Fahrrad-Physik: Rätselhafte Stabilität
Sieben Fahrräder lehnen im Keller von Jim Papadopoulos in Boston an der Wand. Ihre Farbe ist zerkratzt, ihre Reifen sind platt. Ein handgefertigter Fahrradrahmen – einst ein Hochzeitsgeschenk – ist eingestaubt. "Ich habe bei meinem Umzug die meisten meiner Forschungsräder weggegeben", sagt Papadopoulos. Er hat nur die Fahrräder behalten, die ihm etwas bedeuten: "Das sind die, mit denen ich gefahren bin." Papadopoulos, 62 Jahre alt, hat sich in seinem Leben hauptsächlich mit Fahrrädern beschäftigt – oft zu Lasten aller anderen Dinge. Als Teenager und als Student nahm er an Amateurrennen teil. Doch seine Besessenheit ging tiefer: Er konnte nicht Rad fahren, ohne über die damit verbundenen mathematischen Geheimnisse nachzudenken. Welche unsichtbaren Kräfte erlauben es dem Fahrer, beim Treten die Balance zu halten? Warum muss man zunächst nach rechts steuern, wenn man links abbiegen will? Und wie stabilisiert sich ein Fahrrad von selbst, wenn es ohne Fahrer rollt?
Als junger Ingenieur an der Cornell University in Ithaca im US-Bundesstaat New York setzte er sich intensiv mit diesen Fragen auseinander. Doch er versäumte es zumeist, seine Ideen zu veröffentlichen – und verließ schließlich die akademische Forschung. Ende der 1990er Jahre arbeitete er für ein Unternehmen, das Maschinen für die Herstellung von Toilettenpapier baute. "Wenn niemand deine Arbeit beachtet, ist sie nutzlos", sagt Papadopoulos. Aber dann beachtete jemand seine Arbeiten. Ein Freund und Kollege aus der Zeit an der Cornell University, der Ingenieur Andy Ruina, rief Papadopoulos an. Ein Wissenschaftler aus den Niederlanden, Arend Schwab, hatte in Ruinas Labor die Arbeiten über die Stabilität von Fahrrädern wieder aufleben lassen. "Jim, du musst dich daran beteiligen", forderte Ruina ihn auf.
Gemeinsam machten sich die Forscher daran, das ein Jahrhundert alte Rätsel zu lösen, wie ein Fahrrad ohne Fahrer die Balance hält. Sie veröffentlichten ihre Lösung in den "Proceedings of the Royal Society". Die Arbeit soll zu einem neuen wissenschaftlichen Niveau in der globalen Fahrradindustrie führen, die bislang mehr auf Intuition und Erfahrung basiert als auf harter Mathematik. Ihre Ergebnisse, die auch in "Science" veröffentlicht wurden, führen vielleicht zu dringend erforderlichen Innovationen – beispielsweise bei der Entwicklung neuer Fahrräder und E-Bikes helfen, die stabiler und sicherer sind. Zudem könnten sich die Erkenntnisse über Fahrräder auch in anderen Bereichen wie der Robotik und der Prothetik als nützlich erweisen.
"Jeder weiß, wie man Rad fährt, aber niemand weiß, wie Radfahren funktioniert"
Mont Hubbard
"Jeder weiß, wie man Rad fährt, aber niemand weiß, wie Radfahren funktioniert", sagt Mont Hubbard, Ingenieur für Sportmechanik an der University of California in Davis. "Die Erforschung von Fahrrädern ist aus rein intellektuellen Gründen interessant. Aber sie hat auch praktische Konsequenzen, denn sie hilft den Menschen bei ihrer Mobilität." Für einen Mechaniker – jener veralteten Art von Ingenieur, dessen Arbeitsfeld von den newtonschen Bewegungsgesetzen beherrscht wird – sind die Rätsel des Radfahrens besonders faszinierend. "Wir stecken alle noch tief im 19. Jahrhundert, als es kaum Unterschiede zwischen Mathematik, Physik und Ingenieurwesen gab", konstatiert Ruina. Fahrräder seien "ein mathematisches Problem, das sich auf etwas Sichtbares bezieht".
