News: Die neue Sprache fürs Netz
Um zu verstehen, wie das möglich ist, stellen Sie sich einmal vor, Sie wollen für die Ferien eine Datscha an der Schwarzmeerküste mieten. Sie sprechen jedoch kein Wort Russisch. Ein Freund in Odessa schickt Ihnen per E-Mail die Auflistung der Kleinanzeigen mit Vermietungsangeboten aus der lokalen Zeitung. Selbst wenn er Beschreibungen einfügt, wie die Anzeige in der Zeitung erschienen ist (dort war eine Linie, dieses Wort war fett gedruckt, ...) wird Ihnen das kaum helfen. Was aber, wenn er den russischen Text mit Anmerkungen versieht, die sagen, welche der Zahlen sich auf Preise und welche auf Schlafzimmer beziehen? Oder wenn er jede Bemerkung zum Ausblick hervorhebt und anmerkt, daß diese Wortfolge "sehr gut" und jene "Sommerferien" heißt? Plötzlich wäre die Liste nützlich.
Für Browser-Programme sind Web-Seiten heute typischerweise lange Aneinanderreihungen von Kauderwelsch (wie uns Deutschen chinesische oder russische Texte vorkommen) mit ein paar verständlichen HTML-Wörtern, die beschreiben, wie die Brocken Kauderwelsch auf der Seite anzuordnen sind und welche Schriftart zu setzen ist. Verleger können HTML nutzen, um Web-Seiten schöner zu gestalten, aber die Seite etwas halbwegs Intelligentes machen zu lassen – z.B. eine Grundstücksliste nach Preisen zu sortieren –, erfordert ein eigenes Programm. Der Leser müßte warten, bis dieses Programm eine volle neue Seite auf einem weit entfernten und überlasteten Server aufgebaut und an ihn zurückgeschickt hat. Dieser kostspielige und ineffizente Weg ist es, der das Web so schwerfällig und langsam macht bei der Bereitstellung von Diensten wie Reisereservierungen, auf den Nutzer zugeschnittene Nachrichten oder nützliche Suchhilfen – und weshalb einige Firmen solche Dienste online anbieten.
XML sollte diese Probleme beheben. Es erlaubt Autoren, ihre Seiten mit Anmerkungen zu versehen, die beschreiben, was die Textstücke sind, statt nur zu sagen, wie sie erscheinen sollen. Die Odessa-Rundschau könnte zum Beispiel ihre Kleinanzeigen mit solchen Markierungen ausstatten, die Web-Browsern erlauben, Anzeigen für Wodka von denen für Datschas zu unterscheiden und in jeder Datscha-Auflistung den Preis, die Größe des Besitzes und den Ausblick zu identifizieren.
Nun da XML als Web-Standard zertifiziert wurde, haben sowohl Microsoft als auch Netscape angekündigt, daß die nächsten Hauptreleases ihrer Browser die neue Sprache verstehen werden. Indem sie sogenannte Style Sheets benutzen, werden die Programme XML-Dokumente genauso leicht anzeigen können, wie sie jetzt bereits HTML-Seiten formatieren. Wenn aber Programm-Schnipsel, also Scripts oder Applets, in eine XML-Seite eingebettet sind, können Browser auch die darin enthaltenen Informationen bearbeiten. Die Odessa-Listen könnten so arrangiert werden, daß Besitzungen, die mehr als 2000 Rubel kosten, aussortiert werden und mit Datscha-Listen aus fünf anderen Online-Zeitungen verknüpft werden.
XML bietet im wesentlichen den ersten universellen Datenbankübersetzer, also einen Weg, um Informationen in wirklich jedem Speicher in eine Form zu bringen, die beinahe jeder andere Computer bearbeiten kann. So sollte es die Internet-Suche in zweierlei Hinsicht dramatisch effizienter gestalten.
- Erstens könnten Internet-Surfer ihre Suche auf ausgewählte Web-Seiten beschränken, zum Beispiel auf Rezepte oder Zeitungsberichte oder Produktbeschreibungen.
- Zweitens sind viele der nützlichen Informationen auf dem Web in Datenbanken versteckt, die den Suchmaschinen verborgen bleiben. Diese durchkämmen das Netz auf der Suche nach Text für ihre Stichwortverzeichnisse. Mit XML könnte Medline seine Datenbank mit Zusammenfassungen medizinischer Fachartikel so offenlegen, daß jedes Programm sie durchsuchen könnte. General Motors könnte dasselbe mit seinem Ersatzteilkatalog machen.
Die bisher vielleicht eindruckvollste Demonstration der Flexibilität von XML ist MusicML, eine einfache Ansammlung von Bezeichnungen für Noten, Takte und Pausen, die es erlaubt, Kompositionen als Texte zu speichern, aber durch XML-fähige Web-Browser in Form von Notenblättern darzustellen. Mit etwas mehr Programmierung könnten Browser wahrscheinlich MusicML auf synthetischen Instrumenten spielen. Nun, da das Web Daten lesen kann, könnte es vielleicht auch lernen, Musik zu lesen.
Der Heidelberger Verlag Spektrum der Wissenschaft ist Betreiber dieses Portals. Seine Online- und Print-Magazine, darunter »Spektrum der Wissenschaft«, »Gehirn&Geist« und »Spektrum – Die Woche«, berichten über aktuelle Erkenntnisse aus der Forschung.
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