Gonzojournalismus: Die Männer, die den American Dream als Drogenrausch zelebrierten
Die Erzählung »Fear and Loathing« – Angst und Schrecken – »in Las Vegas« beginnt eigentlich in Los Angeles. Sie handelt von zwei Männern, die im dauerhaften Drogenrausch von der einen Stadt zur anderen brettern und eine gewaltvolle, obszöne Version des American Dreams durchleben. Die Geschichte über eine degenerierte US-Gesellschaft ist teils fiktiv, teils beruht sie auf den Erlebnissen des Autors: Der Journalist Hunter S. Thompson war gemeinsam mit einem Kumpan auf den Roadtrip gegangen. Seine Erzählung dazu erschien vor 50 Jahren im »Rolling Stone«-Magazin. Mit ihr schuf Thompson auch eine neue Form der radikalen Erzählweise, den Gonzojournalismus.
Den Anfang nahm die Story im berüchtigten East L. A., einem Stadtteil von Los Angeles. Dort war der bekannte US-mexikanische Reporter Ruben Salazar im August 1970 auf gewaltvolle Weise gestorben. Thompson kam in die Stadt, um dessen Tod als Ausgangspunkt für eine Recherche über Rassismus und Polizeigewalt zu nehmen.
Eine Demonstration gegen den Vietnamkrieg eskalierte
Seit Salazars Tod waren die »Chicanos« (sprich »tschikanos«), die mexikanische Minderheit in Los Angeles, in Aufruhr. Salazar hatte über Polizeigewalt und die soziale Benachteiligung der Latinos berichtet. Und nun schien der Reporter heimtückisch von einem weißen Polizisten am Rand einer Demonstration ermordet worden zu sein. Bei jener Demonstration hatten die Chicanos auch die hohe Verlustrate lateinamerikanischer Einwanderer im Vietnamkrieg angeprangert. Obwohl sie damals im Südwesten der USA nur 12 Prozent der Bevölkerung stellten, lagen in fast 20 Prozent der nach Arizona, Kalifornien, Colorado, New Mexico und Texas zurückkehrenden Zinksärge gefallene Latinos. Einer der Gründe hierfür war der »poverty draft«, die Rekrutierung von Soldaten aus armen Bevölkerungsschichten. Sie betraf vor allem Latinos, Afroamerikaner und die weiße Arbeiterklasse. Jung, schlecht ausgebildet, sozial und wirtschaftlich marginalisiert hatten sie kaum Berufsaussichten. Der Militärdienst war für die Neubürger eine Möglichkeit, sich als Patrioten zu beweisen und sozial aufzusteigen – kurzum: den American Dream zu leben, vom Tellerwäscher zum Millionär.
Für den Reporter Salazar (1928–1970), der als Kind mit seinen Eltern in die USA eingewandert war, endete dieser Traum in der Silver Dollar Bar in Los Angeles. Er hatte mit seinem Kameramann die Demonstration verlassen, als die Stimmung im Protestzug zu kippen begann. Da er schon zuvor Drohungen von der Polizei erhalten hatte, die Chicanos durch seine Berichte »nicht weiter aufzuwiegeln«, befürchtete er Repressionen. Um mögliche Verfolger abzuschütteln, machte er auf dem Weg in die Redaktion einen Stopp in der Bar. Dort saß er, als er von einem Tränengasprojektil am Kopf getroffen wurde. Ein weißer Polizist hatte ohne Vorwarnung durch den geschlossenen Vorhang an der Eingangstür in die Bar geschossen. Es ist bis heute nicht geklärt, ob es sich dabei um einen gezielten politischen Mord oder um einen vorsätzlichen Unfall handelte. Das US-Gericht erkannte jedenfalls keine Tötungsabsicht und sprach den Polizisten frei.