Fahrräder entwickelten sich durch Versuch und Irrtum
Das erste Patent für das Veloziped – einem zweirädrigen Vorläufer des Fahrrads – wurde 1818 gewährt. Fahrräder entwickelten sich durch Versuch und Irrtum, und Anfang des 20. Jahrhunderts sahen sie bereits fast genau so aus wie heute. Nur sehr wenige Menschen dachten darüber nach, wie und warum Fahrräder überhaupt funktionieren. Der schottische Ingenieur William Rankine, der wichtige Beiträge zur Theorie der Dampfmaschine geliefert hatte, war der Erste, der 1869 das Phänomen des "Gegensteuerns" erwähnte: Ein Radfahrer kann nur nach links abbiegen, wenn er zunächst kurz den Lenker nach recht dreht, wodurch sich das Fahrrad leicht nach links neigt.
Die Verbindung zwischen Neigung und Steuerung führt zu dem noch größeren Rätsel, wie ein Fahrrad ohne Fahrer die Balance halten kann. Gibt man einem fahrerlosen Fahrrad einen Stoß, so wackelt und kippt es zwar hin und her, doch es erholt sich davon und setzt seine Fahrt vorwärts fort. Der englische Mathematiker Francis Whipple entwickelte 1899 eines der ersten und langlebigsten mathematischen Modelle des Fahrrads. Damit ließ sich die Selbststabilisierung untersuchen. Whipple modellierte ein Fahrrad mit vier starren Objekten: zwei Rädern, einem Rahmen inklusive Fahrer sowie der Gabel mit dem Lenker, verbunden durch zwei Achsen und ein Drehgelenk. Auf diese Teile wirkt nur die Schwerkraft.
Das Modell liefert – ausgestattet mit tatsächlichen Maßen – den Bewegungsablauf für ein Fahrrad. Ein Ingenieur kann nun ein Eigenwertanalyse genanntes Verfahren anwenden, um die Stabilität des Fahrrads zu untersuchen. Mit Hilfe einer solchen Analyse widmeten sich 1910 die Mathematiker Felix Klein und Fritz Noether sowie der Physiker Arnold Sommerfeld dem Einfluss des gyroskopischen Effekts – also dem Widerstand eines sich drehenden Rads gegen eine Neigung – auf das Fahrrad. Drückt man ein Fahrrad nach links, so dreht sich das Vorderrad nach links und hilft so, das Fahrrad wiederaufzurichten.
Im April 1970 entzog der Chemiker und Wissenschaftsautor David Jones dieser Theorie in einem Artikel in "Physics Today" jedoch den Boden. Darin beschrieb er, wie er mit einer Reihe von theoretisch nicht fahrbaren Fahrrädern gefahren war. Eines dieser von Jones gebauten Fahrräder besaß zusätzlich ein gegenläufig rotierendes Rad am vorderen Ende, das den gyroskopischen Effekt kompensierte. Trotzdem konnte Jones mit diesem Rad problemlos freihändig fahren.
Dieses Ergebnis ließ Jones nach anderen Ursachen für die Stabilität suchen. Er verglich das Vorderrad eines Fahrrads mit den Laufrollen eines Einkaufswagens, die umschwenken, um der Bewegung des Wagens zu folgen: Es kann wie eine Laufrolle agieren, weil es den Boden typischerweise an einem Punkt berührt, der fünf bis zehn Zentimeter hinter der Achse des Lenkers liegt. Dieser Abstand wird als "Nachlauf" bezeichnet. Ein Fahrrad mit einem zu großen Nachlauf ist so stabil, dass es sich merkwürdig anfühlt, es zu fahren, so Jones. Mit einem negativen Nachlauf dagegen hat der Fahrer keine Chance – lässt er den Lenker los, kommt es unweigerlich zum Sturz.
Fängt ein Fahrrad an zu kippen, so folgerte Jones, steuert der Laufrolleneffekt das vordere Ende unter das fallende Gewicht zurück und hält so das Rad aufrecht. Für Jones war der Laufrollennachlauf die einzig nötige Erklärung für die Eigenstabilität eines Fahrrads. In seinen 40 Jahre später veröffentlichten Memoiren zählt er diese Beobachtung zu seinen größten Erfolgen: "Ich bin jetzt der Vater der modernen Fahrradtheorie."
Wieso fahren theoretisch nicht fahrbare Fahrräder?
