Bundestagswahl 2009: "Die Politik verlässt sich zu sehr auf die Pharma-Hersteller"
Peter Sawicki, 1957 in Warschau geboren, ist Facharzt für Innere Medizin und Leiter des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen in Köln. spektrumdirekt sprach mit ihm anlässlich der Bundestagswahl 2009 über Gesundheitspolitik und den Kommerz in der Medizin.
spektrumdirekt: Wie bewerten Sie die aktuelle Gesundheitspolitik der Großen Koalition?
spektrumdirekt: Und welche Nachteile gibt es?
Sawicki: Die Politik kümmert sich zu wenig um die Definition des Notwendigen. Auch mit einer anderen Finanzierung könnten die Bedürfnisse von Ärzten, Patienten und Herstellern so hoch werden, dass die Gesundheitsausgaben, gäbe man allen Wünschen nach, das gesamte Bruttosozialprodukt übersteigen. Also geht es darum, zu beschreiben, was wirklich medizinisch notwendig ist. Nur das und nicht mehr dürfte bezahlt werden. Dafür braucht man aber valide wissenschaftliche Untersuchungen. Diese versorgungsrelevante Forschung jedoch ist unterbeleuchtet und wird kaum finanziert.
spektrumdirekt: Was sollte hier genau untersucht werden?
Sawicki: Zunächst stellt sich die Frage: Ist ein neues Verfahren in der praktischen Anwendung überhaupt besser als das, was wir bisher hatten?
spektrumdirekt: Was nicht wirklich verwunderlich ist ...
Sawicki: Ja, wenn man verkaufen will, schon. Uns muss es aber um eine Verbesserung der Versorgung gehen. Ausschlaggebend muss immer sein, ob ein neues Präparat besser ist als ein altes – ansonsten sollte es aus der Kassenleistung ausgeschlossen werden.
spektrumdirekt: Und warum geschieht dies nicht?
Sawicki: Das Problem ist, dass sich die Politik zu sehr auf die Pharma-Hersteller verlässt. Es gibt eine riesige Lobby, welche die Medizingeräte und die Medikamente vertritt und die Politik beeinflusst. Die aber machen die Studien zum Teil nicht, zum Teil unzuverlässig. Negative Erkenntnisse werden oft gar nicht publiziert. Hinzu kommt, dass es kaum vergleichende Studien für andere Behandlungsmethoden gibt, Krankengymnastik etwa. Dabei ist gar nicht gesagt, dass beispielsweise Psychopharmaka bei Depressionen besser helfen als etwa Massagen.
spektrumdirekt: Sie fordern, nur zu zahlen, was notwendig ist. Stellt sich dann nicht zwangsläufig die polemische Frage, ob ein 80-Jähriger noch eine neue Hüfte braucht?
Sawicki: Nein, wenn man gehen kann und auf Grund einer Gelenkerkrankung dabei Schmerzen hat, ist die Notwendigkeit altersunabhängig. Wenn beispielsweise ein 60-Jähriger mit Hüftgelenkarthrose nach einem Schlaganfall bettlägerig ist, dann ist ein neues Hüftgelenk nicht notwendig. Wenn aber jemand mit 90 Jahren noch spazieren geht, dann braucht er auch mit 90 eine neue Hüfte. Meine Forderung ist übrigens keineswegs neu. Im Gesetz steht bereits, dass die Maßnahmen, die von der gesetzlichen Krankenversicherung übernommen werden, "das Maß des Notwendigen nicht überschreiten dürfen". Aber wir richten uns nicht danach, etwa bei neuen Medikamenten.
spektrumdirekt: Selbst wenn wir uns auf das Notwendige beschränkten: Die Menschen werden immer älter. Dadurch steigt doch auch die Zahl der notwendigen Behandlungen.
