Hatschi!: Die Mathematik des Niesens
Wie bringt man jemanden eigentlich dazu, auf Kommando zu niesen? »Diese Frage stellen mir viele«, sagt Lydia Bourouiba mit einem Lächeln auf den Lippen. Die Lösung ist überraschend einfach: Sie nimmt einen kleinen Stab und kitzelt ihr Opfer für ein paar Sekunden am Nasenloch – und: hatschi!
Für Bourouiba, Mathematikerin und Expertin für Fluiddynamik, zahlt sich so ein Nieser aus. Zusammen mit ihrem Team am Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Cambridge zeichnet sie die Nachwirkungen vom Niesen bis ins kleinste Detail auf, indem sie Tausende von Bildern pro Sekunde mit einer oder manchmal auch zwei Kameras aufnimmt. In Zeitlupe abgespielt, offenbaren diese Videos eine gewaltige Explosion von Speichel und Schleim, die in Strömen aus dem Mund herausgesprengt werden, sich in kleine Tröpfchen auflösen und zusammen als turbulente Wolke davonziehen.
Anhand dieser Aufnahmen kann die Forscherin alles Mögliche bestimmen, vom Durchmesser einzelner Tropfen bis hin zu deren Geschwindigkeit – Daten, die ihr helfen sollen aufzudecken, wie darin enthaltene Viren und andere Pathogene von einem Wirt zum nächsten getragen werden. Auf diesem Weg konnte sie etwa bereits zeigen, dass Nies- und Hustenpartikel ganze Räume durchqueren und sogar im Lüftungsschacht in die Höhe steigen können. Die in den Tröpfchen gefangenen Krankheitserreger werden also wahrscheinlich weiter und andauernder verbreitet als bisher gedacht.
Lydia Bourouiba ist nicht die Erste, die Fluiddynamik mit der High-Speed-Kamera untersucht – sie hat aber als Erste das Potenzial dieser Aufnahmen für die Atemwegsforschung erkannt
Bourouibas Ziel ist es, die Daten aus Epidemiologie und Public Health mit Hilfe ihrer Arbeit auf ein solides Fundament aus Physik und Mathematik zu stellen. Um zu verhindern, dass Krankheiten aus dem Ruder laufen, sagt die Forscherin, »wollen wir Empfehlungen aussprechen, die auf im Labor überprüften, wissenschaftlichen Befunden beruhen«. Auf praktischer Ebene könnten solche Erkenntnisse etwa zu Karten führen, die das Kontaminationsrisiko in der Nähe Infizierter aufzeigen, zu besseren Schutzmaßnahmen für Krankenhausmitarbeiter sowie zu genaueren Vorhersagen zur Ausbreitung der Erreger in der Bevölkerung.
Ihrem Forschungsziel geht Bourouiba mit derselben Energie und Leidenschaft nach wie ihren Freizeitbeschäftigungen, bei denen sie wochenlange Radtouren und ausgiebige Bergtouren unternimmt (wie im Jahr 2011 die Besteigung des Kilimandscharo in Tansania) oder Wintercamping bei minus 20 Grad Celsius macht. Sie ist nicht die erste Wissenschaftlerin, die Fluiddynamik mit der High-Speed-Kamera untersucht – sie hat aber als Erste das Potenzial dieser Aufnahmen für die Atemwegsforschung erkannt, sagt David Ku, der am Georgia Institute of Technology in Atlanta auf dem Gebiet der Biofluidmechanik forscht. Ihre Arbeiten könnten das ganze Forschungsfeld verändern, meint der Virologe Ron Fouchier von der Erasmus-Universität in Rotterdam. »Wir brauchen genau diese Messmethoden der Physik, um verstehen zu können, wie die Übertragung von Krankheitserregern funktioniert.«
Die Entdeckerin
Bourouiba war schon immer Entdeckerin und Forscherin. Als Kind in Frankreich aufgewachsen, konnte sie von Büchern über Wissenschaft und Natur nicht genug bekommen, ebenso wenig wie von einer Biografie über Albert Einstein. Schon bald verliebte sie sich in die Mathematik und Physik und machte sie zu ihren Hauptfächern, als sie ihren Bachelorabschluss in Frankreich und in Montreal in Kanada machte.
