Tierische Wintervorräte: Die Ökologie des Sammelns
Hier noch schnell eine Nuss vergraben, da ein paar Eicheln verstecken. Etliche Tierarten legen im Herbst einen unbändigen Arbeitseifer an den Tag, wenn sie ihre Wintervorräte zusammentragen. Ein einziger Eichelhäher kann in ein paar Wochen etliche tausend Eicheln verstecken. Und der in den Alpen lebende Tannenhäher legt zwischen August und Oktober bis zu 10 000 Depots mit den Samen der Zirbelkiefer an. Schließlich lebt er fast ausschließlich von diesen Snacks, und der Vorrat muss reichen, bis er im nächsten August neue Zapfen ernten kann. Auch Nagetiere wie Eichhörnchen und Mäuse vergraben jedes Jahr Unmengen von Samen – und erfüllen damit eine wichtige ökologische Funktion. Schließlich findet auch der begabteste tierische Gedächtniskünstler nicht alle seiner Verstecke wieder. Und aus den vergessenen Samen können neue Bäume keimen.
Von diesem Tauschgeschäft können also beide Seiten massiv profitieren: Die Vorratssammler kommen trotz Nahrungsknappheit über den Winter, und die Pflanzen können ihre Samen mit tierischer Hilfe über größere Entfernungen verbreiten. Dieses Grundprinzip kennen Biologen schon lange. Wie gut diese Kooperationen allerdings im Detail funktionieren und welchen Einfluss die tierischen Partner tatsächlich auf die Vegetation haben, lässt sich nur mit aufwändigen Analysen klären. Dabei kommen immer wieder neue Überraschungen zu Tage. Die Ökologie der Vorratshaltung ist offenbar komplizierter, als Wissenschaftler lange angenommen hatten.
Neues Image für Tannenhäher
Die Rolle des Tannenhähers zum Beispiel ist keineswegs leicht zu durchschauen. Noch in der ersten Hälfe des 20. Jahrhunderts hatten Jäger dem Vogel so massiv nachgestellt, dass er im Alpenraum kurz vor dem Aussterben stand. Denn wegen seines Sammeleifers stand er im Verdacht, zu viele Samen zu entwenden und so die Vermehrung der Zirbelkiefern in Gefahr zu bringen.
Dann aber erlebte die Art einen kompletten Imagewandel. Es wurde nämlich klar, dass ihre Aktivitäten für die auch "Arven" genannten Bäume extrem wichtig sind. Im Gegensatz zu anderen Nadelbäumen öffnen sich ihre Zapfen nämlich nicht von selbst. Zudem sind die Samen ziemlich schwer und nicht mit Flügeln ausgerüstet. Wie sollen sie da nennenswerte Entfernungen zurücklegen? Oder Stellen erreichen, die höher liegen als der Mutterbaum? Dazu muss ein Tannenhäher zunächst einen Zapfen aufhacken und die Samen dann woanders hintragen. Diese Leistung hat dem Rabenvogel den Titel "gefiederter Förster" eingebracht. Denn er verfügt zwar über ein hervorragendes Gedächtnis, so dass er rund 80 Prozent seiner verborgenen Schätze wiederfindet. Aus dem vergessenen Rest aber können neue Bäume wachsen – sofern die Samen an einer Stelle landen, an der sie gut keimen können.
Das aber ist offenbar deutlich seltener der Fall, als Ökologen bisher angenommen hatten. Zu diesem Ergebnis kommt eine neue Studie, die Eike Lena Neuschulz vom LOEWE Biodiversität und Klima Forschungszentrum in Frankfurt am Main gemeinsam mit Kollegen von der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL) im schweizerischen Birmensdorf durchgeführt hat [1].
In den Schweizer Alpen haben sich die Forscher zum einen die Verstecke der Vögel genauer angeschaut: Liegen diese eher unter einem dichten Kronendach oder in offenerem Gelände? In feuchtem oder trockenem Boden? Zum anderen haben sie in verschiedenen Höhen zwischen 1850 und 2200 Metern über dem Meeresspiegel selbst Testverstecke angelegt – in kahlem Boden, in der Zwergvegetation oder in Felshabitaten, an der Basis von Baumstämmen oder unter Schnee. Wie oft werden diese Depots jeweils von Nagetieren geplündert? Und wie häufig keimen aus den versteckten Samen neue Bäumchen?
Egoistische Förster
Den Ergebnissen zufolge scheint sich der gefiederte Förster nicht sonderlich um die Ansprüche seiner Partnerbäume zu kümmern. "Er versteckt die Samen nämlich gerade da, wo sie nicht besonders gut keinem können", sagt Eike Lena Neuschulz. So brauchen die Arvensamen feuchten Boden und viel Licht, um aufzugehen. Die Tannenhäher aber legen ihre Depots viel lieber an trockenen Stellen unter einem relativ dichten Kronendach an.
