75 Jahre UN: Die Musik spielt seit jeher in einem exklusiven Klub
Bei einem Rundgang durch das Hauptquartier der Vereinten Nationen in New York fragt ein Tourist den Reiseführer: »Wie viele Menschen arbeiten denn hier?« – »Kann ich nicht sagen«, antwortet der, »aber kaum mehr als die Hälfte.« Dieser Witz über die UNO mag nicht besonders originell sein, er zeigt aber, dass es mit dem Ansehen der Organisation, die in diesem Jahr ihren 75. Geburtstag feiert, nicht zum Besten steht.
Vor allem aus den USA kamen immer wieder scharfe Attacken an der Arbeits- und Funktionsweise. So diffamierte Präsident Richard Nixon schon in den 1960er Jahren die UNO als »veralteten Debattierklub«. Und – wen wundert's – Donald Trump nannte die Weltorganisation einen »Klub von Schwätzern« und fügte hinzu: »Ich will mehr Leistung für mein Geld!«
Dabei sollte sie doch besonders schlagkräftig sein, die neue Institution, deren Fundamente die Staatenlenker bereits vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs legten. Das Versagen des Völkerbunds, der den Zweiten Weltkrieg nicht verhindern konnte, war den maßgeblichen politischen Akteuren ein warnendes Beispiel dafür, dass sie es diesmal besser machen wollten.
Im August 1941 unterzeichneten US-Präsident Franklin D. Roosevelt und der britische Premier Winston Churchill die Atlantikcharta, die Anfang 1942 von 26 Staaten ratifiziert wurde. Diese Staaten nannten sich »United Nations«. Die nächste Etappe markierte 1944 die Vereinbarung von Dumbarton Oaks, in der sich die USA, die Sowjetunion, Großbritannien und China auf die Grundzüge der neuen Weltorganisation einigten und bereits das Vetorecht der ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats zementierten. Die eigentliche Geburtsstunde war jedoch die Gründungsversammlung im April 1945 in San Francisco. Anwesend waren Vertreter all jener 51 Staaten. Am 26. Juni unterzeichneten sie die UN-Charta, die dann, vor 75 Jahren, am 24. Oktober, in Kraft trat.
Bei Gründung der UNO waren die Sowjetunion, die USA und Großbritannien noch Verbündete. Aber schon bald übertrugen sich die Spannungen zwischen kommunistischer und freiheitlich-demokratischer Welt auf die Organisation und störten ihr Funktionieren.
Ein exklusiver Klub
Schauplatz dieser Auseinandersetzung ist selten die Generalversammlung mit ihren heute 193 Mitgliedsstaaten. Sie ist zwar nominell das wichtigste politische Organ, jedes Jahr im Herbst tritt sie in New York zusammen, um etwa über den Haushalt oder die Aufnahme neuer Mitglieder zu beraten. Doch die eigentliche Musik spielt seit jeher in einem exklusiven Klub, dem nur fünf Nationen dauerhaft angehören – dem Sicherheitsrat. Er kann als einziges Gremium Beschlüsse fassen, die völkerrechtlich bindend sind, kann Sanktionen verhängen und sogar die Anwendung von Gewalt genehmigen, um Frieden und Sicherheit in bestimmten Regionen aufrechtzuerhalten oder wiederherzustellen.
Zu den fünf ständigen Mitgliedern – China, USA, Russland, Frankreich und Großbritannien – gesellen sich zehn nichtständige Mitglieder, die auf zwei Jahre von der Generalversammlung gewählt werden. Deutschland hat dadurch noch bis Ende 2020 einen Sitz im Sicherheitsrat.
Die Vereinten Nationen waren – und sind es bis heute – nur so handlungsfähig und durchsetzungsstark, wie es die fünf ständigen Sicherheitsratsmitglieder mit ihrem Vetorecht erlaubten. Ließen sie die UN gewähren, konnte sie auch Erfolge vorweisen. So etwa beim Waffenstillstand zwischen Iran und Irak, der 1988 durch die UN-Resolution 598 einen achtjährigen Krieg beendete. Oder im Jom-Kippur-Krieg 1973, als der Sicherheitsrat am 22. Oktober 1973 ohne Gegenstimme die Resolution 338 annahm, was einen beinahe sofortigen Waffenstillstand zur Folge hatte.