Sawicki: Dass die Ausgaben steigen, wenn wir älter werden – was wir ja alle wollen –, ist richtig. Allerdings muss man sich die Kosten auch einmal genau anschauen: Die Hälfte dessen, was wir für die Gesundheit ausgeben, verbrauchen wir in unserem letzten Lebensjahr.
spektrumdirekt: Der demografische Wandel stellt uns also gar nicht vor Probleme?
Sawicki: Doch, natürlich. Die Menschen leben länger, und dadurch verbrauchen sie auch mehr an Gesundheitsleistungen. Wenn nun für kleine Gruppen von Menschen sehr teure Therapien entwickelt werden, etwa für bestimmte Formen der multiplen Sklerose, darf es nicht dazu kommen, dass wir sagen müssen: Das ist zu teuer für die gesetzliche Krankenversicherung. Die Politiker müssten darum der Öffentlichkeit deutlich erklären, dass wir uns auf das objektiv Notwendige beschränken müssen und dass nicht jeder alles Mögliche, was er sich nur wünscht, bekommen kann.
spektrumdirekt: Welche Herausforderungen im Gesundheitswesen müssen von einer neuen Regierung angegangen werden?
Sawicki: Der Kommerz muss aus der Medizin heraus.
spektrumdirekt: Welche Folgen könnten diese kommerziellen Anreize haben?
Sawicki: Wir sehen gerade die Auswüchse: dass Ärzte Patienten an Kliniken verkaufen für Fangprämien, dass Ärzte Geld dafür kassieren, wenn sie bestimmte Medikamente verschreiben. Die Ärzte müssen aufpassen, dass sie nicht zu Krämern werden. Man muss dem Arzt vertrauen können. Und das gelingt nicht, wenn man denkt: Macht der das jetzt, weil er dadurch mehr Geld verdient oder weil diese Untersuchung wirklich nötig ist?
spektrumdirekt: Die Bedürfnisse der Patienten sollen wieder stärker in den Vordergrund rücken?
Peter Sawicki: Ja. Und zwar auch, was die Ehrlichkeit betrifft.
spektrumdirekt: Warum fehlt diese Ehrlichkeit?
Sawicki: Ärzte und Politiker wollen Gutes tun und Hoffnung vermitteln. Dafür übertreiben sie gerne. Wenn man sagt, wir tun jetzt etwas zur Prävention von Brustkrebs, dann kann man nicht sagen, davon profitiert aber nur eine von 1000. Das ist viel zu wenig und vermittelt keine Hoffnung. In dieser paternalistisch-euphemistischen Suppe, in der wir schwimmen, können sich die Patienten aber nicht zurechtfinden. Man müsste ihnen reinen Wein einschenken. Ich denke, dass die Wahrheit zumutbar ist, dass Patienten selbst entscheiden können. Man muss die Menschen endlich ernst nehmen. Das tun momentan weder die Ärzte noch die Politiker.
Peter Sawicki: Positiv ist: Die Große Koalition kümmert sich um den Erhalt der Solidargemeinschaft, die ja eine wesentliche Voraussetzung dafür ist, dass alle Menschen unabhängig von ihrem sozialen Status und ihrem Einkommen Zugang zu notwendigen medizinischen Leistungen erhalten. Die Aufnahme von Steuern in den Gesundheitsfond, um neue Finanzierungsfelder zu erschließen, halte ich für einen richtigen Schritt.
spektrumdirekt: Und welche Nachteile gibt es?
Sawicki: Die Politik kümmert sich zu wenig um die Definition des Notwendigen. Auch mit einer anderen Finanzierung könnten die Bedürfnisse von Ärzten, Patienten und Herstellern so hoch werden, dass die Gesundheitsausgaben, gäbe man allen Wünschen nach, das gesamte Bruttosozialprodukt übersteigen. Also geht es darum, zu beschreiben, was wirklich medizinisch notwendig ist. Nur das und nicht mehr dürfte bezahlt werden. Dafür braucht man aber valide wissenschaftliche Untersuchungen. Diese versorgungsrelevante Forschung jedoch ist unterbeleuchtet und wird kaum finanziert.
spektrumdirekt: Was sollte hier genau untersucht werden?