Auch viele andere Tiere verteilen ihre Vorräte nicht beliebig irgendwo im Gelände, sondern bevorzugen Stellen mit ganz bestimmten Umweltbedingungen. Eine Theorie besagt, dass sie bei der Wahl ihrer Schatzkammern vor allem die hungrige Konkurrenz im Blick haben: Gelagert wird dort, wo mögliche Plünderer nicht so leicht zum Zuge kommen. Andere Forscher vermuten dagegen, dass die Sammler ihre Vorräte auf diese Weise eher vor dem Verderben schützen wollen.
Beim Tannenhäher halten Eike Lena Neuschulz und ihre Kollegen die zweite Möglichkeit für wahrscheinlich. Denn eine wirksame Diebstahlsicherung bieten seine Verstecke nicht. In den Experimenten der Forscher ließen sich plündernde Nagetiere weder von der Bodenfeuchte der Testdepots noch von der Dichte des Kronendachs beeinflussen. Die Haltbarkeit der Snacks dagegen veränderte sich je nach Lage durchaus: "In trockenen Böden bleiben die Samen vermutlich besser erhalten", sagt Felix Gugerli von der WSL. Da sie dort schlecht keimen, kann der Häher auch nach vielen Monaten noch darauf zurückgreifen. Und das ist für ihn mitunter lebenswichtig. Denn die Zirbelkiefern bieten keineswegs jedes Jahr eine reiche Zapfenernte. Der Vogel aber ernährt sich nicht nur selbst überwiegend von diesen Leckerbissen, sondern füttert sogar seine Jungen damit. Da gilt es, bei der Wahl des Verstecks sorgfältig auf möglichst schlechte Keimungsbedingungen zu achten.
Die Arven scheinen dabei auf den ersten Blick kein gutes Geschäft zu machen. Doch sie haben sich offenbar mit der Situation arrangiert. Möglicherweise kommt ihnen dabei zugute, dass sie sehr alt werden. Bei einer Lebenserwartung von bis zu 1000 Jahren genügt wohl auch ein geringer Anteil von gekeimten Samen, um ihre Bestände zu erhalten. Weit verbreitet scheint ein so egoistisches Verhalten unter den tierischen Transporteuren allerdings nicht zu sein. "Der Tannenhäher ist eines der wenigen Beispiele, bei denen die Samenausbreitung nicht so erfolgt, wie es für die Pflanze optimal wäre", sagt Eike Lena Neuschulz.
Einem weiteren solchen Fall sind Wissenschaftler um Hongmao Zhang von der Central China Normal University in Wuhan auf die Spur gekommen. Sie haben sich mit den wilden Aprikosen beschäftigt, die im Norden Chinas wachsen. Deren Samen werden häufig von Nagetieren gesammelt und versteckt – vorzugsweise im Schatten von Büschen. Da diese Bäume zum Keimen aber viel Licht brauchen, ist das keine sonderlich günstige Konstellation. Doch wie die Zirbelkiefern haben sich offenbar auch die Aprikosen an diese Widrigkeiten angepasst. Ihre Vermehrung scheint jedenfalls nicht in Gefahr zu sein [2].
Bildung einer Interessengemeinschaft
In vielen anderen Fällen aber stimmen die Interessen von Samenproduzenten und -verbreitern ziemlich gut überein. Das Sibirische Streifenhörnchen Tamias sibiricus zum Beispiel versteckt Eicheln mit Vorliebe an Stellen mit einem hohen Wassergehalt im Boden. Und genau dort können die Samen der Mongolischen Eiche auch am besten keimen [3].
Für andere Pflanzenarten ist es dagegen vor allem entscheidend, dass nicht ihr gesamter Nachwuchs von hungrigen Vegetariern vernichtet wird. Und erstaunlicherweise können die Vorratssammler der Tierwelt auch dabei eine große Hilfe sein. Ben Hirsch vom Smithsonian Tropical Research Institute und seine Kollegen haben das zum Beispiel bei Experimenten auf der Insel Barro Colorado in Panama festgestellt [4]. Sie haben dort die Samen der Schwarzen Palme Astrocaryum standleyanum mit kleinen Sendern ausgerüstet, um ihren Weg bis in die Vorratslager der Mittelamerikanischen Agutis verfolgen zu können.
