Covid-19 und die Psyche: »Die negative Stimmung hat mit der Zeit abgenommen«
»Spektrum.de«: Herr Professor Zacher, nahezu seit Beginn des Corona-Ausbruchs untersuchen Forscher, wie sich die Pandemie – oder vielmehr der Versuch, sie einzudämmen – auf die menschliche Psyche auswirkt. Inzwischen gibt es hunderte, wenn nicht gar tausende Studien …
Hannes Zacher: Interessant eigentlich, wie schnell das geht. Normalerweise dauert Wissenschaft, gerade in der Psychologie, deutlich länger. Wir haben es mit einem regelrechten Boom zu diesem Thema zu tun.
Woran liegt das?
Die Forschergemeinde hat erkannt, dass es eine fantastische Gelegenheit ist, Veränderungen zu untersuchen. Viele Kolleginnen und Kollegen haben schnell reagiert und ihre Studien umgestellt oder sind für Untersuchungen ins Feld gegangen.
Warum haben Sie und Ihr Koautor Cort Rudolph sich dem Zusammenhang zwischen Covid-19 und der Psyche gewidmet?
Die aktuelle Lage ist eine starke Krisen- und damit auch Veränderungssituation, die man ganz unterschiedlich wahrnehmen und bewerten kann. Ich wollte wissen, wie das die Menschen, ihr Erleben und Verhalten beeinflusst. Was verändert sich beim Wechsel ins Homeoffice? Wer reagiert wie auf diese Krise? Wer passt sich gut an? Bei wem bleibt das Wohlbefinden bestehen, so wie es vorher war? Bei wem nimmt es ab? Wer sieht vielleicht auch die positiven Seiten von Veränderungen? Es gibt in der Psychologie viel Forschung zu organisationalen und gesellschaftlichen Veränderungen oder auch Krisen. Corona bietet die Chance, das mal live zu untersuchen.
Der Tenor fast aller Studien zur Frage, welche Effekte SARS-CoV-2 auf unsere Psyche hat, lautet: Die psychischen Probleme und Krankschreibungen nehmen zu, Beziehungen müssen eine harte Probe durchstehen, die Scheidungsraten steigen und die Fälle häuslicher Gewalt ebenso. In Ihrer Studie aber sehen Sie auch Licht am Ende des Tunnels.
Hier muss man unterscheiden zwischen persönlichen Krisen wie Jobveränderungen, Scheidung oder einer psychischen Erkrankung. Die wurden in der Psychologie häufig untersucht. Aktuell aber haben wir es mit einer gesamtgesellschaftlichen Krise zu tun. Das Ereignis ist also für alle das Gleiche. Deshalb lässt sich gut untersuchen, wie unterschiedlich Menschen auf diese Krise reagieren. Wir haben festgestellt – anders als erwartet –, dass es im Durchschnitt gar nicht so starke Beeinträchtigungen im Wohlbefinden gibt, sondern dass Menschen ganz unterschiedliche Bewältigungsstrategien anwenden.
Zum Beispiel?
Die günstigsten sind so genannte problemorientierte Strategien – Pläne zu machen, Probleme aktiv anzugehen oder einer Verschlechterung der eigenen Situation vorzubeugen –, denn sie setzen direkt bei den Ursachen, den so genannten Stressoren, an. Als der Lockdown kam, haben viele Menschen Vorräte angelegt oder überlegt: Was machen wir mit den Kindern, wenn sie die ganze Zeit zu Hause sind? Dann gibt es emotionale und soziale Bewältigungsstrategien. Das bedeutet, sich auf die positiven Aspekte der Situation zu fokussieren und emotionale oder instrumentelle Unterstützung zu organisieren, beispielsweise die Nachbarschaftshilfe oder regelmäßige Telefonate mit Freunden und Verwandten. Im Gegensatz dazu setzen vermeidende oder dysfunktionale Strategien nicht direkt am Stressor an. Sie zielen auf die Konsequenzen und wirken sich nicht positiv aufs Wohlbefinden aus: Alkoholkonsum, das Verdrängen der Krise, indem man keine Nachrichten mehr schaut, oder Schuldzuweisungen sich selbst gegenüber.
»Ich war überrascht, wie gering der Effekt war«
Ihre Studie zeigt, dass das Wohlbefinden der Probanden trotz Corona-Krise kaum abnimmt. Haben Sie mit diesem Ergebnis gerechnet?
Ich war überrascht, wie gering der Effekt war. Allerdings muss man berücksichtigen – und dieses Problem haben viele Studien –, dass die Daten auf einer ausgewählten Stichprobe basieren. Bei uns sind das Vollzeiterwerbstätige. Leute, die durch Corona ihren Job verloren haben und die Veränderungen wohl ganz anders empfinden, sind nicht Teil der Befragung. Der Vorteil dieser Selektivität ist jedoch, dass wir Veränderungen in einer relativ homogenen Gruppe untersuchen können.
