News: Die Grundlagen der Legasthenie
Jonathan B. Demb und seine Kollegen von der Stanford University verglichen die Aktivität in verschiedenen Regionen des Hirns bei Legasthenikern und Nicht-Legasthenikern. Zu diesem Zweck wurden den Versuchspersonen Bilder gezeigt, die unterschiedliche visuelle Reizbahnen in verschiedenem Umfang aktivieren sollten.
Je aktiver die Zellen des Hirn sind, desto mehr Sauerstoff verbrauchen sie. Aus diesem Grunde konnten die Forscher zur Aktivitätsmessung die Magnetresonanz-Tomographie einsetzen – eine Methode, mit welcher der Sauerstoffpegel in verschiedenen Regionen des Gehirns festgestellt werden kann. Die Wissenschaftler fanden heraus, daß eine der zwei wichtigsten Hirnschichten für die Verarbeitung visueller Reize bei Legasthenikern weniger aktiv war als bei Nicht-Legasthenikern. In dieser sogenannten magnocellulären Schicht werden vor allem Informationen über Tiefe und Bewegung verarbeitet. Diese Schicht zeigte auch die Unterschiede in der Größe bestimmter Zellgruppen. Die parvocelluläre Schicht, die für die Wahrnehmung von Farbe und Form verantwortlich ist, zeigte weder von der Aktivität, noch von der Größe her Unterschiede.
Die Schwere der Lesestörung spiegelt sich ebenfalls in der Aktivität wider: Bei den Personen mit den größten Leseschwierigkeiten zeigten sich auch die niedrigsten Aktivitäten in der magnocellulären Schicht.
Diese Ergebnisse sprechen gegen eine der bisher populärsten Erklärungen: Es wurde vermutet, daß in der magnocellulären Schicht die Verarbeitung von Bildern nicht unterdrückt wird, solange sich die Augen bewegen. Diese Idee schien zum Beispiel zu erklären, wieso Wörter wie bei einer Doppel-Belichtung zu verschmelzen scheinen. Dieser Theorie widerspricht aber die nun beobachtete niedrigere Aktivität der entsprechenden Verarbeitungswege bei den Legasthenikern.
Aber wie sollten Probleme bei der Verarbeitung von Signalen, die die Tiefe und die Bewegung betreffen, Leseschwierigkeiten hervorrufen? John Stein und Vincent Walsh von der University of Oxford erklären es so, daß die magnocelluläre Schicht dafür konzipiert ist, schnelle, zeitliche Informationen zu verarbeiten. Diese Beschreibung trifft sicherlich auf den Lesevorgang zu, bei dem rasch aufeinanderfolgende Reihen von Bildern aufgenommen werden.
Die magnocelluläre Hirnschicht verarbeitet ebenfalls Informationen über Tiefe, die häufig einher geht mit den geringfügig verschiedenen Ansichten, die wir durch die beiden Augen erhalten. Binokulare Instabilität ist eines der Symptome bei Legasthenie, was auch mit Problemen bei der Tiefenwahrnehmung zusammenhängen kann. Teilweise schwankt der Blick beim Versuch, Kleingedrucktes zu lesen, und teilweise können Legastheniker besser lesen, wenn sie es nur mit einem Auge versuchen.
Stein und Welsh betonen, daß die Hintergründe der Legasthenie extrem kompliziert und vielschichtig erscheinen: Ein einziges Defizit im Bereich der Seh-, Hör- oder Bewegungsfähigkeit scheint unwahrscheinlich. Aber die gezeigten Unterschiede in der Hirnaktivität sind ein erster direkter Hinweis darauf, daß es ein spezielles Problem bei der Verarbeitung von visuellen Reizen gibt.
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