen mit dem Erreger infiziert, der später beim Menschen Sars auslöste? Zwei frühere Vorfälle erwiesen sich hier als aufschlussreich: In Australien sprang 1994 das Hendra-Virus von Pferden auf den Menschen über, und 1998 kam es zu einem Ausbruch des Nipah-Virus in Malaysia, bei dem die Keime von Schweinen auf Menschen übersprangen. Beides wurde von Erregern verursacht, die sonst Früchte fressende Fledermäuse in sich tragen. Pferde und Schweine waren also lediglich die Zwischenwirte gewesen.
Die ersten Monate der Virenjagd von 2004 verbrachten Shi und ihre Kollegen damit, tagsüber an den Eingängen von Fledermaushöhlen Netze aufzuspannen. Dann warteten sie, bis die nachtaktiven Flugtiere zur Nahrungssuche ausschwärmten. Von den gefangenen Individuen nahmen die Virologen Blut- und Speichelproben sowie Kotabstriche. Oft arbeiteten die Forscher bis in die frühen Morgenstunden. Nachdem sie etwas geschlafen hatten, kehrten sie am Vormittag in die Höhlen zurück, um Urin und Kotklümpchen zu sammeln.
Doch die Ergebnisse ihrer Arbeit waren niederschmetternd. Keine der Proben erbrachte einen Hinweis auf Genmaterial von Coronaviren. »Acht Monate harter Arbeit schienen umsonst gewesen zu sein«, sagt Shi. »Vermutlich mögen Coronaviren eigentlich gar keine chinesischen Fledermäuse, fingen wir an zu denken.« Das Team war kurz davor, die Arbeit einzustellen, als es von einem Labor ein Diagnosekit erhielt. Damit ließen sich Antikörper nachweisen, die bei einer Sars-Infektion im menschlichen Blut gebildet werden.
Ob der Test auch bei Fledermausantikörpern anschlagen würde, war nicht bekannt. Shi probierte es trotzdem. »Was hatten wir zu verlieren?«, erinnert sie sich. Der Versuch war erfolgreich: Die Proben von drei Arten der Hufeisennasen enthielten Antikörper gegen das Sars-Virus. »Das war der entscheidende Moment für das Projekt«, sagt Shi. Die Forscher fanden heraus, dass der Erreger in Fledermäusen immer nur kurz und nur zu bestimmen Zeiten zirkuliert. Die Antikörper dagegen können Wochen oder Jahre nachweisbar sein. Das Diagnosekit lieferte also einen wichtigen Hinweis darauf, wie sich Gensequenzen des Virus ausfindig machen lassen.
Mit Hilfe des Antikörpertests konnte Shis Team die Suche nach dem Ursprung der Pandemie eingrenzen. Nachdem sie die Bergregionen in den meisten chinesischen Provinzen durchkämmt hatten, befassten sich die Forscher mit der Shitou-Höhle am Rande von Kunming, der Hauptstadt von Yunnan. Rund fünf Jahre lang nahmen sie dort zu verschiedenen Jahreszeiten Proben von Fledermäusen.
Die Mühe lohnte sich. Die Virenjäger entdeckten hunderte Coronaviren, die eine große genetische Vielfalt bezeugten. »Die meisten von ihnen sind harmlos«, sagt Shi. Aber Dutzende gehören zur selben Gruppe wie Sars. Im Laborversuch infizierten sie menschliche Lungenzellen und verursachten bei Mäusen sarsähnliche Krankheiten, die gegen Impfstoffe und Sars-Medikamente resistent waren.
In der Shitou-Höhle hatte das Forscherteam eine ganze Genbibliothek für Fledermausviren entdeckt. 2013 stießen sie dort auch auf einen Coronavirenstamm, der von Hufeisennasen stammte und dessen Genom zu 97 Prozent mit dem Erreger übereinstimmte, der bei Zibetkatzen in Guangdong identifiziert worden war. Damit war nach zehn Jahren endlich das natürliche Reservoir des Sars-Coronavirus gefunden.
Chinas virale Schmelztiegel
Shi hat noch zahlreiche weitere Fledermaushöhlen beprobt, in denen »durch das ständige Vermischen verschiedener Viren leicht gefährliche neue Krankheitserreger entstehen können«, sagt Virologe Ralph Baric von der University of North Carolina in Chapel Hill. Im Umfeld solcher viraler Schmelztiegel, erklärt Shi, »muss man kein Wildtierhändler sein, um sich zu infizieren«.