Jones' Artikel von 1970 beeindruckte Jim Papadopoulos, damals ein Teenager in Corvallis im US-Bundesstaat Oregon. Sein Vater Michael, ein angewandter Mathematiker aus England, fand 1967 einen Job an der Oregon State University. Nachdem er gegen den Vietnamkrieg protestiert hatte, wurde ihm jedoch eine Festanstellung verweigert. Es kam zu einem jahrelangen Rechtsstreit mit der Universität, Michael Papadopoulos war arbeitslos, und seine Familie suchte in Mülltonnen nach Altmetallen. Anfang 1970 beging Jims Mutter Selbstmord. "Während ich gerade erst meine Augen öffnete und darüber nachdachte, wer ich bin", erinnert sich Papadopoulos, "fiel meine Familie auseinander."
Fahrräder trösteten ihn. Er fuhr mit seinem Peugeot AO8 durch die Stadt und ließ seine Haare schulterlang wachsen. Er schwänzte die Schule, seine Zensuren verschlechterten sich. Mit 17 verließ er die Schule und sein Zuhause. Doch kurz vorher gab ihm ein Lehrer den Artikel von Jones. Papadopoulos fand den Artikel fesselnd – aber auch verwirrend. "Ich muss all dieses Zeug lernen", dachte er. Er trieb sich im Sommer in Berkeley in Kalifornien herum und las ein Lehrbuch über mathematische Methoden für Physiker, wann immer er Zeit erübrigen konnte. Dann arbeitete er in einer Sperrholzfabrik in Eugene in Oregon und verdiente so genug Geld, um sich das legendäre Schwinn Paramount zu kaufen, mit dem er jedes Wochenende durch die Gegend raste. 1973 arbeitete er für den Rahmenbauer Harry Quinn in Liverpool in England – aber er war so schlecht, dass Quinn ihn bat, wieder zu gehen.
Papadopoulos kehrte 1975 nach Oregon zurück. Nach einem Jahr an der Oregon State University begann er ein Maschinenbaustudium am Massachusetts Institute of Technology. Und darin war er gut. Die Ölgesellschaft Exxon förderte seine Doktorarbeit im Bereich Bruchmechanik. Sein Betreuer Michael Cleary war optimistisch: "Ich glaube, Jim wird Professor – und wir hoffen, er bleibt am MIT", sagte er einem Reporter der Hauszeitschrift von Exxon. Doch Papadopoulos hatte andere Vorstellungen. Er hatte sich mit Whipples Modell und Jones Artikel auseinandergesetzt. Ein Praktikum brachte ihn zum US Geological Survey in Menlo Park in Kalifornien. Und dort traf er Andy Ruina. Die beiden wurden schnell Freunde. Als Ruina einen Job an der Cornell University bekam, stellte er Papadopulos als Postdoc bei sich ein. "Wir redeten die ganze Zeit über Fahrräder. Aber mir war zunächst nicht klar, dass er daraus etwas Ernsthaftes machen wollte", berichtet Ruina.
Schließlich überzeugte Papadopoulos Ruina, dass Fahrradhersteller – genau wie Ölgesellschaften – daran interessiert sein könnten, akademische Forschung zu fördern. Er begann damit, bei Fahrradherstellern vorzusprechen. Für 5000 Dollar konnten sie Förderer des "Cornell Bicycle Research Projects" werden – eines ambitionierten Vorhabens, das von der Festigkeit der Räder bis zum Versagen der Bremsen bei Regen alles untersuchen sollte, was mit Fahrrädern zu tun hat.
Papadopoulos' erstes Ziel war es zu verstehen, was Fahrräder unterschiedlich stabil macht. Er zog sich in sein Büro zurück und überprüfte 30 veröffentlichte Versuche, die Bewegungsgleichung eines Fahrrads zu formulieren. Er war entsetzt darüber, wie schlecht diese Forschungsarbeiten waren, sagt er. Die Gleichungen waren nur der erste Schritt, um die Geometrie des Fahrradrahmens mit seiner Anwendung zu verknüpfen. Doch jedes neue Modell nahm wenig oder keinerlei Bezug auf frühere Arbeiten. Viele Modelle waren voller Fehler und schwierig miteinander zu vergleichen. Papadopoulos musste ganz von vorn anfangen. Nach einem Jahr Arbeit war er überzeugt, einen definitiven Satz von Gleichungen für die Behandlung des Problems formuliert zu haben. Nun sollten die Gleichungen ihm Antworten liefern. "Ich starrte stundenlang auf die Gleichungen und versuchte herauszufinden, was aus ihnen folgt", erinnert sich der Forscher.
