Organspende: Die Furcht zu geben
Manchmal schlägt ein privater Hilfeakt auch in der Öffentlichkeit Wellen. So etwa, als sich der SPD-Fraktionsvorsitzende Frank-Walter Steinmeier im Sommer 2010 für einige Wochen aus der Politik zurückzog, um seiner erkrankten Ehefrau eine Niere zu spenden. Dies löste eine heftige Diskussion um die Organspende und das bestehende Transplantationsgesetz aus. Nach geltendem Recht dürfen Lebende nur spenden, wenn sich kein geeignetes Organ von verstorbenen Personen finden lässt. Der Fall Steinmeier machte also einmal mehr deutlich, dass es in Deutschland gravierend an Spenderorganen mangelt, weil zu wenige Menschen einer Entnahme nach ihrem Tod zustimmen.
Vor einigen Wochen ist eine Änderung des Transplantationsgesetzes in Kraft getreten. Die Krankenkassen müssen ihre Mitglieder jetzt regelmäßig fragen, ob diese im Todesfall zur Organspende bereit sind – und ob sie ihre Entscheidung entsprechend dokumentieren. Denn in Deutschland dürfen verstorbenen Menschen nur dann Organe entnommen werden, wenn sie dem zu Lebzeiten ausdrücklich zugestimmt haben. Die neue Regelung soll mehr Menschen dazu bewegen, einen Spendeausweis zu tragen, auf dem ihre Entscheidung festgehalten ist.
Organmangel ist in Deutschland schon seit Jahren ein Problem, wie in vielen anderen Ländern auch. Nach Angaben der Deutschen Stiftung Organtransplantation (DSO) warteten im Januar 2012 bundesweit schätzungsweise 12 000 Menschen auf ein Spenderorgan. Im vergangenen Jahr erhielten aber gerade einmal 4054 Patienten eines. Die Folge: lange Wartelisten und viele Patienten, die sterben, bevor ein passendes Organ gefunden ist.
Warum sträuben sich so viele Menschen gegen eine Organspende nach dem Tod, die anderen Menschen das Leben retten kann? Niemand benötigt nach dem Ableben noch ein Herz, eine Lunge oder eine Niere. Dies haben sich Mediziner und Psychologen in jüngster Zeit immer wieder gefragt. Einer von ihnen ist Joshua Newton von der Monash University in Australien. Er analysierte 24 Studien, die zwischen 1990 und 2008 veröffentlicht worden waren und bei denen Wissenschaftler sowohl Spender als auch Nichtspender zu deren Beweggründen befragt hatten.
Demnach lehnten viele Menschen eine Organspende aus religiösen Motiven ab. Zahlreiche Gläubige gaben an, die Integrität ihres Körpers auch nach dem Tod erhalten zu wollen, um sicher ins nächste Leben zu gelangen. Manche waren der Meinung, die Entnahme von Körperteilen verstoße gegen die Bestattungsriten ihrer Religion, etwa wenn nur nahe Angehörige den toten Körper berühren dürfen. Oft empfanden die Teilnehmer eine Organspende als Handlung, die dem Willen Gottes oder einer anderen höheren Macht widerspricht.
Religiosität kann die Spendebereitschaft aber auch fördern, wie die Befragungen weiter ergaben. Denn einige Gläubige fühlten sich besonders der Nächstenliebe verpflichtet und waren deshalb eher zur Organentnahme nach dem Tod bereit. Eine große Rolle spielt zudem, wie Menschen ihrer eigenen Sterblichkeit gegenüberstehen: Laut Newton schrecken Menschen, die ihren eigenen Tod nur ungern thematisieren, auch beim Thema Organspende vor einer Entscheidung zurück. Umgekehrt kann die Auseinandersetzung mit dem Sterben die Bereitschaft erhöhen, anderen ein Körperteil zu überlassen. So mancher Befragte sah darin eine Möglichkeit, über den Tod hinaus "weiterzuleben".
Zweifel am Gesundheitswesen
Großen Einfluss auf die Spendebereitschaft hat – wenig überraschend – die Neigung zum Altruismus. Menschen, die grundsätzlich den Drang verspüren, anderen zu helfen, sind häufig auch zum Weitergeben von Niere, Leber oder Lunge bereit. Wer sich dagegen sozial oder kulturell isoliert fühlt, ist hier zurückhaltender. Ähnlich stark wirkt sich die persönliche Betroffenheit aus. Wer jemanden kennt, der auf ein Organ angewiesen ist, setzt sich naturgemäß eher mit dem Thema auseinander. Und gibt es nahe Angehörige, die ein Organ gespendet haben, entscheidet man sich selbst auch häufiger dazu, einen Spendeausweis mit sich zu führen.
In der Türkei ist die Bereitschaft zur Organspende an Fremde besonders schlecht – drei von vier transplantierten Körperteilen stammen von nahen Familienangehörigen. Tonguc Yilmaz vom Gazi University Transplantation Center in Ankara befragte männliche Muslime aus verschiedenen sozialen Milieus zu ihrer Einstellung und dem Vorwissen in Sachen Organspende. Anschließend bekamen die Versuchsteilnehmer Unterricht zum Thema Organspende und -transplantation. Erklärt wurde etwa, welche Gesetze es dazu gibt, welche Körperteile gespendet werden können, wie der Koran zu dem Thema steht oder was medizinische Begriffe wie "Hirntod" bedeuten. Zu Beginn der Studie lehnte mehr als die Hälfte der Befragten die Organspende ab – zwei Monate später stellte sich nur noch jeder Achte dagegen und fast alle konnten erklären, was es etwa mit dem Hirntod auf sich hat.