In der Nähe der Shitou-Höhle zum Beispiel liegen viele Dörfer an dicht bewachsenen Berghängen. Die Region ist bekannt für ihre Rosen, Orangen, Walnüsse und Weißdornbeeren. Im Oktober 2015 sammelten Shi und ihre Kollegen Blutproben von mehr als 200 Menschen aus vier Dörfern vor Ort. Das Ergebnis: Bei sechs Probanden, also bei fast drei Prozent, ließen sich Antikörper gegen sarsähnliche Coronaviren im Blut nachweisen – obwohl keiner der Dorfbewohner je mit Wildtieren in Berührung gekommen war oder irgendwann einmal unter einem der typischen Symptome einer Sars-Erkrankung gelitten hatte. Lediglich einer von ihnen hatte vor dem Zeitraum der Studie einmal Yunnan verlassen. Doch alle von ihnen berichteten, dass sie schon Fledermäuse über ihrem Dorf beobachtet hätten.
Drei Jahre zuvor hatte Shis Team den Schacht einer Mine in der Gebirgsregion Mojiang (Provinz Yunnan) untersucht. Sechs Bergleute waren dort an Atemwegskomplikationen erkrankt, zwei von ihnen starben daran. Nachdem die Forscher in der Höhle ein Jahr lang Proben genommen hatten, entdeckten sie bei sechs Fledermausarten eine große Vielfalt an Coronaviren. Oft erwies sich ein einziges Tier als von mehreren Virusstämmen infiziert. Diese Säuger waren buchstäblich fliegende Virenfabriken.
»In dem Minenschacht stank es wie die Hölle«, sagt Shi. Zusammen mit ihren Kollegen betrat sie die Mine mit Schutzmaske und -kleidung. »Alles war mit Fledermauskot verdreckt, auf dem Pilze wucherten.« Obwohl sich herausstellte, dass eine dieser Pilzarten die Minenarbeiter krank gemacht hatte, wäre es nach Ansicht von Shi nur eine Frage der Zeit gewesen, bis sich die Arbeiter auch Coronaviren eingefangen hätten, wäre die Mine nicht umgehend geschlossen worden.
»Der Ausbruch von Wuhan ist ein Weckruf«Shi Zhengli, Virologin, Institut für Virologie, Wuhan
Pandemien durch bislang unbekannte Krankheiten sind rein rechnerisch unvermeidbar. Und die Gründe sind vielfältig. Erstens gibt es immer mehr Menschen, die immer mehr Lebensräume von Wildtieren für sich beanspruchen. Zweitens hat sich die Landnutzung stark geändert. Drittens werden Wild- und Nutztiere rund um den ganzen Globus transportiert – und überhaupt Tierprodukte um die ganze Welt befördert. Viertens hat der weltweite Reiseverkehr stark zugenommen. Die Infektionsrisiken, die damit einhergehen, bereiten Shi und anderen Forscher schon seit Jahren schlaflose Nächte.
Vor etwa einem Jahr veröffentlichte Shis Team zwei umfassende Übersichtsarbeiten über Coronaviren – in den Fachblättern »Viruses« und »Nature Reviews Microbiology«. Die Virologin und ihre Koautoren hatten Belege aus Studien gesammelt – auch aus ihren eigenen, die in führenden Fachzeitschriften wie »Nature« oder »Science« erschienen sind. Ihr Fazit war beunruhigend: Es bestehe das Risiko, dass auch künftig Epidemien durch Coronaviren ausbrechen könnten – übertragen von Fledermäusen.
Der Ausbruch von Sars-CoV-2
Als Shi am 30. Dezember 2019 im Zug zurück nach Wuhan saß, diskutierte sie mit ihren Kollegen, wie die Patientenproben zu untersuchen seien. Die darauf folgenden Wochen entpuppten sich für die chinesische Batwoman als unvorstellbarer Stress. Obwohl sie sich eigentlich 16 Jahre lang darauf vorbereitet hatte, empfand sie diese Zeit als die anstrengendste ihres Lebens. Mit Hilfe der Polymerase-Kettenreaktion, bei der DNA-Stränge wieder und wieder kopiert werden, konnten die Forscher bei fünf von sieben Patienten Gensequenzen nachweisen, die für alle Coronaviren typisch sind.