Gab es weitere überraschende Ergebnisse?
Durchaus. Auch die negative Stimmung hat mit der Zeit abgenommen. Wir haben mit dem Gegenteil gerechnet – dass Menschen zunehmend wütend oder verärgert sind über die Situation. Doch das konnten wir nicht belegen.
Wie erklären Sie sich diesen Trend?
Das liegt einerseits an der Art und Weise der Messung: Für die Lebenszufriedenheit fragten wir viermal zwischen Dezember 2019 und Mai 2020: Wie zufrieden sind Sie mit Ihrem Leben? Für positive Stimmungsmarker fragten wir nach Gefühlen wie Freude, Begeisterung oder Aufgeregtsein. Bei der negativen Stimmung ging es um sehr intensive Emotionen wie Nervosität, Ärger und Angst. Ich denke, dass Menschen in der Corona-Krise seltener diese intensiven negativen Gefühle spürten, sondern eher weniger aktivierte negative Emotionen wie Trauer oder ein Gefühl der Leere, die eher depressiver, apathischer oder emotionsloser Natur sind.
Ihre Längsschnittstudie beginnt bereits mit Befragungen im Dezember 2019. Da war hier zu Lande von Corona ja noch gar keine Rede. Wurden die Probanden rückwirkend befragt?
Nein. Wir haben die Studie tatsächlich vergangenen Dezember angefangen, allerdings mit ganz anderen Zielen. Da gab es Covid-19 gerade erst in China, das Virus wurde noch von niemandem so genannt und ehrlich gesagt habe auch ich es zunächst ignoriert. Ich hätte nie gedacht, dass das solche Ausmaße annimmt. Die Studie war für ein ganz anderes Themengebiet angelegt. Es ging um das Thema Alter und Arbeit.
Daher auch der Pool aus Vollzeiterwerbstätigen.
Genau. Geplant war, ein Jahr lang alle drei Monate dieselben Variablen zu erheben. Nach Dezember folgte im März die zweite Erhebung. Auch da dachte ich am Monatsanfang noch nicht, dass sich Corona weltweit verbreiten würde. Mitte März stellten wir die Studie schließlich um. Wir entschieden, fortan monatlich abzufragen und neue, Covid-19-spezifische Aspekte aufzunehmen. Die Frage nach dem Wohlbefinden war jedoch von Anfang an dabei. Das ist unser großer Vorteil, denn viele Corona-Studien haben erst Ende März begonnen und können daher keine Vergleiche zur Zeit vor der Pandemie ziehen.
Welche Aspekte sind bei Ihnen hinzugekommen?
Die Bewältigungsstrategien, denn die sind spezifisch für Corona. Wir fragten nach 14 Arten, wie man mit einer Krise umgehen kann. Außerdem untersuchten wir die Bewertung der Krise als Herausforderung oder Bedrohung beziehungsweise als zentral oder (un)kontrollierbar. Dieses Bewertungsmodell entstammt der Theorie des transaktionalen Stressmodells.
Was besagt diese Theorie?
Evolutionsgeschichtlich bewertet der Mensch eine Gefahr in zwei Stufen. Wenn ein Säbelzahntiger vor mir steht, überlege ich zunächst: Ist das überhaupt eine Bedrohung, oder kann ich auch Nutzen aus dieser Situation ziehen? Danach wird überlegt: Wie steht es um meine Ressourcen, wie kann ich damit umgehen? Erst dann folgt die Bewertung, ob die Situation negativ oder stressig ist.
»Die meisten Menschen kennen in ihrem direkten Umfeld niemanden, der das Virus hat oder hatte«
Für Ihre Studie haben Sie 979 Männer und Frauen in ganz Deutschland befragt. Gab es regionale Unterschiede bei den Ergebnissen?
Menschen aus Bayern oder Baden-Württemberg waren durch ihre Nähe zur Österreich und Italien schließlich früher und stärker von den Auswirkungen der Pandemie betroffen als Leute in Niedersachsen oder Hessen. In der Studie unterscheiden wir zwischen Nord- und Süddeutschland, weil die Regionen unterschiedlich stark betroffen sind. Außerdem gibt es in der Psychologie Hinweise darauf, dass Menschen in Süddeutschland ein bisschen resilienter sind als Norddeutsche. Wir haben beispielsweise nach Bundesländern, wo die Menschen wohnen, gefragt und uns dort die Infektionszahlen angeschaut. Zusammenhänge konnten wir allerdings keine finden.