Der American Dream stirbt
Salazars Tod verschlug Hunter S. Thompson (1937–2005) in die Westküstenmetropole. Der Journalist versuchte seit Längerem, über die Realität des American Dreams zu berichten. Ein Traum, der durch den Vietnamkrieg zum Albtraum geworden war. Der 33-Jährige hatte sich damals bereits erste Lorbeeren mit dem 1966 erschienenen Roman über die Hell's Angels verdient. Seine Innenansicht der gewalttätigen und unberechenbaren Rockerbande wurde zum Bucherfolg und verhalf dem schlaksigen Reporter aus Louisville, Kentucky, zum Durchbruch. Bei Random House hatte er dann 1967 einen Vertrag für ein weiteres Buch unterschrieben – mit dem Titel »The Death of the American Dream«. Daraus entstand später »Fear and Loathing in Las Vegas«.
Sein zweiter großer Coup war ein Artikel im 1967 gegründeten Magazin »Rolling Stone«. In der Story »The Battle of Aspen« beschrieb Thompson seine Kandidatur und den Wahlkampf um das Sheriffamt in der gleichnamigen Kleinstadt in der Nähe von Denver, Colorado. Dafür hatte er eine Bewegung namens »Freak Power« ins Leben gerufen. Thompson wollte unter anderem Drogen entkriminalisieren, Straßen für Autos zu Fußgängerzonen umwidmen, die Polizei entwaffnen und die Stadt Aspen in Fat City umbenennen, um so Investoren abzuschrecken.
Ob ihm seine erfolglose Kandidatur bei den Recherchen in der polizeifeindlichen Latino-Community von Los Angeles geschadet hat, ist nicht bekannt. Da Thompson dort aber als »gabacho« (sprich »gabatscho«) galt, als Fremder und Hillbilly, als Landei, hatte er sowieso keinen guten Stand in der aufgeheizten Stimmung nach Salazars Tod. Sein Verbindungsmann in der Stadt war der Chicano-Aktivist und Anwalt Oscar Zeta Acosta (1935–1974). Thompson und Acosta waren Brüder im Geiste, extrovertiert und drogenaffin. Kennen gelernt hatten sich die beiden drei Jahre zuvor in einer Bar in Aspen. Acosta nannte sich selbst einen »braunen Büffel«, weil er wild, groß und gefährlich sei. Kurz nach Salazars Tod hatte Acosta an Thompson eine Nachricht geschickt und, in der er ihn bat, nach Los Angeles zu kommen.
Die Recherchen dort beschrieb Thompson später als aufreibend und deprimierend. »Nach ungefähr einer Woche an der Geschichte [über Salazar] war ich ein Nervenbündel [und] schlaflos vor Paranoia.« Thompson fürchtete wie Salazar, durch die Gewalt auf den Straßen umzukommen. In einer späteren Erklärung, was ihn zu dem Trip nach Las Vegas motivierte, schrieb Thompson: »Ich brauchte einen guten Grund, um dem bösen Strudel, in den ich bei dieser Geschichte geraten war, zu entkommen.« Auch wollte er unbehelligt mit Acosta über die Geschehnisse in Los Angeles sprechen. Deswegen beschlossen die beiden, zusammen einen Roadtrip zu unternehmen.
Den Anlass lieferte ein Angebot der Zeitschrift »Sports Illustrated«. Thompson sollte als Korrespondent über das Motorcross-Rennen Mint 400 in der Wüste Nevadas berichten. Dafür mieteten sich die beiden eines Freitagnachts im März 1971 ein rotes Cabrio, luden den Kofferraum – ohne Übertreibung – voll mit Drogen, besorgten ein Aufnahmegerät und fuhren los. Später bei der Spesenabrechnung mit der Zeitung soll Thompson gesagt haben: »Über den American Dream kann man nicht in einem verdammten Volkswagen berichten.«
Gonzo – der letzte Mann, der nach einer durchzechten Nacht noch an der Bar steht
»Wir waren irgendwo in der Gegend von Barstow, am Rand der Wüste, als die Drogen zu wirken begannen.« Dieser Satz eröffnet das verrückteste drogengeschwängerte Werk des US-Journalismus. Vor »Fear and Loathing in Las Vegas« galt Thompson noch als Angehöriger des »New Journalism«, dessen Vertreter in den 1960er Jahren einen neuen, subjektiven und literarisch-journalistischen Stil begründet hatten. Doch Thompson schuf mit dem Werk ebenfalls eine neue Form der Berichterstattung. Für seine Reportagen setzte sich die Bezeichnung Gonzojournalismus durch.