Shi wies ihr Team an, die Tests zu wiederholen. Außerdem schickte sie Proben an ein anderes Labor. Dort sollte das vollständige Genom des Virus sequenziert werden. Derweil überprüfte Shi fieberhaft die Daten der vergangenen Jahre aus ihrem eigenen Labor, um herauszufinden, ob Versuchsmaterial irgendwann einmal falsch gehandhabt oder entsorgt wurde. Sie war erleichtert, als sie herausfand: Keine der neuen Gensequenzen stimmte mit dem Erbgut solcher Viren überein, die ihr Team aus Fledermaushöhlen entnommen hatte. »Da ist mir wirklich ein Stein vom Herzen gefallen«, sagt sie. »Ich hatte seit Tagen kein Auge zugetan.« Ihre Befürchtung, die Viren seien auf Grund einer Unachtsamkeit aus ihrem Labor entkommen, hatte sich zum Glück nicht bewahrheitet.
Am 7. Januar 2020 stellte das Wuhan-Team fest, dass das neue Virus tatsächlich auch die Krankheit verursacht hatte, an der die beiden Patienten litten. Dabei stützen sich die Forscher auf die Ergebnisse der Polymerase-Kettenreaktion, der vollständigen Genomsequenzierung und der Antikörpertests von Blutproben. Zudem hatte sich das Virus unter Laborbedingungen als infektiös für menschliche Lungenzellen erwiesen. Das Genom des Erregers, der auf Grund seiner Verwandtschaft mit dem Sars-Keim den Namen Sars-CoV-2 bekam, stimmte zu 96 Prozent mit dem Erbgut eines Coronavirus überein, das die Virologen bei Hufeisennasen in Yunnan identifiziert hatten. »Es ist völlig klar, dass wieder einmal Fledermäuse das natürliche Reservoir bilden«, sagt Daszak, der an den letztgenannten Arbeiten nicht beteiligt war.
Der Virus hatte sich seit Ende Dezember nicht verändert. Das ergab eine Analyse von 326 veröffentlichten Virensequenzen, die man Patienten entnommen hatte und die sich untereinander stark ähnelten. »Das lässt vermuten, dass die Erreger einen gemeinsamen Vorfahren haben«, sagt Baric. Daraus lässt sich auch ableiten, dass der Keim nur ein einziges Mal auf den Menschen übergesprungen war und sich in der Folge nur noch von Mensch zu Mensch übertrug.
Die Wissenschaftler vermuten, dass das Virus schon Wochen oder sogar Monate zirkulierte, bevor die ersten schweren Fälle auftraten. Es sei nämlich ziemlich stabil, und viele Infizierte hätten offenbar nur leichte Symptome. »Es könnte diverse Miniausbrüche gegeben haben, die immer wieder erloschen, bevor das Pathogen größeren Schaden anrichtete«, vermutet Baric. »Der Ausbruch von Wuhan war kein Zufall.« Mit anderen Worten, es war geradezu unvermeidbar.
Die Wirte und Zwischenwirte des Virus
Auf den geschäftigen Wildmärkten der Region werden die verschiedensten Tiere angeboten – Fledermäuse, Zibetkatzen, Pangoline, Dachse, Krokodile. Viren haben hier beste Bedingungen, sich zu vermengen. Es kann zwar sein, dass sich der Mensch mit dem tödlichen Virus direkt bei Fledermäusen angesteckt hat. Doch manche Forscher sind der Ansicht, die Pangoline hätten als Zwischenwirte gedient. Diese Wissenschaftler haben Sars-CoV-2-ähnliche Coronaviren bei Schuppentieren entdeckt, die bei Razzien in Südchina beschlagnahmt wurden.
