Eugène Delacroix: Freiheit oder: Die Furcht vor dem Funken
Nur wenige Bilder auf der Welt haben die Macht die Mächtigen schwach wirken zu lassen. Eugène Delacroix' Meisterwerk ist eines davon: Regelmäßig haben es Herrscher dem Blick der Öffentlichkeit entzogen, aus Furcht vor dem Funken, der überspringen könnte. Die Mächtigen fürchten zu Recht. Bis heute wird das Bild genutzt, wenn es auf den Straßen in Frankreich unruhig wird. Dabei geht es längst nicht mehr um den Sturz des Königs; es geht um ein Volk, das aufsteht gegen die als ungerecht empfundene Ausübung der Macht. Das Bild ist wie eine Schablone, die einen Impuls auslöst: Das Volk von Frankreich, so geht die Erzählung, steht auf, nimmt sein Schicksal selbst in die Hand, stürmt Gefängnisse, Barrikaden, Triumphbögen und folgt der mächtigen Göttin der Freiheit. »Die Freiheit führt das Volk« ist das Bild der Revolution schlechthin. Und genau deshalb lässt es sich so leicht aus dem historischen Kontext herauslösen und auf jeden Anlass übertragen. Dabei stellte der Maler, der heute vor 225 Jahren geboren wurde, ein konkretes Ereignis dar.
Der 28. Juli 1830 ist ein sehr heißer Tag. Dort, wo die Kämpfe tobten, war es vermutlich besonders heiß. Es ist der zweite Tag von dreien, die das französische Volk damals brauchte, um seinen König zu stürzen. Karl X. hatte in den Juliordonnanzen die Abgeordnetenkammer aufgelöst und die Pressefreiheit kassiert. Das Volk erinnerte sich ungut an Ludwig XVI., den es nach der berühmten Revolution von 1789 aufs Schafott gebracht hatte. Das war eine Generation früher. Nun machte sich wieder ein König daran, sie zu unterdrücken. »Allons enfants de la patrie«, auf geht's, Kinder des Vaterlands, wie es in der Marseillaise heißt: auf die Straßen, auf die Barrikaden! Delacroix malte genau den Moment der Geschichte, an dem die Kämpfe zwischen Volk und Soldaten ihren Höhepunkt erreichten.
Das ahistorische Historienbild
Wir spüren die Hitze, wenn wir vor das Bild treten. Selbst im klimatisierten Louvre, im großen roten Saal mit den Historienschinken. Wer das Glück hat, ohne Menschenmassen vor dem Bild zu stehen, fühlt die Hitze des Moments. Der Staub klebt an den Körpern, die Toten sind noch warm, die brennenden Barrikaden im Hintergrund strahlen Hitze ab, die abgefeuerten Gewehre der Soldaten riechen nach verbranntem Pulver. Es riecht nicht nur nach Pulver, Rauch und Feuer, es riecht nach Körper, nach Schweiß, Blut und dreckigen Füßen. Der Betrachter sieht sich nicht etwa auf Augenhöhe mit der Allegorie der Freiheit – wir schauen ihr direkt auf den schmutzigen Fuß, der kraftvoll ausschreitet und vermutlich beim übernächsten Schritt auf einen Toten tritt. Sie schaut nicht, wo sie hingeht, weil sie sich umdreht zu denen, die ihr folgen auf ihrem Weg über Leichen.
Die Menschen, die sie umgeben und zu ihr aufschauen, stammen aus dem Volk und repräsentieren unterschiedliche Typen. Der Mann mit Zylinder und Jagdgewehr wird oft als Bürger gelesen. Dabei trägt er Arbeiterhosen. Manche sehen in ihm mit seinem zweifelnden Blick ein Selbstporträt des Malers, der nicht weiß, auf wessen Seite er steht. Der Verwundete, der sich mit letzter Kraft zur Liberté hochstemmt, ist gekleidet wie ein Hilfsarbeiter vom Land. Der Junge mit dem Barrett wirkt wie ein Schüler, der in seiner Umhängetasche Patronen sammelt. Victor Hugo soll ihn als Vorbild für Gavroche genommen haben, den Jungen auf den Barrikaden im Roman »Les Misérables«. Das Bild ist gesellschaftlich, historisch und künstlerisch anschlussfähig in mehrere Richtungen. Es verweist über das Profil der Liberté und ihr Gewand in die Antike, über Notre Dame im Hintergrund ins Mittelalter, über die Kleider der Menschen auf die große Revolution und die Napoleonischen Kriege. Es weist aber auch in die Zukunft, über Barrikaden hinweg. All das wird abgerufen, wenn eine Frauenfigur mit Fahne auftritt.
Liberté: Göttin, Hure, Mädchen aus dem Volk
Wer aber ist diese zentrale Figur, die dem Bild so viel Kraft und Bewegung gibt? In der Liberté, der Allegorie der Freiheit, verdichtet sich vieles, was für das ganze Bild gilt. Als Göttin der Freiheit müsste sie eigentlich ein Ideal sein. Doch schon Heinrich Heine, der das Gemälde auf dem Pariser Salon 1831 ausgestellt sah, brachte es auf den Punkt: Er sieht sie gleichermaßen als Freiheitsgöttin und Gassenvenus, sie ist die personifizierte »wilde Volkskraft«, das Mädchen aus dem Volk und die griechische Göttin. Ihr Profil gleicht dem auf einer antiken Münze, das Kleid ist verrutscht und lässt ihren Oberkörper frei, wir sehen die staubbedeckten Brüste und die behaarte Achselhöhle. Es war ein Skandal. Und ein Triumph. Diese Göttin der Freiheit war nicht abgehoben, sauber, marmorsteril, sondern kraftstrotzend, natürlich und entschlossen. Deshalb bietet sie so viele Identifikationsmöglichkeiten. Deshalb dient sie als Abziehbild der Freiheit. Weil ihr Profil an alte Münzen erinnert, wirkt es schlüssig, dass sie ab 1978 auf dem 100-Franc-Schein abgebildet war. Die Freiheit für den Geldbeutel, das Bild der halbnackten Heldin im ständigen Umlauf.