Gonzo sollte dem abgedrehten, Fakten und Fiktion vermischenden, bis ins Beleidigende reichenden und vollkommen subjektiven Stil Thompsons einen Namen geben. Er stammt von Bill Cardoso (1937–2006), der für den »Boston Globe« arbeitete. Cardoso schrieb Thompson eine Nachricht, nachdem er einen von dessen Artikeln gelesen hatte, nämlich »Das Kentucky Derby ist dekadent und degeneriert«: »Das ist purer Gonzo. Wenn das der Anfang ist, mach weiter.« Auch andere Kritiker sahen in dem Text über das Galopprennen in Thompsons Heimatstadt Louisville die Geburtsstunde des Gonzostils und damit einen direkten Vorläufer von »Fear and Loathing«. Interessanterweise verwendete Thompson in dem im Juni 1970 veröffentlichten Artikel sogar den Ausdruck »fear and loathing«, Angst und Schrecken.
Gonzo, ein Wort aus dem Ostküstenslang im Süden Bostons, bedeutet so viel wie der letzte Mann, der nach einer durchzechten Nacht noch an der Bar steht. Thompson selbst erklärte Gonzo als einen Reportagestil, der »auf William Faulkners Überzeugung beruht, die beste Dichtung sei weitaus wahrer als jede Art von Journalismus«.
Zwei Männer und ein völlig durchgeknallter Drogencocktail
Während sich die Geschichte über das Kentucky Derby um viel Bier und Whiskey dreht, verabreichen sich die beiden Protagonisten in »Fear and Loathing in Las Vegas« einen völlig durchgeknallten Drogencocktail, der allein von den Mengen her Raum und Zeit sprengt. Illegaler Drogenkonsum, Verkehrsdelikte, Kreditkartenbetrügereien und der Missbrauch einer Minderjährigen – wegen all dieser Vergehen, welche die beiden im Lauf der Geschichte anhäufen, wählte Thompson wohl für sich und Acosta Pseudonyme. Sich selbst gab er den Namen Raoul Duke, als Protagonist und auch als Autor bei der Erstveröffentlichung im »Rolling Stone«.
Seinen Gefolgsmann Acosta nannte er Dr. Gonzo, seinen »300 Pfund schweren samoanischen« Anwalt. Acosta empfand die ethnische Verschleierung seiner Herkunft auf Grund seines Kampfs für die Rechte der Chicanos als eine Beleidigung. Später beklagte er sich bitterlich bei Thompson. Acosta alias Dr. Gonzo sollte nur wenige Jahre danach auf mysteriöse Weise während eines Trips nach Mexiko verschwinden. Der Gründer des Musikmagazins »Rolling Stone« Jann Wenner vermutete, dass Acosta bei einem missglückten Drogengeschäft »die falschen Leute beleidigte und nicht über Hunters Talent verfügte, jeden einzulullen«.
In »Fear and Loathing« spielt der Anlass für den Roadtrip, das Motocross-Rennen, nur eine Nebenrolle. Auch der Text dazu, den Thompson an das Sportmagazin schickte, wurde abgelehnt. Viel wichtiger war Acosta und Thompson ihre Mission, den wahren American Dream zu finden. So erklärt es der von Halluzinationen geplagte Duke zu Beginn des Buchs einem Anhalter, den die beiden mitnehmen: »Das ist wichtig, verdammt noch mal! Das ist eine wahre Geschichte!« Der Wahrheitsgehalt vieler Einzelheiten der Story darf aber getrost angezweifelt werden, da auch Thompson selbst, wie er später zugab, die Geschichte als gefangen im »akademischen Niemandsland zwischen ›Dichtung‹ [und] ›Journalismus‹« betrachtete.