Am 24. Februar 2020 kündigte die chinesische Regierung an, den Verzehr und Handel mit Wildtieren dauerhaft zu untersagen. Ausgenommen sind Zootiere und die Verwendung von Wildtieren für medizinische und allgemeine Forschungszwecke. Laut einem Bericht, den die Chinesische Akademie für Ingenieurwesen 2017 in Auftrag gegeben hatte, wird damit ein Markt im Wert von 76 Milliarden Dollar zerschlagen. Etwa 14 Millionen Menschen dürften ihre Arbeit verlieren. Einige Experten begrüßten die Entscheidung, andere wie Daszak befürchteten, dass ein pauschales Verbot – ohne begleitende Aufklärung und das Angebot beruflicher Alternativen – die Händler in den Untergrund treiben könnte. Dann könnte es noch schwieriger werden, neuartige Erkrankungen zu entdecken. »Der Verzehr von Wildtieren ist seit Jahrtausenden eine Kulturtradition in Südchina«, sagt Daszak. »Das lässt sich nicht über Nacht ändern.«
»Der Ausbruch von Wuhan war kein Zufall«Ralph Baric, Virologe an der University of North Carolina in Chapel Hill
Doch Shi Zhengli betont: »Der Handel und der Konsum von Wildtieren sind nur ein Teil des Problems.« Ende 2016 erkrankten auf vier Bauernhöfen im Bezirk Qingyuan in Guangdong zahlreiche Schweine – fast 100 Kilometer von dem Ort entfernt, an dem der Sars-Ausbruch seinen Anfang nahm. Die Tiere mussten sich erbrechen und hatten starken Durchfall. Fast 25 000 Schweine starben. Die Tierärzte konnten keinen bekannten Erreger nachweisen und fragten bei Shi an. Ihre Forschergruppe stellte fest: Der Erreger des Akuten Durchfallsyndroms bei Schweinen (Swine Acute Diarrhea Syndrome, kurz Sads) stimmte zu 98 Prozent mit dem Erbgut eines Coronavirus überein, das in Hufeisennasen einer nahe gelegenen Höhle zirkulierte.
»Wir haben ernsthaft Grund zur Sorge«, sagt Gregory Gray, Epidemiologe für Infektionskrankheiten an der Duke University in Durham. Da Schweine und Menschen ein sehr ähnliches Immunsystem haben, könnten solche Viren leicht von einer Spezies auf die andere überspringen. Darüber hinaus fand ein Forscherteam der Zhejiang-Universität in Hangzhou heraus, dass die Sads-Viren nicht nur Mensch und Schwein befallen, sondern auch Nager, Hühner und Primaten. In vielen Ländern wie China und den USA werden zahlreiche Schweine gehalten. Laut Gray ist es daher dringend erforderlich, nach neuartigen Coronaviren in Schweinen zu suchen.
Gute Fledermäuse, schlechter Kontakt
Der Ausbruch von Wuhan ist der sechste einer Serie von Infektionskrankheiten, die von Fledermausviren verursacht wurden – nach Hendra 1994, Nipah 1998, Sars 2002, Mers (»Middle East Respiratory Syndrome«) 2012 und Ebola 2014. »Die Tiere [selbst] sind aber nicht das Problem«, betont Linfa Wang von der Duke-NUS Medical School in Singapur. Fledermäuse stützen die biologische Vielfalt und erhalten Ökosysteme aufrecht, indem sie Insekten fressen und Pflanzen bestäuben. »Problematisch wird es, wenn wir mit ihnen in Kontakt kommen«, sagt Wang.
Inzwischen sind zweieinhalb Monate seit Ausbruch der Epidemie vergangen. Vor acht Wochen noch stellte die chinesische Regierung die elf Millionen Einwohner von Wuhan unter massenhafte Quarantäne. Verglichen damit würde sich das Leben jetzt fast wieder normal anfühlen, sagt Shi und lacht. »Vielleicht gewöhnen wir uns langsam daran. Aber die schlimmsten Tage sind sicherlich vorüber.« Die Mitarbeiter des Instituts hatten einen speziellen Pass, um von zu Hause aus zu ihrem Labor fahren zu können. Doch sie konnten nirgendwo anders hingehen. Über einen Monat lang ernährten sie sich während langer Laborschichten von Instantnudeln, weil die Kantine des Instituts geschlossen hatte.
Wie die Forscher herausfanden, nutzt das neue Coronavirus das Angiotensin-konvertierende Enzym 2 (ACE2) als Rezeptor, um in menschliche Lungenzellen einzudringen. Shis Team forscht nach Medikamenten, die das Enzym blockieren könnten. Wie andere Forschergruppen auch sucht es nach Impfstoffen. Langfristig will die Gruppe Breitbandimpfstoffe und Medikamente gegen solche Coronaviren entwickeln, die als gefährlich für den Menschen gelten. »Der Ausbruch von Wuhan ist ein Weckruf«, sagt Shi.