Eine Studie aus Berlin zeigte indes, dass die Probleme eher durch die Angst vor Covid-19 kommen als durch tatsächliche Erfahrungen mit dem Virus.
Da die Basisrate an Infektionen und Todesfällen sehr gering ist, kennen die meisten Menschen in ihrem direkten Umfeld niemanden, der das Virus hat oder hatte. Diese Krise ist also gewissermaßen auch stark sozial oder psychologisch.
Eine Krise unserer Vorstellung also?
Nicht gänzlich natürlich. Aber wir haben die Pandemie zunächst kaum wahrgenommen oder vielleicht sogar versucht, sie zu verdrängen. Erst die Nachrichten und die Reaktionen anderer Menschen signalisierten uns: Oh, da verändert sich gerade etwas. Unsere Daten zeigen, dass die Menschen die Bedrohung durch Covid-19 sehr unterschiedlich wahrnehmen. Viele sagten: Mich tangiert das überhaupt nicht. Ja, ich arbeite im Homeoffice, aber das ist nicht so schlimm. Während andere meinten: Ich finde das ganz schlimm. Ich weiß gar nicht, wie die Zukunft aussehen soll, und mache mir Sorgen um meine Familie. Das geht sehr weit auseinander, obwohl es sich um dieselbe Krise handelt.
Untersuchungen in Deutschland und den USA ergaben, dass Persönlichkeitsmerkmale im Umgang mit dem Lockdown relevant sind. Wer beispielsweise extrovertierter und neurotischer ist, neigt eher dazu, restriktiven gesellschaftlichen Maßnahmen wie einem Lockdown kritisch gegenüberzustehen.
Ja, es kommt sehr stark auf die Persönlichkeit des Einzelnen an und auf die Frage, wie wir an Krisen herangehen. Wir finden in unserer Studie zum Beispiel, dass gewissenhafte Menschen häufiger Masken tragen und sich häufiger die Hände waschen. Extrovertierte hingegen haben mehr unter dem Lockdown gelitten, weil sie sozial interessiert sind, gerne auf Partys gehen. Das überrascht wenig, aber trotzdem ist es spannend, Persönlichkeit als stabile Verhaltenstendenz in so einer Krise zu untersuchen. Die Ergebnisse können beispielsweise Therapeuten helfen, bessere Angebote zu machen – einerseits ganz allgemein, aber auch speziell für Kinder oder Personen, die schon vorher unter psychischen Problemen gelitten haben.
Außerdem scheinen junge Leute und Frauen davon stärker betroffen zu sein als Männer.
Ich wäre vorsichtig mit diesen Ergebnissen. Wir finden zum Beispiel auch, dass Menschen mit höherem Bildungsstand eher unter der Pandemie gelitten haben. Sie erfassen womöglich die Konsequenzen für die Wirtschaft anders oder leiden darunter, dass es weniger kulturelle Angebote gibt. Das wäre meine Ad-hoc-Erklärung. Bei demografischen Merkmalen wie Alter, Geschlecht, Beruf, Einkommen oder Familienstand die wirklichen Gründe zu erfahren, ist allerdings schwierig. Bei Geschlechterunterschieden beispielsweise könnte es daran liegen, dass Frauen in der Regel viel mehr Aufgaben im Haushalt übernehmen und dadurch stärker belastet sind. Wir beobachten leider auch, dass sich durch Corona dieses klassische Rollenverständnis, das viele Teile unserer Gesellschaft hinter sich lassen wollen, wieder manifestiert. Das führt dazu, dass es den Frauen schlechter geht. Wir wissen zum Beispiel auch, dass Frauen generell mehr psychische Erkrankungen aufweisen als Männer. Aber das liegt daran, dass sie viel mehr Aufgaben im Haushalt übernehmen, die Kinderbetreuung schultern und oftmals auch noch einen Beruf haben – an der gesellschaftlichen Rollenverteilung also, und nicht daran, dass sie Frauen sind.
»Manche Menschen haben versucht, ein Gefühl von Kontrolle herzustellen, indem sie sehr viel Klopapier gekauft haben«
Der Begriff einer coronabedingten »Mental Health Crisis« kursiert inzwischen immer häufiger. Wie schätzen Sie die Lage ein?
Die Lebenszufriedenheit hat leicht abgenommen, das stimmt. Aber diese Dramatisierung, die es in der öffentlichen Debatte gab und gibt, können wir weder mit unseren Daten noch anderen Studien stützen. Es ist falsch zu behaupten, dass auf einmal alle total unzufrieden mit ihrem Leben sind. Im Gegenteil. Viele haben auch gesagt: Ich bin froh, in Europa zu leben und nicht in Brasilien oder in den USA.
