Italien: Die geheime Leidenschaft des Domenico Cicci

Das Dokument »Meyer 2« weckte den Detektiv in Boris Gübele. Der Historiker der Georg-August-Universität Göttingen war dabei, den »Diplomatischen Apparat« seiner Hochschule zu durchforsten, eine Lehrsammlung vorwiegend mittelalterlicher Urkunden, als das 20,1 mal 28,7 Zentimeter große, eigentlich eher unscheinbare Pergament mit der verblassten, schwer lesbaren Schrift darauf seinen Spürsinn anregte. Schon die Tatsache, dass »Meyer 2« – den Namen verdankt das Dokument seiner Zugehörigkeit zum so genannten Meyer-Bestand der Göttinger Sammlung – größtenteils in italienischer Sprache geschrieben war und nicht, wie im Mittelalter üblich, in lateinischer, machte den Mediävisten stutzig.
»Erzbischöfliche Urkunden waren damals noch ganz in Latein verfasst, dasselbe gilt für Pisaner Rechtstexte«, sagt Gübele. Merkwürdig auch: Urkunden wurden im 13. Jahrhundert gemeinhin von einem Notar beglaubigt, genau wie heute. Bei »Meyer 2« war das nicht geschehen, obwohl das Schriftstück doch ganz offensichtlich eine Urkunde darstellen sollte.
Inhaltlich geht es in dem mit 1266 datierten Text um Alltägliches: Ein Ehepaar wendet sich mit der Bitte an einen Mönchsorden, ihren noch jungen Sohn später einmal in die Gemeinschaft der Brüder aufzunehmen. Für diesen Zweck, so ist zudem vermerkt, hätten die Eheleute dem an die Kirche S. Antonio di Spazzavento in Pisa angebundenen Orden 100 Florentiner Goldgulden bezahlt.
Im Grunde ein unverdächtiges Dokument. Doch bei näherer Analyse stieß Gübele auf weitere Ungereimtheiten. Beispielsweise wurde die erwähnte Kirche nach Einschätzung italienischer Experten frühestens in den 1320er Jahren erbaut, erstmals urkundlich erwähnt wurde sie 1341, also Jahrzehnte nach der vermeintlichen Niederschrift von »Meyer 2«. »Entweder«, sagt Gübele, man müsse jetzt die Stadtgeschichte Pisas an einem markanten Punkt umschreiben, »oder aber« – man ahnt es bereits – »es handelt sich bei der Urkunde um eine Fälschung.«

In Italien beugt man sich über die rätselhafte Urkunde
Der Historiker wandte sich an Kolleginnen und Kollegen in Italien, denen er während der Coronapandemie per Mail ein Digitalisat der fragwürdigen Urkunde zur Analyse zuschickte. »Dort drehte das Bild seine Kreise. Bis schließlich ein Kollege die Handschrift erkannte und den Fälscher entlarvte.« Es handelte sich um einen der umtriebigsten auf diesem Gebiet: Domenico Cicci, ein im Grunde ehrenwerter Mann, mit einer allerdings wenig noblen Leidenschaft.
Sein Lebenslauf lässt sich in groben Zügen rekonstruieren, wenngleich manche Eckdaten fehlen. Domenico Alessandro Cicci kam im ersten Viertel des 18. Jahrhunderts als Sohn eines Rechtsanwalts in Fucecchio zur Welt, einem im Herzen der Toskana gelegenen Städtchen auf halber Strecke zwischen Pisa und Florenz. Sein Geburtsjahr ist unbekannt, wir wissen aber, dass er 1734 ein Studium des Zivil- und Kirchenrechts an der Universität von Pisa aufnahm und dieses drei Jahre darauf als Doktor beider Rechte abschloss. Der frischgebackene Dottore Cicci ließ sich in seiner Heimatgemeinde als Anwalt nieder und heiratete ebendort die Tochter eines Kavallerieoffiziers, mit der er später Sohn und Tochter hatte.