Berechnungen widersprechen der Intuition
Zunächst formulierte er die Gleichungen in Abhängigkeit vom Nachlauf um, denn das sollte laut Jones die entscheidende Variable sein. Papadopoulos erwartete, dass ein negativer Nachlauf zu einem instabilen Fahrrad führt – seine Berechnungen lieferten allerdings ein anderes Ergebnis. In einem Artikel, den er damals vorbereitete, skizzierte er ein bizarres Fahrrad mit einem vor dem Lenker angebrachten Gewicht. "Ein ausreichend weit vorn liegendes Massenzentrum kann einen leicht negativen Nachlauf ausgleichen", schrieb er dazu. Offenbar reichte also eine einzelne Variable wie der Nachlauf nicht aus, um über die Stabilität zu entscheiden. Diese Entdeckung bedeutete, dass es keine einfache Faustregel gab, um zu entscheiden, ob ein Fahrrad leicht oder schwer zu fahren ist. Der Nachlauf mag nützlich sein, ebenso der gyroskopische Effekt. Aber die Lage des Massenzentrums ist ebenfalls von Bedeutung. Für Papadopoulos war das aufschlussreich. Die ersten Rahmenbauer waren rein zufällig auf ein Design gekommen, das gut funktionierte – und seither wurde dieses Design im Fahrradkosmos verwendet. Doch es gab eine Vielzahl nie ausprobierter Geometrien, die das Design von Fahrrädern völlig verändern könnten.
"Es macht mir mehr Spaß, Neues zu entdecken und die Details auszuarbeiten. Diese Dinge dann aufzuschreiben, ist langweilig"
Jim Papadopoulos
Nach zwei Jahren konnte Ruina Papadopoulos nicht länger unterstützen. Fördermittel hatten sie lediglich vom Fahrradproduzenten Murray erhalten sowie von Dahon and Moulton, einem Hersteller von Fahrrädern mit kleinen Rädern, die auf Grund ihres unkonventionellen Designs schwer zu fahren waren. Ruina witzelte, man könne das Vorhaben in "Forschungsprojekt für zusammenklappbare Fahrräder" umtaufen. Es war Galgenhumor.
Obwohl Papadopoulos Fortschritte bei der mathematischen Beschreibung des Radfahrens machte, veröffentlichte er lediglich eine Arbeit zu diesem Thema als Erstautor. "Es macht mir mehr Spaß, Neues zu entdecken und die Details auszuarbeiten", betont er. "Diese Dinge dann aufzuschreiben, ist langweilig." Ohne Geld und Veröffentlichungen neigte sich seine Zeit in der Fahrradforschung dann dem Ende zu. 1989 packte er seine Fahrräder in einen Umzugswagen und fuhr nach Illinois, wo seine damalige Frau einen Job hatte. Er durchlitt eine ganze Reihe von Lehrerstellen und Jobs in der Industrie. In seiner Freizeit gründete und moderierte er die E-Mail-Liste "Hardcore Bicycle Science" für verrückte Fahrradforscher. Und er baute für eine Fernsehshow ein Auto, das sich in ein paar Koffern verstauen ließ.
David Wilson, Forscher am MIT und Erfinder eines der ersten modernen Liegefahrräder, lud Papadopoulos 2001 ein, Mitherausgeber der dritten Auflage des Buchs "Bicycling Science" zu sein. Papadopoulos wurde zu der Zeit von Schulden und Verpflichtungen schier erdrückt. Er schaffte es nicht, Wilson das erste Kapitel zu senden, und brach den E-Mail-Kontakt zu ihm ab. Wilson fühlte sich betrogen. "Er ist ein ziemlich brillanter Kerl", sagt er, "aber er hatte stets Probleme damit, etwas zu Ende zu bringen." Papadopoulos erzählt, er habe die Arbeit damals zwar fertig gestellt, dazu aber zwei Jahre länger gebraucht als geplant, nicht zuletzt wegen einer aufreibenden Scheidung.