Sawicki: Zunächst stellt sich die Frage: Ist ein neues Verfahren in der praktischen Anwendung überhaupt besser als das, was wir bisher hatten?
"Die Politik kümmert sich zu wenig um die Definition des Notwendigen"
Daraus ergibt sich die Nachfolgefrage: Wie setzen wir die vorhandenen diagnostischen und therapeutischen Verfahren so ein, dass sie den größten Nutzen stiften? Die entsprechenden Studien hierzu müssen aber erst einmal angefertigt werden. Die Hersteller sind hier sehr zurückhaltend. spektrumdirekt: Was nicht wirklich verwunderlich ist ...
Sawicki: Ja, wenn man verkaufen will, schon. Uns muss es aber um eine Verbesserung der Versorgung gehen. Ausschlaggebend muss immer sein, ob ein neues Präparat besser ist als ein altes – ansonsten sollte es aus der Kassenleistung ausgeschlossen werden.
spektrumdirekt: Und warum geschieht dies nicht?
Sawicki: Das Problem ist, dass sich die Politik zu sehr auf die Pharma-Hersteller verlässt. Es gibt eine riesige Lobby, welche die Medizingeräte und die Medikamente vertritt und die Politik beeinflusst. Die aber machen die Studien zum Teil nicht, zum Teil unzuverlässig. Negative Erkenntnisse werden oft gar nicht publiziert. Hinzu kommt, dass es kaum vergleichende Studien für andere Behandlungsmethoden gibt, Krankengymnastik etwa. Dabei ist gar nicht gesagt, dass beispielsweise Psychopharmaka bei Depressionen besser helfen als etwa Massagen.
spektrumdirekt: Sie fordern, nur zu zahlen, was notwendig ist. Stellt sich dann nicht zwangsläufig die polemische Frage, ob ein 80-Jähriger noch eine neue Hüfte braucht?
Sawicki: Nein, wenn man gehen kann und auf Grund einer Gelenkerkrankung dabei Schmerzen hat, ist die Notwendigkeit altersunabhängig. Wenn beispielsweise ein 60-Jähriger mit Hüftgelenkarthrose nach einem Schlaganfall bettlägerig ist, dann ist ein neues Hüftgelenk nicht notwendig. Wenn aber jemand mit 90 Jahren noch spazieren geht, dann braucht er auch mit 90 eine neue Hüfte. Meine Forderung ist übrigens keineswegs neu. Im Gesetz steht bereits, dass die Maßnahmen, die von der gesetzlichen Krankenversicherung übernommen werden, "das Maß des Notwendigen nicht überschreiten dürfen". Aber wir richten uns nicht danach, etwa bei neuen Medikamenten.
spektrumdirekt: Selbst wenn wir uns auf das Notwendige beschränkten: Die Menschen werden immer älter. Dadurch steigt doch auch die Zahl der notwendigen Behandlungen.
Sawicki: Dass die Ausgaben steigen, wenn wir älter werden – was wir ja alle wollen –, ist richtig. Allerdings muss man sich die Kosten auch einmal genau anschauen: Die Hälfte dessen, was wir für die Gesundheit ausgeben, verbrauchen wir in unserem letzten Lebensjahr.
"Der Kommerz muss aus der Medizin heraus"
Gleichzeitig kostet dieses letzte Jahr aber umso weniger, je älter die Menschen werden. Einfach deswegen, weil 80-Jährige zum Beispiel keine Herzen mehr transplantiert bekommen. Nicht etwa deshalb, weil es sich nicht lohnen würde, sondern weil sie solche intensiven Operationen nicht überleben. Das heißt, 50 Prozent der Gesundheitskosten sinken mit steigender Lebenserwartung. spektrumdirekt: Der demografische Wandel stellt uns also gar nicht vor Probleme?
