DDR-Geschichte: Die Notizen in der Kirchturmkugel
Die Regierung der DDR hatte gerade beschlossen, ihr Land durch einen antifaschistischen Schutzwall von der kapitalistischen Bundesrepublik Deutschland abzuschotten, als der Pfarrer von Gorgast seinen Unmut über die politische und wirtschaftliche Situation der Gemeinde niederschrieb. Diese brisanten Notizen bewahrte er an einem ungewöhnlichen Ort auf: In der vergoldeten und zugelöteten Kirchturmkugel. Dort schwebten sie seither über dem Dach der mittlerweile denkmalgeschützten Kirche. Als diese jetzt saniert werden sollte, fielen seine Aufzeichnungen der heutigen Pfarrerin in die Hände.
Anja Grätz erkannte schnell, welchen Ärger die maschinen- und handgeschriebenen Seiten dem Geistlichen hätten einhandeln können. Klaus Zebe verfasste regimekritische Zeitzeugnisse, die schonungslos die schlechte wirtschaftliche Lage und die gesellschaftliche Anspannung dokumentierten: "Eine tiefe Niedergeschlagenheit bemächtigt sich der Bevölkerung", schrieb er unter anderem. "Immer noch mangelnde Technik, der Arbeitskräftemangel und das dauernde Hineinreden von Leuten, die nichts von der Landwirtschaft verstehen."
Die Kirche von Gorgast im Landkreis Märkisch-Oderland war der erste sakrale Neubau der DDR – zum Unmut der SED-Regierung. Bei ihrer Einweihung fuhr deshalb eine Blaskapelle vor, die 20 Minuten lang gegen Zebes Predigt trompetete. Heute sagt der 82-Jährige: "Wir haben uns untergeordnet, aber nie an diesen Staat geglaubt." Anja Grätz hat sich nun vorgenommen, die 50 Jahre alten Aufzeichnungen nach der Sanierung wieder in die Kirchturmkugel zu legen – und zu ergänzen. "Ich will die Tradition fortführen und aufschreiben, was uns heute bewegt."
Tabea Rueß
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