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Geschlechterklischees: Lehrkräfte überschätzen Jungen in Mathe und Mädchen in Sprache

Können Jungen wirklich besser rechnen als Mädchen? Niemand ist frei von Vorurteilen. Doch kaum irgendwo können sie so gravierende Auswirkungen haben wie in der Schule.
Kinder heben im Unterricht die Hand
Es hängt auch vom Geschlecht ab, ob Kinder im Matheunterricht positive Bestätigung erfahren – oder nicht.

Lehrerinnen und Lehrer beurteilen die Fähigkeiten von Mädchen im Bereich Sprache und von Jungen in Mathematik tendenziell besser, als es den tatsächlichen Leistungen in objektiven Tests nahelegen. Zu diesem Ergebnis kommt eine internationale Forschungsgruppe aus Deutschland, Großbritannien und den USA, an dem die Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg beteiligt ist. Die Bewertung der Leistungen von Grundschulkindern sei systematisch verzerrt, je nachdem welches Geschlecht die Schüler und Schülerinnen haben. Das wirke sich auch langfristig auf die Leistungsunterschiede zwischen Mädchen und Jungen aus. »Im Bereich Sprache werden die Fähigkeiten der Mädchen eher überschätzt und die der Jungen unterschätzt, in der Mathematik ist es genau umgekehrt«, sagte Melanie Olczyk vom Institut für Soziologie laut einer Pressemitteilung.

Für die im Journal »Social Science Research« veröffentlichte Studie werteten die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen drei große Längsschnittstudien aus Deutschland, Großbritannien und den USA aus, die Daten zu Kompetenzentwicklung und Bildungsverläufen erheben: die Millennium Cohort Study (MCS) für England, die Early Childhood Longitudinal Study (ECLS-K) für die USA sowie das Nationale Bildungspanel (NEPS) für Deutschland. Darin wurden insgesamt rund 17 000 Schülerinnen und Schüler über die Grundschulzeit hinweg begleitet, ihre Leistungen regelmäßig getestet sowie Eltern und Lehrkräfte befragt.

Grundlage der Analysen war eine Beurteilung der Leistung der Schulkinder, die von den Lehrkräften zu Beginn der Grundschulzeit erfolgte. Die Beurteilung umfasst eine Bewertung der sprachlichen und mathematischen Fähigkeiten im Vergleich zu Gleichaltrigen. Im selben Zeitraum nahmen diese Kinder an Leistungstests teil, deren Ergebnisse dann mit den Lehrkrafturteilen abgeglichen wurden.

Leistungsbewertung ist systematisch verzerrt

In der statistischen Auswertung der Daten stellte das Team fest, dass die Beurteilung der Lehrkräfte nicht vollständig auf die gemessenen Leistungen der Kinder zurückgeführt werden kann – teilweise seien die Urteile systematisch verzerrt. Mit Hilfe statistischer Methoden ließ sich eine geschlechtsbezogene Voreingenommenheit aus den Daten herauslesen. Konkret kann sich das im Unterricht dadurch äußern, dass Mädchen in Mathematik und Jungen in sprachlichen Fächern weniger warmherziges und unterstützendes sowie qualitativ minderwertiges Feedback erhalten. Auch nonverbale Signale wie ein reduzierter Blickkontakt oder Ungeduld können dazu beitragen. Allerdings gebe es messbare Unterschiede zwischen den untersuchten Ländern: Im Bereich Sprache war die Verzerrung in Großbritannien am größten, bei der Mathematik in Deutschland. In den USA fielen die Unterschiede jeweils wesentlich geringer aus.

Zudem verglichen die Forschenden die Leistungen der Kinder zu Beginn der Grundschulzeit mit denen am Ende der Grundschulzeit, um herauszufinden, ob es langfristige Effekte gibt. Dabei habe sich gezeigt, dass sich der Vorsprung der Jungen in Mathematik und der Vorsprung der Mädchen im sprachlichen Bereich über die Grundschulzeit hinweg vergrößerte, schreiben die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in ihrem Fazit. Insbesondere in Deutschland und Großbritannien ging die Schere immer weiter auf – lediglich in den USA verringerte sich die Lücke bei den sprachlichen Leistungen. Die Studie sei ein Indiz dafür, dass voreingenommene Lehrerurteile und -erwartungen zu sich selbst erfüllenden Prophezeiungen werden können.

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