Sawicki: Doch, natürlich. Die Menschen leben länger, und dadurch verbrauchen sie auch mehr an Gesundheitsleistungen. Wenn nun für kleine Gruppen von Menschen sehr teure Therapien entwickelt werden, etwa für bestimmte Formen der multiplen Sklerose, darf es nicht dazu kommen, dass wir sagen müssen: Das ist zu teuer für die gesetzliche Krankenversicherung. Die Politiker müssten darum der Öffentlichkeit deutlich erklären, dass wir uns auf das objektiv Notwendige beschränken müssen und dass nicht jeder alles Mögliche, was er sich nur wünscht, bekommen kann.
spektrumdirekt: Welche Herausforderungen im Gesundheitswesen müssen von einer neuen Regierung angegangen werden?
Sawicki: Der Kommerz muss aus der Medizin heraus.
"Die Ärzte müssen aufpassen, dass sie nicht zu Krämern werden
Die Ärzte dürfen nicht überlegen: Wie viel verdiene ich, wenn ich bei einem Patienten eine Herzkatheter-Untersuchung mache, und wie viel, wenn ich mit ihm über eine Änderung seiner Lebensweise spreche? Die finanziellen Anreize in den Praxen und den Krankenhäusern haben groteske Formen angenommen. Es ist vor allem die technisch-chemische Leistung, die bezahlt wird. Das ist nicht richtig. Ärzte sollten sich um die Patienten kümmern, und ihr Verdienst darf nicht davon abhängen, ob und welche Maßnahmen sie ergreifen. spektrumdirekt: Welche Folgen könnten diese kommerziellen Anreize haben?
Sawicki: Wir sehen gerade die Auswüchse: dass Ärzte Patienten an Kliniken verkaufen für Fangprämien, dass Ärzte Geld dafür kassieren, wenn sie bestimmte Medikamente verschreiben. Die Ärzte müssen aufpassen, dass sie nicht zu Krämern werden. Man muss dem Arzt vertrauen können. Und das gelingt nicht, wenn man denkt: Macht der das jetzt, weil er dadurch mehr Geld verdient oder weil diese Untersuchung wirklich nötig ist?
spektrumdirekt: Die Bedürfnisse der Patienten sollen wieder stärker in den Vordergrund rücken?
Peter Sawicki: Ja. Und zwar auch, was die Ehrlichkeit betrifft.
"Die Menschen müssten informiert werden über den tatsächlichen Nutzen und Schaden medizinischer Behandlungen"
Die Bevölkerung hat eine unrealistisch positive Einschätzung vom Nutzen medizinischer Behandlungen. Die Menschen müssten informiert werden über den tatsächlichen Nutzen und Schaden der Interventionen. Wenn man Frauen sagen würde, wie viele von zehn Jahren Mammografie-Screening profitieren – das sind eine bis maximal zwei von 1000 Patientinnen –, dann würden viele das nicht machen. Ich vermisse die Ehrlichkeit bei der Information der Patienten. spektrumdirekt: Warum fehlt diese Ehrlichkeit?
Sawicki: Ärzte und Politiker wollen Gutes tun und Hoffnung vermitteln. Dafür übertreiben sie gerne. Wenn man sagt, wir tun jetzt etwas zur Prävention von Brustkrebs, dann kann man nicht sagen, davon profitiert aber nur eine von 1000. Das ist viel zu wenig und vermittelt keine Hoffnung. In dieser paternalistisch-euphemistischen Suppe, in der wir schwimmen, können sich die Patienten aber nicht zurechtfinden. Man müsste ihnen reinen Wein einschenken. Ich denke, dass die Wahrheit zumutbar ist, dass Patienten selbst entscheiden können. Man muss die Menschen endlich ernst nehmen. Das tun momentan weder die Ärzte noch die Politiker.
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