Mit den Jahren gewann der Rechtsanwalt immer mehr Ansehen und Einfluss in Fucecchio, bekleidete 1767 sogar das bedeutende Amt eines »Gonfaloniere« (Bannerträger, eine Art Bürgermeister). Gemeinsam mit einem Berufskollegen förderte er engagiert den Bau einer Kirche in dem Städtchen, die dank seiner Mitwirkung »mit größter Pracht und gutem Geschmack« eingeweiht werden konnte, wie die »Gazzetta Toscana« 1775 in ihrer 33. Ausgabe berichtete.
Kurz gesagt gehörte Domenico Alessandro Cicci zu den ersten Bürgern seiner Stadt, er war angesehen, wohlhabend und einflussreich. Nur eines war er nicht: von adeligem Geblüt.
Ciccis Wahlverwandtschaften
Womit wir am Anfang seiner Fälscherlaufbahn angelangt wären. Cicci wollte unbedingt zur toskanischen Aristokratie gehören. Dafür war der Mann des Gesetzes auch bereit, dieses zu brechen – und das mehrfach: Fast zehn Jahre lang fabrizierte der hochstapelnde Anwalt »mittelalterliche« Dokumente in Serie, die den in seinen Augen seiner Familie zustehenden Anspruch auf Zugehörigkeit zum Adel untermauern sollten.
Nachdem die Behörden seinen ersten Antrag zur Aufnahme in die »Nobilità« 1763 abgelehnt hatte, versuchte Cicci sein Glück im Jahr 1770 ein weiteres Mal – gestützt auf ein Konvolut von vermeintlich historischen Unterlagen aus eigener Erzeugung. Diesmal war sein Vorhaben von Erfolg gekrönt, was wahrscheinlich zu einem Gutteil ebendiesen insgesamt 201 angeblich mittelalterlichen Schriftstücken zu verdanken war. Dass die genaue Anzahl der Urkunden bekannt ist, verdanken wir ebenfalls der Emsigkeit des eigentlichen Produzenten. »Cicci selbst erfasste seine Fälschungen in einem Dokument, das heute im Staatsarchiv von Pisa liegt«, erläutert Gübele. »Dort konstruierte er auch den Stammbaum seiner Familie in väterlicher Linie und listete angebliche kirchliche und weltliche Ämter auf, die seine Vorfahren bekleidet hätten.« Von dem ihm vorgelegten immensen Stapel an Schriftzeugnissen ließ sich das zuständige Gremium offenbar überzeugen und nahm Domenico Cicci 1771 in den Pisaner Adelsstand auf, was ihm 1777 mit einem weiteren erhaltenen (nicht gefälschten!) Dokument bestätigt wurde.
Dass er mit alldem durchkam, ist einigermaßen verwunderlich. Denn bei allem handwerklichen Geschick in der Ausführung weisen zahlreiche der bereits bekannten Dokumente mit jenen in der Göttinger Urkunde vergleichbare inhaltliche Fehler und Ungenauigkeiten auf.
»Urkundenforscher sollten in Zukunft unbedingt auf der Hut sein, wenn ihnen im Archiv der Name Cicci begegnet«Boris Gübele, Mittelalterhistoriker
In einem angeblich aus dem Jahr 1194 stammenden Schriftstück wird beispielsweise eine städtische Institution Pisas genannt, die dort erst rund 100 Jahre später geschaffen wurde. In einer anderen Urkunde erwähnte Cicci einen Vorfahren, der 1216 Meister des Johanniterordens auf Rhodos gewesen sei; der Orden wurde allerdings erst 1309 auf die griechische Insel verlegt. An wieder anderer Stelle machte der Fälscher aus dem Mönchsorden der Basilianer kurzerhand einen Ritterorden, dessen Mitglieder in den Kampf gegen die Ungläubigen zogen. »Auch im Italien der 1760er Jahre hätte die von der mittelalterlichen Kirche verordnete Trennung der kriegerischen und der geistlichen Sphäre bekannt sein können, wenn man sich damit auseinandergesetzt hätte«, wundert sich der Mediävist Gübele darüber, dass so manches Stück aus Ciccis Produktion nicht schon vor Jahrzehnten oder gar Jahrhunderten als Fälschung entlarvt wurde.