Doch diese konstruktiven Beispiele sind eher die Ausnahme als die Regel, wie in jüngster Zeit das Beispiel des Syrienkriegs zeigt. Meist blockiert man sich gegenseitig: So hat Russland von 2011 bis 2019 insgesamt 19-mal ein Veto eingelegt, die Volksrepublik China neunmal und die USA dreimal.
In vielen Fällen, in denen die Vereinten Nationen mit ihren eigenen Friedensmissionen aktiv wurden, gerieten sie selbst ins Fadenkreuz weltweiter Kritik. Die so genannten Blauhelmeinsätze waren hin und wieder erfolgreich, wie in Haiti oder im Kongo, häufig aber ineffektiv und manchmal sogar desaströs, wie in der UN-Schutzzone Srebrenica, wo 1995 unter den Augen niederländischer Blauhelmsoldaten ein grausamer Massenmord stattfand und mindestens 8000 Muslime getötet wurden.
Andernorts wandelten sich die Blauhelmsoldaten von Beschützern zu Verbrechern: So haben Angehörige von UN-Truppen wiederholt Frauen vergewaltigt. Mitarbeitern des Flüchtlingshilfswerks UNHCR wird vorgeworfen, in Guinea, Liberia und Sierra Leone nach der Devise »Sex gegen Lebensmittel« die Notlage der Menschen ausgenutzt zu haben.
Blauhelmen fehlt es an Vorbereitung
Ein Teil des Problems resultiert aus der Zusammenstellung der Auslandsmissionen: Während früher häufig reiche Länder, etwa Kanada und Schweden, Truppenkontingente mit guter Ausrüstung zur Verfügung stellten, sind zunehmend arme Staaten wie Bangladesch oder Äthiopien engagiert, mit schlechtem Equipment und unterbezahlten Soldaten, die gegenüber der Zivilbevölkerung übergriffig werden und sogar Krankheiten einschleppen.
Doch wie kann man Blauhelmeinsätze zukünftig effektiver machen? »Die entsandten nationalen Kontingente müssen so realitätsnah auf die Einsätze vorbereitet sein, dass sie ihr Mandat umsetzen können«, sagt Ekkehard Griep, Politikwissenschaftler und im Vorstand der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen. Und: Der Frauenanteil der Friedensmissionen müsse höher werden. »Mehr Frauen bedeuten eine Erweiterung der operativen Fähigkeiten, etwa beim leichteren Zugang zu gefährdeten Bevölkerungsgruppen wie Kindern oder vergewaltigten Frauen.«
Beeindruckend sind die Erfolge der Vereinten Nationen dagegen auf anderen Gebieten: Im Gesundheitssektor konnte die WHO bei der Bekämpfung von Infektionskrankheiten bedeutende Fortschritte erzielen. Meilenstein war die Ausrottung der Pocken 1979. Auch der Kampf gegen die Kinderlähmung ist ähnlich effektiv. In Europa ist sie ausgerottet, weltweit tritt Polio nur noch vereinzelt auf.
Ein Nobelpreisträger in den Reihen
Auch das Welternährungsprogramm WFP, das für seinen Kampf gegen den Hunger in der Welt im Jahr 2020 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde, verzeichnet Erfolge. In den vergangenen 30 Jahren hat sich der Anteil unterernährter Menschen auf rund die Hälfte reduziert: Während die Weltbevölkerung um annähernd 2,4 Milliarden wuchs, sank die Anzahl hungernder Menschen um rund 300 Millionen auf etwa 670 Millionen Menschen heute.
Und auch das Kinderhilfswerk UNICEF leistet vorbildliche Arbeit, indem es weltweit versucht, Kinderrechte durchzusetzen. Dazu zählt zum Beispiel der Einsatz gegen die Kinderehe und für schulische Bildung. Allein im Jahr 2019 sorgte UNICEF dafür, dass 10 000 Kindersoldaten aus den Händen von Armeen und Rebellengruppen befreit wurden.