Eine solche Situation wie derzeit hat die Menschheit in den vergangenen 50 Jahren nicht erlebt. Der Ausbruch von Ebola 2013 oder Sars 2003 sind mit Covid-19 nicht vergleichbar. Welche Rolle spielt die scheinbar nicht zu überblickende Größenordnung der Situation für die psychische Belastung?
Das hat mit dem menschlichen Bedürfnis nach Kontrolle zu tun. Angela Merkel sprach von der größten Bedrohung seit dem Zweiten Weltkrieg. Und da ist viel dran. Diese Situation ist einzigartig und wird – vielleicht, hoffentlich – in unserem Leben auch einzigartig bleiben. Unser Grundbedürfnis nach Kontrolle entwickelt sich bereits im Kindesalter und ist immer dann angesprochen, wenn sich in unserem Leben etwas verändert. Gerade in Deutschland haben wir eine sehr unsicherheitsvermeidende Kultur, während andere Kulturen wie beispielsweise in Afrika oder Asien mit Unsicherheit viel besser umgehen können. Diese Krise hat vielen von uns den Boden unter den Füßen weggerissen und dem Leben die Kontrollierbarkeit genommen. Die Psychologie zeigt, dass wir umso besser mit derlei Stress umgehen können, je stärker unsere Kontrollüberzeugung ist. Manche Menschen – und das war psychologisch sehr interessant – haben versucht, ein Gefühl von Kontrolle herzustellen, indem sie sehr viel Klopapier gekauft haben. Das ist absurd, aber eine Art und Weise, um irgendwie wieder Sicherheit herzustellen.
Ihre Studie wurde ursprünglich zum Thema Arbeit und Psychologie angelegt. Nun sorgte Corona für eine von vielen Leuten seit langer Zeit geforderte Revolution des Arbeitslebens.
Sich das genauer anzuschauen, finde ich sehr spannend. Unter den Teilnehmern und Teilnehmerinnen unserer Studie sind allerdings nicht nur Menschen im Homeoffice. Etwa die Hälfte arbeitet auch in systemrelevanten Berufen wie bei der Polizei, der Feuerwehr oder dem Wasserwerk. Wir konnten zeigen, dass Leute, die ins Homeoffice gingen, daran auch positive Seiten sahen. Dabei ging es primär um das Bedürfnis nach Selbstbestimmung oder Autonomie.
»Homeoffice und Kinder – das funktioniert einfach nicht«
Das sehen Eltern mit Schulkindern vermutlich anders, vor allem wenn der Partner außer Haus in einem systemrelevanten Beruf arbeitet, oder?
Absolut. Leute mit Kindern haben das Homeoffice deutlich weniger wohlwollend bewertet und eher als Belastung empfunden. Das Homeoffice ist schlichtweg nicht dafür angelegt, es mit Kindern zu kombinieren. Das hat die Forschung immer schon gesagt. Und dann stehen wir vor einer Situation, in der alle wissen wollen: Wie macht man das jetzt mit Homeoffice?
Ihre Antwort?
Homeoffice und Kinder – das funktioniert einfach nicht.
Innovation im Arbeitsleben ist einer Ihrer Schwerpunkte. Welche Forschungsfragen wollen Sie in Bezug auf Corona als Nächstes angehen?
Cort und mich interessiert das Thema Führung und Zusammenarbeit auf Distanz. Auch der Übergang zurück in die Präsenzpflicht bei der Arbeit wird spannend. Der Prozess, dass die meisten von uns ins Homeoffice mussten, ging rasant. Wie aber läuft es in die umgekehrte Richtung? Was sind also die Kräfte, die Menschen zu Hause halten? Geht es nur um Autonomie und Bequemlichkeit oder auch um Ängste, die die Leute haben, wenn sie jetzt wieder ins Büro gehen? Veränderungen im Krankheitsverhalten möchten wir uns ebenfalls anschauen.
Können Sie das konkretisieren?
Vor Corona war es üblich, dass viele Arbeitnehmer auch mit einer leichten Erkrankung zur Arbeit gingen. Verändert sich da etwas? Achten die Menschen jetzt mehr auf sich selbst? Wie handhabt man die Krankschreibung im Homeoffice? Das Konzept des posttraumatischen Wachstums besagt, dass manche Menschen nach Krisen mehr Sinn im Leben empfinden, ihre Beziehungen neu bewerten und eher auf ihre eigentlichen Wünsche und Bedürfnisse hören. Außerdem spricht man in der Psychologie von »flashbulb moments«, die tief greifende Veränderungen bedeuten, zum Beispiel 9/11. Diesen Stellenwert wird die Corona-Krise sicherlich auch einnehmen.
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