Diese bis zu vier Kilogramm schweren Nager mit dem wissenschaftlichen Namen Dasyprocta punctata schleppen ihre Fundstücke demnach mit Vorliebe in Depots, die möglichst weit weg von Palmen der gleichen Art liegen. Denn dort treiben sich weniger andere Tiere herum, die es ebenfalls auf solche Samen abgesehen haben. Das ist nicht nur im Interesse der Agutis, die ihre Vorräte nicht mit irgendwelchen Plünderern teilen wollen. Auch den Palmen gelingt es so offenbar, mehr ihrer Samen vor hungrigen Mäulern in Sicherheit zu bringen. Tatsächlich etablierten sich die jungen Palmen in den Versuchen der Forscher am besten an Stellen mit einer geringen Samendichte. Agutis sorgen also für eine sehr effektive Samenverbreitung. Da kann es die Palme offenbar gut verkraften, wenn ein Teil ihrer Nachkommenschaft im Magen der Transporteure landet.
Konkurrenten und Feinde
Auch nordamerikanische Grauhörnchen scheinen bei der Wahl ihrer Verstecke die plündernde Konkurrenz im Blick zu behalten. Das schließen Michael Steele von der Wilkes University in den USA und seine Kollegen jedenfalls aus einer Reihe von Versuchen, die sie mit diesen Nagern gemacht haben. Die besonders attraktiven großen Eicheln vergraben Grauhörnchen demnach mit Vorliebe in offenem Gelände. Kleinere Exemplare landen dagegen meist deutlich näher an ihrem Mutterbaum im Schatten des Kronendachs [5].
Offenbar wägen die Tiere bei der Wahl ihrer Verstecke zwischen zwei Gefahren ab. Unter den Bäumen angelegte Vorratslager werden zwar nachweislich häufiger geplündert. Wer seine Schätze aber unter freiem Himmeln vergräbt, fällt dabei leichter Greifvögeln und anderen Feinden zum Opfer. Ein solches Risiko einzugehen, lohnt sich offenbar nur für die appetitlichsten Happen. Diese Strategie der Hörnchen könnte nach Einschätzung der Forscher auch im Interesse der Eichen sein. Schließlich gelingt es ihnen so, ihren wertvollsten Samen die besten Startbedingungen zu verschaffen: Statt im Schatten der älteren Bäume um eine Chance kämpfen zu müssen, landen sie weit entfernt von ihrem Mutterbaum in lichtdurchflutetem Gelände.
Die Entscheidung, wo sie einen bestimmten Fund verstecken, machen die Samenverbreiter allerdings nicht nur von dessen Wert abhängig. Auch die aktuelle Gefahrenlage spielt eine Rolle. Ein Team um Pau Sunyer vom Institut für Ökologische Forschung und Forstanwendungen in Cerdanyola del Vallès bei Barcelona hat zum Beispiel Waldmäuse per Videokamera beim Verstecken von Eicheln beobachtet. Dabei hat sich gezeigt, dass auch die Nase über die Effektivität des tierischen Transportwesens entscheidet [6]: In einem Teil ihrer Experimente haben die Forscher die Mäuse mit dem Geruch der Europäischen Ginsterkatze konfrontiert – und damit weder den Nagern noch den Eichen einen Gefallen getan.
Hatten die Tiere nämlich den Geruch solcher Feinde in der Nase, waren sie extrem wachsam und brauchten daher viel länger als sonst, bis sie eine Eichel gefunden, weggetragen und vergraben hatten. Ganz anders reagierten sie dagegen, wenn sie Artgenossen erschnupperten. Offenbar rechneten sie in solchen Situationen mit unliebsamer Konkurrenz, die ihnen ihre Schätze streitig machen könnte. Also legten sie einen enormen Arbeitseifer an den Tag und vergruben die Eicheln besonders schnell und effektiv. Der beste vierbeinige Samenverbreiter scheint demnach einer zu sein, der um seine Vorräte fürchtet und nicht um sein Leben.
Käfer oder Nager?
Auch die konkurrenzbewussteste Maus ist aus Sicht einer Eiche allerdings nicht unbedingt die perfekte Kooperationspartnerin. Dazu ist sie nämlich einfach zu gefräßig. Ignacio Pérez-Ramos vom Institut für Bodenschätze und Agrarbiologie im spanischen Sevilla und seine Kollegen haben ein paar deutliche Indizien dafür gefunden, dass andere Tiere die Samen dieser Bäume weitaus effektiver verbreiten können [7]. Die Forscher haben untersucht, wie zwei sehr unterschiedliche Vorratshalter mit den Samen der Korkeiche und der Algerischen Eiche umgehen, die beide im Süden Spaniens wachsen.