Elegante Stabilität vom Rad auf Roboter übertragen
Unterdessen machte Ruina an der Cornell University weiter. Er begann damit, die Erkenntnisse über Fahrräder in einem anderen Gebiet anzuwenden: der Robotik. Wenn Fahrräder ohne jedes Kontrollsystem eine derart elegante Stabilität zeigen, so überlegte er sich, dann sollte es möglich sein, eine einfache, gehende Maschine zu bauen, die ebenfalls diese Eigenschaft besitzt. Zusammen mit Martijn Wisse von der Technischen Universität Delft in den Niederlanden, einem Studenten von Schwab, entwickelte er 1998 eine zweibeinige Maschine, die ohne Motor eine leichte Steigung hinabgehen konnte. Die Maschine speicherte dabei ihre Energie in den schwingenden Armen. Die Forscher fügten ein paar elektronische Motoren hinzu und erhielten einen energieeffizienten Roboter, der auf ebenem Untergrund laufen konnte.
2002 entschied sich Schwab, ein Forschungsjahr bei Ruina zu verbringen, und die beiden begannen, über die alten Fahrradarbeiten zu reden. Das war der Moment, in dem Ruina Papadopoulos anrief und ihm einen Besuch an der Cornell University finanzierte. "Es war das erste Mal, dass ich dieses Genie traf", erinnert sich Schwab. Mit mehr Fahrrädern auf der Straße als je zuvor fand Schwab es geradezu unvorstellbar, dass bislang niemand die korrekten Bewegungsgleichungen für das Radfahren publiziert oder gar auf das Design von Fahrrädern angewendet hatte. Innerhalb eines Jahres entwickelte er zusammen mit dem Ingenieur Jaap Meijaard, der jetzt an der Universität Twente in den Niederlanden tätig ist, seine eigenen Gleichungen – und fand sie in völliger Übereinstimmung mit Papadopoulos' Arbeiten. Schwab und Meijaard präsentierten ihre Ergebnisse auf einer Konferenz für Ingenieurwissenschaften in Südkorea und veröffentlichten sie schließlich gemeinsam mit Ruina und Papadopoulos (PDF).
Die Herausforderung war nun, zu beweisen, dass es sich um mehr als ein mathematisches Ergebnis handelte. Schwab und einer seiner Studenten brachten ein Jahr damit zu, ein selbststabilisierendes Fahrrad mit einem kleinen negativen Nachlauf zu bauen. Es sah aus wie eine Kreuzung aus einem Tretroller und einer Wippe, versehen mit einem Gewicht vor dem Lenker und einem sich entgegensetzt drehenden Zusatzrad zum Ausgleich des gyroskopischen Effekts. Ein Video zeigt es ohne Fahrer rollend, sich leicht nach rechts neigend, dann aber selbstständig wieder aufrichtend. Das Experiment zeigte, dass Papadopoulos Recht hatte: Ein komplexes Wechselspiel zwischen mehreren Faktoren entscheidet über die Stabilität eines Fahrrads.
Doch nachdem er drei Jahrzehnte darauf gewartet hat, dass seine Entdeckungen ein größeres Publikum erreichen, fühlt sich Papadopoulos ernüchtert. "Es hat entgegen unseren Vorstellungen nichts geändert", sagt er. Die Rahmen der Fahrräder sehen noch genauso aus wie vor einem Jahr. "Alle sind noch im alten Denken verhaftet." Doch die Arbeiten der Gruppe zogen andere Forscher an und entwickelten genug Schwung, um 2010 eine jährliche Fachtagung über die Dynamik von Fahrrädern und Motorrädern ins Leben zu rufen. Die Veranstaltung führt Bastler aus aller Welt zusammen, von denen einige ebenfalls bizarre Fahrräder bauen, um damit die Grundlagen des Fahrraddesigns zu testen.