Ihr Kleid rutscht ihr von der Schulter, sie kann es kaum halten. Mit der rechten Hand fasst sie die Fahne, mit der Linken das Gewehr samt aufgepflanztem Bajonett. Zweifellos würde sie es gebrauchen, wenn sich ihr jemand in den Weg stellt. Andere schwingen Säbel, Pistolen oder Pflastersteine, für jeden gibt es eine passende Waffe. Die Haare der Liberté sind zusammengehalten von einer Mütze, die als Jakobinermütze gelesen wird, die aber auch von Bonapartisten getragen wurde. Widersprüchlich ist nicht nur die Freiheitsgöttin, sondern das ganze Bild. Das tut seiner Anschlussfähigkeit keinen Abbruch. Im Gegenteil.
Der Barrikadenspaziergänger
Delacroix war kein Revolutionär. Er hat nicht gekämpft, sondern beschreibt sich in einem Brief an seinen Bruder als »harmlosen Spaziergänger« in den Revolutionstagen. Eine Kugel hätte er sich wohl fangen können, denn die flogen überall herum, abgefeuert von Soldaten oder Jungen, wie dem, der an der Seite der Liberté mit Pistolen in zwei Richtungen zielt. Er habe nicht gekämpft, mit dem Bild habe er dennoch dem Vaterland einen Dienst erwiesen. Sich selbst freilich auch. Er brauchte dringend Erfolg. Sein letztes großes Bild, »Der Tod des Sardanapal«, war ein Skandal, er eckte an, er wurde kritisiert für die krude Körperlichkeit seiner Figuren, für den Schmutz und den Schmerz, für die Motive, die nicht klassizistisch waren, nicht interpretierbar, sondern farbiger, lebendiger, dreckiger.
Einen Tag nach der im Bild dargestellten Szene hatte König Karl seine Verordnungen zurückgenommen und zu retten versucht, was zu retten war. Da gab es aber nichts. Keine Woche später befand er sich auf dem Weg ins Exil. Nutznießer des Ganzen war Louis-Philippe von Orléans, der nun an Karls statt regierte. Der »Bürgerkönig« war einst selbst begeisterter Kämpfer gegen die absolute Monarchie gewesen. Nun hatte ihn die Julirevolution an die Spitze des Staats gespült. Entsprechend willkommen waren ihm Künstler, die sie gekonnt in Szene setzten.
Delacroix, gerade 32 geworden, brauchte das Geld, und er wollte seinen Draht zum Staat nicht verlieren. Schließlich vergab jener die Aufträge, von denen er lebte. Und vermutlich waren seine Beziehungen in die Politik enger, als viele Zeitgenossen ahnten. Er gilt als der illegitime Sohn des legendären Talleyrand: Charles-Maurice de Talleyrand-Périgord war enger Berater und Außenminister verschiedener politischer Akteure, der mal den Revolutionären nahestand, mal Napoleon und schließlich Louis-Philippe.
Freiheit im Versteck
Denn auch wenn gelegentlich Gelder von unbekannten Gönnern ankamen, es reichte nicht. Delacroix taugte nicht zum darbenden Bohemien, er war eher ein Dandy und legte Wert auf saubere Hemden. Die Barrikaden malte er mit Louis-Philippe als Käufer im Sinn, und seine Rechnung ging auf. Unter 40 Revolutionsbildern wählte der König das von Delacroix. Er stellte es einige Monate im Palais de Luxembourg aus, dann zog er es zurück; es galt als aufrührerisch und landete im Depot. Je nach Stimmung wurde es gezeigt, etwa 1848, als Paris wieder auf die Barrikaden ging und Louis-Philippe absetzte. Aber erst 1874, elf Jahre nach Delacroix' Tod, kam die Liberté in den Louvre – wo sie bis heute einer der großen Publikumsmagnete ist. Dabei müssen die Menschen gar nicht in den Louvre, um die Freiheit zu sehen. Regelmäßig finden die Freiheitsgöttin und ihr junger Begleiter den Weg auf die Titelseiten verschiedener Magazine, auf Graffitis und in die Zeitungen. Bei jedem Protest, jeder Wahl, jeder Rentenreform. Die Liberté ist unendlich zitierbar.
Wahre Kunst veraltet nicht, schrieb Delacroix einmal. Für »La Liberté guidant le peuple« gilt das in besonderem Maß. Liegt es an der Komposition der Linien und der Farben, am pyramidalen Aufbau, an der derben Kreatürlichkeit der Figuren? Liegt es an der Anschlussfähigkeit des Motivs? Den Pulverdampf und die Hitze erleben wir nur vor dem Original. Das Motiv erkennen wir in jeder Karikatur. Beides hat seine Berechtigung. Freiheit für alle.
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