Was die Menge der versteckten Eicheln angeht, hatten eindeutig die Nagetiere die Schnauzen vorn. Allerdings fraßen sie 95 Prozent davon auch auf, und die Übrigen landeten meist unter Büschen, wo sie schlecht keimen konnten. Der Mistkäfer Thorectes lusitanicus dagegen trug zwar deutlich weniger Eicheln durch die Gegend und schleppte sie auch nur ein paar Zentimeter von der Fundstelle weg. Dafür ließ er aber die meisten Samen intakt und vergrub sie bis zu zehn Zentimeter tief im Boden. Das schützte sie nicht nur vor anderen gefräßigen Interessenten, sondern auch vor Austrocknung. Und da die Verstecke oft noch ein günstiges Mikroklima boten, keimten die Samen gut. Die Forscher schätzen, dass die Käfer für Eichen zehnmal so effektive Samenverbreiter sind wie die Nagetiere.
Transporteur gesucht
Allerdings sind längst nicht alle Pflanzen in der komfortablen Lage, gleich auf mehrere mögliche Transporteure zurückgreifen zu können. Manche müssen froh sein, wenn sich überhaupt einer ihrer Samen annimmt – Effektivität hin oder her. So geht es zum Beispiel einem bedrohten Strauch namens Myrcianthes coquimbensis, der in der Atacamawüste Chiles wächst.
Seine fleischigen Früchte mit den großen Samen deuten darauf hin, dass er sich auf Wirbeltiere als Samenverbreiter eingerichtet hat. Doch welche Arten könnten dafür in Frage kommen? Bisher ist das ein Rätsel. Denn einige Vögel picken zwar durchaus an den Früchten. Sie sind aber zu klein, um diese wegschleppen oder die Samen hinunterschlucken und mit dem Kot in der Gegend verteilen zu können.
Wahrscheinlich sind die ursprünglichen Samenverbreiter schon vor langer Zeit ausgestorben, vermuten Andrea Loayza und ihre Kollegen von der Universität im chilenischen La Serena. Warum aber ist dann der Strauch noch da? Und wie kommen seine Samen ausgerechnet in jene felsigen Wüstenbereiche, in denen sie manchmal keimen? Aus eigener Kraft können sie diese Stellen nicht erreichen. Den Wissenschaftlern kam daher ein Verdacht: Konnten vorratssammelnde Nagetiere die ursprünglichen Samenverbreiter zumindest teilweise ersetzt haben?
Auf den ersten Blick scheint das keine sonderlich nahe liegende Idee zu sein. Denn die gefräßigen Kleinsäuger denken gar nicht daran, intakte Samen irgendwo zu vergraben. Was sie in die Felsen schleppen, sind höchstens ein paar angeknabberte Reste ihrer Mahlzeiten. Überraschenderweise aber können selbst daraus noch neue Pflanzen keimen, zeigen die Versuche der Forscher [8]. Fast 60 Prozent der von den Nagern zurückgelassenen Fragmente brachten noch Keimlinge hervor. Selbst bei Samen, die fast 90 Prozent ihrer Speichergewebe verloren hatten, klappte das noch. Sogar Tiere, die nicht gerade pfleglich mit Samen umgehen, können also einen wichtigen Beitrag zur Verbreitung von Pflanzen leisten.
Hilfe von der Kängururatte
Kann man sich diese Leistungen vielleicht sogar zu Nutze machen, wenn man das Wachstum bestimmter Arten fördern will? Diese Idee haben William Longland vom Agricultural Research Service und Steven Ostoja vom US Geological Survey in den Trockengebieten des Great Basin im Westen der USA getestet [9]. Auf dem dortigen Weideland wächst ein Gras namens Achnatherum hymenoides, das eine wichtige Rolle als Viehfutter spielt und den sandigen Boden vor Winderosion schützt. Flächen, deren Vegetation durch Überweidung, Feuer oder Bergbau geschädigt ist, versucht man daher oft mit diesem Gras wieder zu begrünen. Doch so richtig gut klappt das häufig nicht.
Daher haben die Forscher untersucht, ob Kängururatten den Erfolg solcher Projekte verbessern können. Immerhin verbreitet sich die Pflanze von Natur aus fast ausschließlich mit Hilfe dieser Nager. Wenn die Samen reif sind, sammeln die Tiere große Mengen davon und lagern sie für den Rest des Jahres ein. Die meisten ihrer Depots fressen sie allerdings auch wieder leer, so dass normalerweise nur relativ wenige Samen keimen können. Es sei denn, man bietet den Tieren eine schmackhaftere Alternative an. Für Rispenhirse zum Beispiel haben Kängururatten ein besonderes Faible. Also haben die Forscher den Tieren solche Ersatzmahlzeiten zur Verfügung gestellt. Und schon im folgenden Jahr spross das Gras immerhin auf zwei von drei Versuchsflächen deutlich kräftiger. Na dann: gutes Sammeln!
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