Einer der Organisatoren der diesjährigen Tagung, der Ingenieur Jason Moore von der University of California in Davis, hat versucht den Zusammenhang zwischen der Geometrie des Fahrradrahmens und einem objektiven Maß für die Fahrtüchtigkeit eines Fahrrads zu untersuchen. Inspiriert von militärischen Forschungen mit Flugzeugpiloten entwickelte Moore ein Modell der menschlichen Kontrolle des Fahrrads, indem er – ausstaffiert mit zahlreichen Sensoren, die seine Lenkbewegungen, Neigung und Geschwindigkeit maßen – eine Vielzahl von Fahrmanövern mit einem Fahrrad durchführte. Um sich selbst zu zwingen, die Balance mit Steuerbewegungen zu halten und nicht mit einer Verlagerung des Körpergewichts, trug er dabei eine Art Rüstung, die ihn an das Fahrrad fixierte. Die Versuche bestätigten die lange gehegte Vermutung, dass sich stabilere Räder einfacher fahren lassen. Das Verfahren bietet Rahmenherstellen zudem ein Werkzeug, um ihre Designs zu verbessern.
Fahrradroboter für waghalsige Experimente
Die Versuche förderten aber auch ein Rätsel zu Tage: Die für die Lenkbewegungen nötige Kraft war zwei- bis dreimal größer als vom Whipple-Modell vorhergesagt. Mögliche Ursachen könnten die Reibung und die Verformung der Reifen sein, die im Modell nicht berücksichtigt sind – doch niemand ist sich da ganz sicher. Für weitere Versuche haben Moore und seine Kollegen ein robotisches Fahrrad gebaut, das sich selbst ausbalancieren kann. "Mit einem Roboterfahrrad sind eine Menge verrückter Experimente möglich, die einen Menschen in Gefahr bringen würden", sagt er. Bei einem seiner früheren Experimente musste Moore beispielsweise die Balance zurückgewinnen, nachdem er seitlich mit einem Holzstock geschlagen wurde. Im Gegensatz zu vielen anderen fahrerlosen Roboterfahrrädern nutzt Moores Modell keine Gyroskope zur Lagekontrolle, sondern hängt ausschließlich von Steuerbewegungen ab. Moore hat den Fahrradroboter jetzt Schwab für weitere Experimente zugeschickt.
"Mit einem Roboterfahrrad sind eine Menge verrückter Experimente möglich, die einen Menschen in Gefahr bringen würden"
Jason Moore
Schwab hat heute das Labor, vom dem Papadopoulos immer geträumt hat – und Papadopoulos ist dankbar dafür, dass er an den Arbeiten beteiligt ist. "Es ist die schönste Sache, die man sich vorstellen kann", schwärmt er. Zu Schwabs Projekten zählen auch ein Fahrrad mit elektrischer Lenkung, das ihm eine Trennung von Lenkbewegungen und Balancierbewegungen erlaubt, sowie ein Fahrrad mit Lenkassistent, das sich bei geringen Geschwindigkeiten selbst stabilisiert. Er hat außerdem ein Liegerad mit Hinterradlenkung entwickelt, das Selbststabilität zeigt – zum Teil auf Grund eines vergrößerten Vorderrads, das den gyroskopischen Effekt verstärkt. Der Hauptvorteil eines Liegerads mit Hinterradlenkung ist eine kürzere Kette gegenüber konventionellen Liegerädern, die einen besseren Energieübertrag erlaubt. "Man hat schon früher versucht, so etwas zu bauen", sagt Schwab, "aber die Räder ließen sich nicht fahren."
Papadopoulos ist nun Dozent an der Northeastern University in Boston und versucht sich wieder an das akademische Leben zu gewöhnen. Er arbeitet mit anderen zusammen und befasst sich mit seit Langem entwickelten Ideen zu der Frage, warum manche Fahrräder bei hohen Geschwindigkeiten anfangen zu eiern. Papadopoulos glaubt, dass er dieses Taumeln mit einem Dämpfer in der Sattelstütze eliminieren kann, der die Schwingungen ausgleicht. Mit seinen neuen Kollegen und Studenten geht er aber auch neue Fragen an, sogar solche, die nichts mit Fahrrädern zu tun haben. In seinem Keller öffnet Papadopoulos eine Schublade in einem Aktenschrank und blättert in zerknitterten Mappen, beschriftet mit "Reifendruck", "Biomechanik" und "Cornell". Er zieht ein Lehrbuch heraus. "Trainingsphysiologie? Ich habe mich nie wirklich damit beschäftigt", sagt er, während er es zur Seite legt. Ganz hinten in der Schublade stößt er auf einen dicken Ordner mit Ideen zur Fahrradforschung, beschriftet mit "unvollendet". Papadopoulos überlegt eine Sekunde und korrigiert dann: "Überwiegend unvollendet".
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