Cicci geriet schon einmal unter Verdacht
Zwar habe bereits Ende des 19. Jahrhunderts ein Archivar in Florenz den Verdacht geäußert, bei den die Familie Cicci betreffenden Urkunden könne es sich um Fälschungen handeln. »Diese Vermutung scheint aber schon bald in Vergessenheit geraten zu sein«, sagt der Göttinger Historiker. »Der Geschichtswissenschaft unserer Zeit war sie nicht mehr bekannt.« Erst die aktuellen, gemeinsam mit den italienischen Kolleginnen und Kollegen durchgeführten Forschungen hätten das Ausmaß der Fälschungen Ciccis zu Tage gebracht. »Einen sehr wichtigen Beitrag zur Enttarnung von Ciccis Fälschungen leistete der Philologe Andrea Bocchi von der Universität Udine, der unabhängig von mir zu den Produkten des toskanischen Hochstaplers forschte«, ist es Gübele wichtig zu betonen.
Insgesamt sind der Forschung heute 79 der auf Ciccis Liste angeführten Urkunden bekannt, die sich alle bis auf »Meyer 2« im Archivio di Stato in Florenz befinden.
Warum sich der Anwalt mit solchem Eifer seiner Nobilitierung widmete, ist unbekannt. Der Adel verfügte im 18. Jahrhundert freilich auf dem ganzen Kontinent über zahlreiche Vorrechte. Als Cicci seine Aufnahme in die »Nobilità« beantragte, genoss die toskanische Aristokratie beispielsweise Steuerprivilegien. »Dass sie diese wenige Jahre darauf verlieren würde, konnte der Fälscher natürlich nicht ahnen«, sagt Gübele, der dennoch nicht glaubt, dass Cicci den Stand nur wechseln wollte, um Geld zu sparen. »Vielmehr scheint es sich um eine fixe Idee gehandelt zu haben.« Der Dottore hatte es sich in den Kopf gesetzt, von Adel zu sein – und wollte dies auch öffentlich anerkannt wissen. Dafür spricht ein weiteres Detail: »Es scheint auch eine von Cicci persönlich verfasste Geschichte Pisas gegeben zu haben, in der er behauptete, seine Vorfahren seien bei der Erstürmung Jerusalems im Jahr 1099 zugegen gewesen«, sagt Gübele. »Das Machwerk gilt heute allerdings als verschollen.«
Aus der Zahl von 79 bekannten Cicci-Fälschungen ergibt sich im Umkehrschluss, dass bis zu 122 seiner Fälschungen weiterhin unentdeckt in Archiven und Sammlungen liegen. »Urkundenforscher sollten in Zukunft unbedingt auf der Hut sein, wenn ihnen im Archiv der Name Cicci auf einem vermeintlich mittelalterlichen Stück italienischer Provenienz begegnet«, rät der Göttinger Historiker.
Am Ende hat sich die Urkundenfälscherei kaum gelohnt. Das 1771 aus Hochstapelei geborene toskanische Adelsgeschlecht der Cicci, für das sich dessen Stammvater Domenico derart ins Zeug gelegt hatte, erlosch umgehend wieder, da seine Kinder zwar beide das Erwachsenenalter erreichten, jedoch ohne Nachkommen verstarben. Die Tochter Maria Luisa Cicci (1760–1794) machte sich zu Lebzeiten immerhin aus eigener Kraft einen Namen: als gefeierte Poetin. Sehr zum Missfallen des Vaters, der meinte, die Schriftstellerei sei des Adels nicht würdig.
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