Thompson war aber sicher Teil seiner Geschichten. Er zelebrierte dies förmlich. »Fear and Loathing« untertitelte er mit der Zeile »Eine wilde Reise in das Herz des Amerikanischen Traumes«. Und den scheinen die Protagonisten in der Glitzerwelt von Las Vegas zu finden – besonders im Casino Circus Circus, das Duke als den »zentralen Nerv« des amerikanischen Traums bezeichnet. Dort entwickelt sich der bis dahin vollkommen surreale Traum zu einem Albtraum, der schließlich wegen Mordfantasien, der Angst vorm Gefängnis und einer überstürzten Flucht zumindest von Dr. Gonzo alias Acosta platzt. Zurück bleibt Thompson mit einer Hotelrechnung im Gonzostil. Doch Amerika wäre nicht das Land der unbegrenzten Möglichkeiten, wenn sich Thompson alias Duke nicht auch aus dieser ausweglosen Situation befreien könnte.
»Fear and Loathing in Las Vegas« schlug ein wie eine Bombe
Thompson bezeichnete »Fear and Loathing in Las Vegas« sarkastisch als »verächtlichen Nachruf auf die Drogenkultur der Sechziger« und als »Traumtrip in die Vergangenheit«. Für ihn war es ein Fluchtversuch aus der beängstigenden Gegenwart – wie sie nicht nur in Los Angeles herrschte, sondern auch im ganzen Land. In Thompsons Texten tauchen immer wieder Hinweise auf damalige Ereignisse auf: das Kent-State-Massaker im Mai 1970, als die Nationalgarde von Ohio Antikriegsdemonstranten an einer Universität erschossen hat, das Massaker an vietnamesischen Zivilisten in My Lai oder die Berichte von angeblichen Folterungen ebenfalls durch US-Militärs in Vietnam. In »Fear and Loathing« kommentiert Thompson zynisch: »Vor diesem abscheulichen Hintergrund waren meine Verbrechen [in Las Vegas] blass und bedeutungslos. Ich war ein relativ respektabler Bürger.« Für den Journalisten bestand kein großer Unterschied zwischen dem Polizisten, der den Reporter Salazar in Los Angeles erschoss, und dem US-Soldaten in Vietnam. Beides entsprach seines Erachtens der Verkehrung des American Dreams, den er im Zerrbild von »Fear and Loathing« beschrieb.
Die Redaktion des »Rolling Stone« feierte seinen Artikel über den Vegas-Roadtrip. Man beschloss, den Text in zwei Teilen zum vierten Jahrestag des Magazins zwischen dem 11. und dem 24. November 1971 zu veröffentlichen. Ein Jahr später erschien die Geschichte als Buch. 1998 wurde sie mit Johnny Depp und Benicio del Toro in den Hauptrollen verfilmt. Obwohl die Arbeit mit Thompson wohl eher schwierig war – er hielt sich offenbar nicht an Abgabetermine oder schickte nur kryptische, unfertige Textfragmente –, meinte sein Mentor Jann Wenner vom »Rolling Stone«-Magazin: »›Vegas‹ war komplett anders. Er machte das alleine. Es kostete ihn mehrere Monate, um es zu schreiben.«
Vor 50 Jahren schlug »Fear and Loathing« ein wie eine Bombe. Es war neu, es war anders, es karikierte den American Dream als obszönes Abbild einer degenerierten Gesellschaft. Der Krieg in Vietnam, Rassismus, Diskriminierung und Polizeigewalt bildeten den schmutzigen Hintergrund der Geschichte. Zudem war es ein Abgesang auf die Hoffnungen der »Love and Peace«-Generation der 1960er Jahre. »›Fear and Loathing in Las Vegas‹ markierte das Ende einer Ära«, schreibt Thompson und lässt sein literarisches Alter Ego darüber nachsinnen: »Vielleicht bedeutete sie etwas«, jene ganz spezielle Zeit, als »die Energie einer ganzen Generation sich in einem langen, feinen Blitz zuspitzte« und man »auf dem Kamm einer hohen und schönen Welle ritt«. Dies sei ein fantastisches Gefühl gewesen, »dass alles, was wir taten, richtig war, dass wir gewannen (…) über die Mächte des Alten und Bösen«. Dieser Kampf um den American Dream erschien 1971 auf Grund des Vietnamkriegs und der Polizeigewalt gegen Minderheiten verloren.
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