Als sie sich im Zuge ihrer Masterarbeit an der McGill University in Montreal immer mehr auf rein theoretische Fragen zu turbulenten Strömungen konzentrierte, wurde ihr klar, dass sie mehr wollte. Bourouiba hatte in den 1990er Jahren während des Bürgerkriegs eine Zeit lang in Algerien gelebt und erinnerte sich noch gut an das Chaos und Elend, das sie dort erlebt hat. »Wir wissen, was wirklich schlimm ist, und wir haben viel davon gesehen«, sagt sie. »Doch wie können wir als eine Spezies die Grenzen des Erreichbaren verschieben und die Welt zu einem besseren Ort machen?«
Auf der Suche nach einer Antwort blieb sie bald bei Gesundheit und Epidemiologie hängen. Mitte 2000 waren aufflammende Erkrankungen ein öffentliches Thema, das Schwere Akute Atemwegssyndrom (Sars) hatte im Jahr 2003 fast 800 Menschen getötet, Polio feierte ein Comeback, und die Vogelgrippe sprang auf den Menschen über. Infektionskrankheiten schienen Bourouiba die perfekte Möglichkeit, ihre Interessen und ihre Expertise miteinander zu vereinbaren.
Anfangs zögerte sie. Eine Karriere in der Fluidmechanik schien ihr sicher und gewiss, wohingegen ein Sprung in die Biologie ein großes Risiko barg. Eines Tages, während sie gerade an ihrer Doktorarbeit arbeitete, hing sie an der Kletterwand und grübelte darüber nach. »Warum eigentlich nicht?«, sagte sie sich plötzlich, als sie die Hand nach dem nächsten Griff ausstreckte. »Bei Entscheidungen darf man sich nicht nur von seiner Angst leiten lassen.«
2008 schloss sie ihre Promotion auf dem Gebiet der Fluiddynamik ab. Anschließend gelang es ihr, eine Postdoc-Stelle in der mathematischen Epidemiologie an der York University im kanadischen Toronto zu ergattern, und sie begann, übers Niesen und Husten nachzudenken.
Was passiert wirklich beim Husten und Niesen?
Diese »gewaltigen expiratorischen Ereignisse«, wie es in einer ihrer Veröffentlichungen heißt, gelten schon länger als Hauptverbreitungsweg der Atemwegserkrankungen. Aber wie genau läuft das ab? Epidemiologische Studien ermitteln anhand der Bewegungen und Aktivitäten der Betroffenen zum Infektionszeitpunkt, wie Krankheiten übertragen werden. Doch steckten sich die Leute durch direkten Kontakt mit anderen an, etwa beim Händeschütteln, oder über kontaminierte Oberflächen wie Türgriffe? Wurden die Erreger durch große Tropfen übertragen, die auf kurzem Weg von einem Atemwegstrakt zum nächsten springen, oder eher durch kleine Aerosolpartikel, die weite Strecken in der Luft zurücklegen können, bevor sie erneut eingeatmet werden? Oder durch eine Kombination von beidem?
Anhand solcher Untersuchungen konnten Forscher etwa zeigen, dass Masern normalerweise durch Aerosole übertragen werden und Ebola hauptsächlich über direkten Kontakt mit Körperflüssigkeiten. Bei vielen anderen Krankheitserregern ist das aber noch unklar, was es den Gesundheitsbehörden sehr schwer macht, die Ausbreitung zu kontrollieren und sich auf künftige Ausbrüche vorzubereiten. Von Sars dachte man beispielsweise, es würde hauptsächlich durch engen Kontakt verbreitet; doch beim Ausbruch 2003 mehrten sich die Hinweise auf eine Übertragung über die Luft. Und auch für das Ebolavirus nehmen manche Wissenschaftler an, dass es zumindest zu einem gewissen Grad durch die Luft weitergetragen werden kann.
Während ihrer Zeit an der York University dämmerte Bourouiba, dass der Schlüssel zu vielen dieser Fragen in den physikalischen Details des Niesens und Hustens liegt, die in den meisten Modellen zur Verbreitung von Krankheitserregern bislang nicht berücksichtigt werden. Im Jahr 2010 nahm die Forscherin eine Postdoc-Stelle am MIT an und wollte einen Teil dieser Wissenslücke schließen. Bis dahin hatte sie sich nur mit Theorien auseinandergesetzt – nun begann sie mit experimentellen Untersuchungen. Durch Ausprobieren lernte sie die Feinheiten der High-Speed-Aufnahme kennen und beschäftigte sich mit der Einstellung der passenden Beleuchtung, um letztlich einen Nieser per Kamera dokumentieren zu können. »Mathematiker fühlen sich oft nicht besonders wohl im Labor«, sagt der Fluiddynamiker John Bush, der ihr Mentor am MIT war. »Lydia gefiel es wirklich gut.«
Bourouiba wollte unbedingt herausfinden, wie groß die aus dem Mund geschleuderten Tröpfchen waren. Denn hiervon hängt ab, wie viele Mikroorganismen ein Tröpfchen tragen und wie weit es durch die Luft wandern kann. In ihrer ersten Versuchsreihe, deren Ergebnisse sie im Jahr 2014 veröffentlichte, untersuchte sie die gesamte Tröpfchenwolke. Mit Hilfe von Aushängen auf dem Campus des MIT suchte sie nach Freiwilligen und filmte die Huster und Nieser von zehn gesunden Probanden. Nach etlichem Hin und Her mit der Kameraposition, dem Hintergrund und der Beleuchtungsstärke filmte Bourouiba schließlich, wie die Tröpfchen als turbulente, bewegliche Wolke aus dem Mund herausgeschleudert wurden. Die Wolke wuchs und verlangsamte sich, sobald sie Umgebungsluft aufsog; die Tröpfchen stiegen dann auf und wurden weggetragen.