Doch was spricht gegen die Organspende? Einer der wichtigsten Gründe, die immer wieder genannt werden, ist Misstrauen gegenüber Ärzten und dem Gesundheitssystem. Das ergab unter anderem eine Studie der Psychologin Melissa Hyde von der Queensland University of Technology (Australien). Hyde und ihr Team versuchten in Fragebögen herauszufinden, wie sich solche Vorbehalte auf die Spendebereitschaft auswirken. Dabei zeigte sich, dass rund die Hälfte der befragten Nichtspender und immerhin ein Fünftel der Spender kein Vertrauen in Ärzte und Krankenhäuser hatten.
Einige vermuteten etwa, dass Menschen, die der Organentnahme nach dem Tod zugestimmt haben, lebenserhaltende Maßnahmen nach schweren Unfällen vorenthalten würden. Andere fürchteten sich davor, dass ihnen die Organe entnommen werden könnten, bevor sie überhaupt tot seien. Hier traten große Wissenslücken über die medizinischen Hintergründe zu Tage (siehe Bildunterschrift "Hirntod und Organspende"). Auch die Sorge, gespendete Organe könnten an Empfänger gelangen, die diese "nicht verdient" hätten – etwa Patienten, die durch Alkohol oder Drogen ihre Leber zerstörten – war oft zu hören.
Der Organspendeskandal an verschiedenen deutschen Kliniken, der in den vergangenen Monaten in den Schlagzeilen war, hat das Vertrauen ins Gesundheitssystem sicher nicht gefördert. So meldete die Deutsche Stiftung Organtransplantation im Oktober, die Spendebereitschaft 2012 sei im Vergleich zum Vorjahr um rund elf Prozent gesunken. Auch über die Stiftung selbst konnte man in der Vergangenheit nicht nur Positives lesen: So wurden seit etwa einem Jahr immer wieder Vorwürfe laut, die Organisation würde Gelder verschwenden und ihre Mitarbeiter unter Druck setzen.
Psychologen suchen schon seit Langem nach Wegen, die Bereitschaft zur Organspende zu fördern. Einen nahe liegenden, wenn auch ethisch zweifelhaften Ansatz verfolgten die Psychologin Francesca Bosisio und ihre Kollegen von der Schweizer Université de Lausanne. Die Forscher fragten mehr als 4000 Menschen, ob diese sich als Organspender registrieren lassen würden, falls sie eine materielle Zuwendung dafür bekämen. Drei Arten von (fiktiven) Belohnungen standen zur Wahl: direkte Geldzahlungen, indirekte Zuwendungen wie Steuererlass oder niedrigere Beitragskosten für die Krankenversicherung und schließlich nichtfinanzielle Belohnungen wie zusätzliche Urlaubstage oder eine bevorzugte Behandlung, falls man selbst einmal ein Spenderorgan benötigen sollte.
Die meisten Befragten lehnten solche Entschädigungen ab, da sie die Organspende als selbstlosen Akt ansahen oder der Ansicht waren, dass man einem Organ keinen Geldwert zuordnen kann. Wer eine Belohnung annahm, bevorzugte indirekte und nichtfinanzielle Zuwendungen. Bosisio und ihre Kollegen folgerten aus diesen Ergebnissen, dass finanzielle Entschädigungen das Image der Organspende wohl eher beeinträchtigen würden.
Eine subtilere Methode untersuchte der Kommunikationswissenschaftler Xiao Wang vom Rochester Institute of Technology (USA). Er befragte US-Studenten nach ihrer Einstellung zur Organspende, ihren persönlichen Normen und Werten – sowie nach den Schuldgefühlen, die sie wohl empfinden würden, wenn sie sich gegen eine Organspende entschieden. Der Hinweis auf ein mögliches schlechtes Gewissen blieb nicht folgenlos: Je stärkere Schuldgefühle die Teilnehmer erwarteten, desto eher waren sie zum Spenden bereit.
Allerdings bedeutet eine positive Einstellung zur Organspende noch nicht, dass sich die Betreffenden auch einen Spendeausweis zulegen. In einer Umfrage der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung im Jahr 2010 waren fast drei Viertel von den rund 4000 Interviewten grundsätzlich mit einer Organ- und Gewebeentnahme nach dem Tod einverstanden. Einen Spendeausweis besaß aber nur jeder vierte Befragte. Um die Zahl der Spender zu erhöhen, reicht es also nicht, die Einstellung der Menschen zu verändern – man muss sie auch dazu bewegen, entsprechend zu handeln.
Die kürzlich beschlossene Änderung des Transplantationsgesetzes zielt genau darauf ab. Die befragten Bürger sollen nicht nur Informationen erhalten, sondern auch einen Spendeausweis, den sie dann nur noch ausfüllen und einstecken müssen. Inwieweit das Erfolg hat, wird sich wohl frühestens in einem Jahr zeigen. Denn laut Gesetz haben die Krankenkassen bis zum 1. November 2013 Zeit, ihre Mitglieder in dieser Sache anzuschreiben.
Die wirksamste Methode, mehr Spender zu gewinnen, bleibt vorerst die gesetzliche Praxis der "Widerspruchsregelung". Sie gilt etwa in Kroatien, Belgien und Österreich. Danach kommt jeder als Organspender in Frage, der zu Lebzeiten nicht ausdrücklich widersprochen hat. In Österreich etwa hat sich dieses Vorgehen bewährt: Dort gab es im Jahr 2011 zirka 23 Organspender pro eine Million Einwohner, während es in Deutschland kaum 15 waren. Ob sich die Widerspruchsregelung auch hier zu Lande durchsetzen wird, ist jedoch fraglich. Bislang gibt es keinen parteiübergreifenden Konsens in dieser Frage.
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