News: Die geheime Ordnung
Viele Forscher tendierten eher zum ungeordneten, gasförmigen Zustand, weswegen sie dafür die Bezeichnung "amorph" - das heißt gestaltlos oder strukturlos - einführten. Allenfalls eine gewisse Nahordnung wollte man den amorphen Substanzen zusprechen, also eine Ähnlichkeit mit dem kristallinen Zustand hinsichtlich Abstand und Orientierung zu den nächsten Nachbarmolekülen.
James Martin von der North Carolina State University ist da inzwischen ganz anderer Meinung: "So wie eine Symphonie viel mehr ist als eine ungeordnete Ansammlung von Noten, so sind auch die Atome und Moleküle in einer Flüssigkeit organisiert - eher wie in einem Kristall als wie in einem Gas." Und wie bei so vielen Entdeckungen stand auch hier der Zufall Pate.
Martin hatte sich zunächst auf die Herstellung von anorganischen Kristallen mit erwünschten Eigenschaften spezialisiert. Als Abfallprodukte entstanden dabei aber immer wieder eine Menge Flüssigkeit und glasartige Klümpchen, denen er zunächst keine Beachtung schenkte. Irgendwann wurde er doch neugierig und beschäftigte sich näher mit dem molekularen Aufbau dieser Substanzen. Er kam zu der Überzeugung, dass sich Verbünde - eine Ansammlung von Netzwerken - im scheinbar unzusammenhängenden Gewusel der Moleküle versteckten. Und wenn es diese Struktur gab, dann konnte sie auch - ähnlich wie Festkörper - beeinflusst werden.
Und genau das taten der Forscher und seine Kollegen dann auch. Sie übertrugen das Know-how für die Herstellung von Designer-Kristallen auf Glase. Tatsächlich gelang es ihnen, verschiedene Alkylammonium-Salze so anzupassen, dass sie in die Nanometer-großen Netzwerke von Zink-Chlorid-Glas (ZnCl2) fest eingebaut werden konnten, ohne sie zu zerstören. Das so entstandene Material zeigte veränderte optische und elektrische Eigenschaften. Die Chemiker experimentierten auch mit unterschiedlichen Konzentrationen der eingeschleusten Salze und konnten damit die Eigenschaften des Glases unterschiedlich stark beeinflussen.
Damit wurde ein ganz neuer Forschungszweig erschlossen, denn die Forscher sind der Überzeugung, dass sich auch andere Glase und sogar Flüssigkeiten auf eine ähnliche Weise manipulieren lassen - mit wahrscheinlich vielfältigen Anwendungsmöglichkeiten zum Beispiel in der Computerindustrie oder Kommunikationstechnologie.
Aber auch für die Grundlagenforschung haben die Wissenschaftler einiges getan. Sie bewiesen, dass amorphe Substanzen tatsächlich viel organisierter sind als bisher gedacht und entschieden so den langjährigen Streit zugunsten einer eher kristallinen Struktur.
Allerdings muss die Ursache für die auftretenden Strukturen in Glas noch näher untersucht werden. Martin schlägt daher vor, die eigentlich für Festkörper entwickelten Gittermodelle - unter Berücksichtigung der Eigenbewegung der Moleküle - auch auf Flüssigkeiten und Glase anzuwenden. Die Entstehung und das Verhalten von Netzwerken in amorphen Stoffen könnte so noch besser verstanden und natürlich auch kontrolliert werden. Den Begriff "amorph" wird man dann womöglich nicht mehr verwenden.
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