Weiter als gedacht
Die Videoaufnahmen widersprachen damit der gängigen Annahme, dass größere Tropfen innerhalb von ein bis zwei Metern zu Boden fallen und nur die kleineren als Aerosole in der Luft verbleiben würden. Anhand mathematischer Modelle schloss Bourouiba, dass auf Grund der Wolkendynamik bei einem Nieser viele der größeren Tröpfchen bis zu acht Meter weit und bei einem Huster bis zu sechs Meter weit fliegen können, natürlich abhängig von den Umgebungsbedingungen. Dabei können die Tröpfchen bis zu zehn Minuten in der Luft verbleiben und somit auch noch problemlos jemanden am anderen Ende des Raums erreichen oder in das Lüftungssystem an der Decke gelangen.
Diese Ergebnisse haben auch Auswirkungen auf Arbeitende im Gesundheitswesen, sagt James Hughes, Infektionsepidemiologe an der Emory University in Atlanta. Unter der Annahme, eine Krankheit könne nur in einem Radius von ein bis zwei Metern übertragen werden, würden sich die meisten außerhalb dieser Zone vermutlich recht sicher fühlen. »Wir sollten da aber wohl etwas vorsichtiger sein«, sagt er.
In Bourouibas nachfolgenden Versuchen betrachtete sie den Mundbereich der Probanden etwas näher und filmte über 150 Millisekunden hinweg einen Nieser. Wie Aufnahmen von der Seite und von oben mit bis zu 8000 Bildern pro Sekunde zeigen, teilt sich der Flüssigkeitsfilm regelrecht in Abschnitte auf, wie eine Explosion in Zeitlupe direkt aus Hollywood: Die Flüssigkeit kommt in Form flächiger Fetzen aus dem Mund heraus, die dann zerreißen und Ringe formen, als würden sie durch den Luftzug gestreckt werden. Die Ringe zerfallen anschließend wieder und lassen nur Bänder zurück. Kleine Flüssigkeitstropfen werden in die Länge gezogen und zerteilen sich letztlich in einzelne Tröpfchen.
Tröpfchenbildung hängt stark von den Umgebungsbedingungen wie Luftfeuchtigkeit und Temperatur ab. Das könnte erklären, warum manche Erkrankungen wie die Grippe in bestimmten Jahreszeiten gehäuft auftreten
Bourouiba war überrascht, wie sehr sich die Flüssigkeit außerhalb des Munds noch verändert – auch das widersprach der vorherrschenden Annahme, die Tröpfchen würden fix und fertig im Mund geformt werden. Für den Mathematiker und Epidemiologen Gerardo Chowell von der Georgia State University in Atlanta ist das eine sehr wichtige Entdeckung. Denn sie zeigt, dass die Tröpfchenbildung stark von den Umgebungsbedingungen wie Luftfeuchtigkeit und Temperatur abhängt. Das könnte auch erklären, warum manche Erkrankungen wie die Grippe in bestimmten Jahreszeiten gehäuft auftreten; weil nämlich die Umweltbedingungen für die Ausbreitung und das Überleben der Erreger in dieser Zeit möglicherweise besonders günstig sind.
Bourouibas Experimente tragen auch wesentlich zu bisherigen Analysen der Tröpfchengröße von Niesern und Hustern bei, sagt Ku. Dabei beeinflussten immer mehrere Parameter, welche Distanz die Flüssigkeitspartikel gerade überwinden können. »Allein anhand der Partikelgröße lässt sich nicht sagen, wie weit sie vorankommen – Bourouibas Arbeiten zeigen nun, wie weit das bei einem echten Nieser sein kann.«
Die nächste Ebene
Bourouiba und ihr Team bereiten sich gerade darauf vor, in ein neues Labor umzuziehen, das einen Raum mit einer höheren biologischen Sicherheitsstufe haben wird, in dem sie nicht nur mit gesunden Probanden, sondern auch mit Erkältungs- und Grippepatienten arbeiten können. Außerdem hat die Mathematikerin einen Mikrobiologen eingestellt, der ihr bei der Bestimmung der Menge an Mikroorganismen in den Tropfen helfen soll und auch die Frage bearbeiten wird, wie lange Krankheitserreger in der Luft oder an Oberflächen überdauern können und infektiös bleiben.