Viele Wissenschaftler sind überzeugt davon, dass wir nicht erst dann auf tödliche Krankheitserreger reagieren dürfen, wenn es zu einem Ausbruch kommt, sondern schon zuvor aktiv nach ihnen suchen müssen. »Der beste Weg ist die Prävention«, sagt Daszak. 70 Prozent der durch Tiere übertragenen, neu auftretenden Infektionskrankheiten stammen von wilden Tieren – »wir sollten also all diese Viren weltweit finden und bessere diagnostische Tests entwickeln«, fügt er hinzu. Das würde bedeuten, dass sehr viel mehr Wissenschaftler solchen Forschungen nachgehen müssen wie Daszak und Shi.
»Der beste Weg ist die Prävention – wir sollten also all diese Viren weltweit finden und bessere diagnostische Tests entwickeln«Peter Daszak, Präsident der EcoHealth Alliance, New York City
Die Arbeiten sollten sich auf Hochrisikovirusgruppen bei solchen Säugetieren konzentrieren, die für Coronavirusinfektionen anfällig sind, wie Fledermäuse, Nagetiere, Dachse, Zibetkatzen, Schuppentiere und nicht menschliche Primaten, sagt Daszak. Seines Erachtens verläuft die vorderste Front im Kampf gegen die Erreger in den Entwicklungsländern tropischer Klimazonen, weil dort die Vielfalt der Wildtiere am größten ist.
In den zurückliegenden Jahrzehnten haben Daszak und seine Kollegen etwa 500 menschliche Infektionskrankheiten aus dem vergangenen Jahrhundert analysiert. Ihr Ergebnis: Neue Krankheitserreger treten tendenziell an solchen Orten auf, an denen die Bevölkerung eng zusammenlebt und die natürliche Landschaft verändert wird – durch Straßen, Bergbau, Waldrodungen und intensive Landwirtschaft. »China ist nicht der einzige Hotspot«, ist Daszak überzeugt. Schwellenländer wie Indien, Nigeria und Brasilien seien ebenfalls stark gefährdet.
Sobald irgendwo ein potenzieller Krankheitserreger entdeckt wird, sollten die Wissenschaftler und Gesundheitsbehörden regelmäßig testen, ob es zu Infektionen gekommen ist. Es sollten dafür Blutproben und Abstriche von Nutztieren, gezüchteten Wildtieren und Menschen genommen werden, vor allem von Hochrisikogruppen wie Landwirten, Bergarbeitern und Dorfbewohnern nahe Fledermauskolonien sowie von Menschen, die Umgang mit Wildtieren haben, sagt US-Virologe Gregory Gray. Mit diesem Ansatz, der auch als »One Health« bekannt ist, soll einheitlich die Gesundheit von Wild-, Haus- und Nutztieren sowie des Menschen kontrolliert werden. »Nur so können wir einen Ausbruch eindämmen, bevor er zur Epidemie auswächst«, sagt Gray. Mit dieser Vorgehensweise ließen sich möglicherweise auch hunderte Milliarden Dollar sparen, die eine solche Epidemie kosten kann.
Chinas Batwoman hingegen hat den Entschluss gefasst, nicht mehr persönlich auf Virenjagd zu gehen. »Aber der Einsatz muss weitergehen«, sagt Shi, die weiterhin einschlägige Forschungsprogramme dazu leiten wird. »Was wir entdeckt haben, ist nur die Spitze des Eisbergs.« Daszaks Team schätzt, dass weltweit bis zu 5000 Coronaviren-Stämme in Fledermäusen schlummern. Shi will dazu ein nationales Projekt gründen, um systematisch Virenproben aus Fledermaushöhlen zu gewinnen – in größerem Umfang und mit mehr Aufwand, als es ihrem Team bislang möglich war. »Coronaviren, die in Fledermäusen zirkulieren, werden weitere Ausbrüche verursachen«, ist Shi Zhengli überzeugt. »Wir müssen sie finden, bevor sie uns finden.«
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