Nach einem Dreivierteljahrhundert sind die Aufgaben für die Vereinten Nationen komplexer geworden. Neue Herausforderungen wie die Rettung des Weltklimas (das Pariser Klimaabkommen 2015 war ein Meilenstein in der Geschichte der Vereinten Nationen) sind hinzugekommen oder der Kampf gegen Pandemien wie Sars-CoV-2.
Ausufernde Bürokratie in New York
Je mehr Mitglieder aufgenommen wurden und je vielfältiger die Aufgaben der UNO wurden, desto stärker wuchs die Bürokratie. Die Vereinten Nationen setzen sich aus einem verflochtenen System aus Hauptorganen, Nebenorganen und Sonderorganisationen zusammen, die oftmals noch in regionale Büros aufgeteilt sind. Immer wieder kommt es vor Ort zu Ressourcenverschwendung, weil sich verschiedene humanitäre Organisationen etwa nach einer Naturkatastrophe nicht aufeinander abstimmen und aneinander vorbei arbeiten.
Vor allem in der Verwaltung häufen sich die Probleme: Das UN-Sekretariat in New York besteht aus 25 Hauptabteilungen, die relativ autonom agieren. Die Generalversammlung hat dies so beschlossen, um den Generalsekretär zu kontrollieren. Dies führt zu einer Fragmentierung und oft zu chaotischen Abläufen. UNO-Bedienstete arbeiten mit insgesamt 2200 verschiedenen Computerprogrammen, die großenteils nicht miteinander kompatibel sind.
Die Leitungsebene der UNO hat all dies erkannt und sieht Handlungsbedarf für den blauen Koloss. So sagte Generalsekretär António Guterres im November 2018: »Das Ziel der Reform sind Vereinte Nationen, die sich im 21. Jahrhundert mehr auf Menschen als auf Prozesse, mehr auf Handlung als auf Bürokratie fokussieren.« So wurde ein Reformpaket auf den Weg gebracht, das die Abläufe vereinfachen und für mehr Transparenz sorgen soll.
Wie sieht der Sicherheitsrat in Zukunft aus?
Der größte reformbedürftige »Brocken« der UNO ist jedoch die Neustrukturierung des Sicherheitsrats, der auch im 21. Jahrhundert noch die geopolitischen Verhältnisse von 1945 repräsentiert. Deutschland ist in der Gruppe der G 4 engagiert, zu der auch Japan, Indien und Brasilien zählen. Diese Mitglieder streben ständige Sitze im Sicherheitsrat an: Indien als Milliardenvolk; Deutschland und Japan, weil sie mit 6,4 und 9,7 Prozent größte Beitragszahler neben den USA und China sind. Die beiden Industrienationen haben dabei nicht nur gewichtige politisch-ökonomische Argumente vorzuweisen, sondern sogar die UN-Charta auf ihrer Seite. In Artikel 23 heißt es nämlich, dass Staaten, die erhebliche Beiträge leisten, Mitglieder des Sicherheitsrats sein sollten.
Auch andere Interessengruppen von Staaten – etwa die Afrikanische Gruppe – fordern einen Sitz mit Vetorecht, um den Einfluss der Entwicklungsländer zu vergrößern. Frankreich schlägt nun vor, die Zahl der ständigen Mitglieder zu erhöhen und eine Einschränkung des Vetorechts bei Massengräueltaten zu verabschieden. Die G-4-Staaten wiederum würden sich als neue ständige Mitglieder damit zufriedengeben, in den ersten 15 Jahren zunächst auf das Vetorecht zu verzichten und danach die Frage in einer Überprüfungskonferenz abschließend zu klären.
Die fünf ständigen Mitglieder hingegen würden den Status quo samt ihrer Privilegien am liebsten beibehalten, wissen aber zugleich, dass der Reformdruck von allen Seiten wächst. 75 Jahre nach ihrer Gründung stehen die Vereinten Nationen an einem Scheideweg: Sie müssen sich reformieren, um die globalen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu meistern. Scheitern sie, droht ein Bedeutungsverlust, der ein gefährliches internationales Machtvakuum heraufbeschwört und schwer wiegende Konsequenzen für das universelle Völkerrecht und seine Weiterentwicklung hätte.
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