Die Antworten auf diese Fragen sind äußerst wichtig, meint Hughes. »Wir müssen die Konzentration der Erreger in den Tropfen verschiedenster Größe untersuchen und die zur Infektion nötige Pathogendosis bestimmen.« Im Labor kann Bourouiba auch den Luftstrom, die Temperatur und die Feuchtigkeit variieren und so das Verhalten der freigesetzten Tröpfchen unter Bedingungen untersuchen, die jenen im Krankenhaus, im Flugzeug oder in den Tropen ähneln.
Bourouibas großes Ziel ist es, ihre Daten am Ende zu einem mathematischen Modell zusammenzufassen, mit dessen Hilfe die Gesundheitsbehörden eines Tages die wahrscheinlichsten Übertragungswege identifizieren und aus dem sie Möglichkeiten zur Eindämmung ableiten können. Das Modell könnte zum Beispiel voraussagen, ob das größte Infektionsrisiko von der Luft oder den Oberflächen ausgeht und wie der Luftstrom beziehungsweise die Temperatur anzupassen sind, um das Risiko im Krankenhaus zu minimieren. Auch mögliche »Superspreader« ließen sich so identifizieren und frühzeitig von anderen isolieren. Und in einem Notfall, wenn sich eine Krankheit ausbreitet, die Übertragungswege aber noch unklar sind, könnte man zumindest die am meisten gefährdeten Umgebungen wie etwa Flugzeuge ermitteln und die Menschen bitten, diese zu meiden.
Chowell, der am Computer die Ausbreitung von Infektionskrankheiten modelliert, hofft, dass sich aus Bourouibas Arbeiten eine Art Bewertungssystem ableiten lässt, anhand dessen man den Grad der Ausbreitung über die Luft bestimmen kann. Die Meldung, ob sich ein Pathogen zu 85 Prozent oder nur zu 5 Prozent über Luftaerosole verbreitet, könnte den Gesundheitsbehörden einen besseren Eindruck von der möglichen Geschwindigkeit und der zu erwartenden Reichweite eines Ausbruchs geben. »Modelle muss man mit Daten füttern, und ich denke, durch die Bemühungen von Bourouiba und anderen Forschern lassen sich die Modelle so verfeinern, dass sie uns bessere Vorhersagen zu Krankheitsausbrüchen in Echtzeit erlauben.«
Wie hilfreich Bourouibas Analysen tatsächlich sind, hängt natürlich auch von der Krankheit ab. Die Arbeit des Umwelt- und Gesundheitsexperten Donald Milton von der University of Maryland School of Public Health in College Park deutet etwa darauf hin, dass Bourouibas Ansatz nur wenig Erkenntnisse über Influenzainfektionen bringen wird: weil die Betroffenen nur wenig niesen. Studien mit Probanden, die an einer normalen Erkältung leiden, könnten dagegen schon eher Erfolg versprechend sein, denn diese niesen viel.
Laut Milton erfasst der Fokus auf das Niesen und Husten nicht die gesamte Bandbreite der Übertragung bei Atemwegserkrankungen, weshalb auch das einfache Atmen und Reden betrachtet werden sollten. Mit seiner Gruppe hat er RNA von Grippeviren in ausgeatmeten Partikeln entdeckt und konnte die hieraus isolierten Viren sogar im Labor kultivieren. Sollte sich die Atemluft tatsächlich als relevant erweisen, würde Bourouiba sie gerne mit ihrer Methode untersuchen. Zunächst will sie aber erst einmal genauer untersuchen, welche Verbreitungswege wirklich am wichtigsten für Krankheitserreger sind.
Bourouiba kann ihrer Arbeit nur schwer entfliehen: Wann immer sie jemanden niesen hört, sei es im Flugzeug oder im Seminarraum, muss sie sofort an die in der Luft herumfliegenden Tröpfchen denken. Da lässt sich nicht viel machen. Aber es erinnert sie immer wieder daran, warum sie während ihrer ersten Jahre in der Forschung von der Mechanik der Fluide so fasziniert war: Gase und Flüssigkeiten sind einfach überall.
Die Videos könnten ihr den Spitznamen »die Nieserin« einbringen, sagte einmal ein Student zu ihr. Das würde ihr aber nichts ausmachen, konterte sie. »Wenn das dazu führt, dass sich die Leute für das Thema interessieren, ist mir das egal.«
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