Naturschutz: Die Rückkehr der Riesen
Sie wirken wie Besucher aus einer anderen Zeit. Urwüchsige Gestalten mit gebogenen Hörnern und zottigem, braunem Fell, ein paar Nummern zu groß im Vergleich zur restlichen europäischen Tierwelt. Und der Eindruck täuscht nicht. Tatsächlich sind Wisente die größten Landsäugetiere, die es in Europa heute noch gibt. Die Bullen dieser Wildrinder können durchaus mehr als 900 Kilogramm auf die Waage bringen. Man könnte sie sich gut in einer Eiszeitszenerie vorstellen, zusammen mit Mammuts, Wollnashörnern und Steinzeitjägern. Aber als Nachbarn im nächsten Wald? Noch dazu im dicht besiedelten Nordrhein-Westfalen? Das scheint eine eher ungewöhnliche Idee zu sein.
Doch genau die soll in den nächsten Wochen Realität werden. Voraussichtlich zwischen Ende Februar und Mitte März will der Trägerverein "Wisent-Welt-Wittgenstein" eine Gruppe von acht Tieren im Rothaargebirge frei lassen. Zum ersten Mal seit Jahrhunderten können die großen Wildrinder dann wieder frei durch einen deutschen Wald streifen. "Dieses Vorhaben ist bisher in ganz Westeuropa einmalig", sagt Michael Emmrich, Pressesprecher des Wisent-Projekts. Gespannt warten Wissenschaftler und Naturschützer auf die Erfahrungen, die das Team dabei machen wird. Denn die könnten den bärtigen Huftieren auch die Rückkehr in andere Regionen Deutschlands und Europas erleichtern. Ähnliche Projekte sind zum Beispiel in Nordspanien und auf der dänischen Insel Bornholm geplant.
Rettung im letzten Moment
Lange hatte es nicht danach ausgesehen, als könne der Wisent je wieder eine solche Chance bekommen. Bison bonasus, der europäische Verwandte des Amerikanischen Bisons, war ursprünglich zwar durch große Teile Europas getrottet. Doch je mehr der Mensch die Wälder nutzte und abholzte, umso stärker schrumpften die Bestände. Die Jagd tat ein Übriges, und so waren die mächtigen Tiere aus dem heutigen Deutschland wohl spätestens im 16. Jahrhundert verschwunden. Der letzte frei lebende Wisent überhaupt soll 1927 einem Wilderer im Kaukasus vor die Flinte gelaufen sein. Damit war die Art in der Natur ausgerottet. Nur ein paar verstreute Exemplare lebten noch in Zoos und Gehegen.
Vor allem in Polen und Deutschland gab es allerdings schon damals etliche Wisent-Enthusiasten, die sich mit dem Verschwinden der charismatischen Rinder nicht abfinden wollten. Im August 1923 gründeten sie bei einer Konferenz in Berlin die "Internationale Gesellschaft zum Schutz des Wisents" und machten erst einmal eine Bestandsaufnahme – mit niederschmetterndem Ergebnis: Im Jahr 1924 gab es gerade einmal 54 reinrassige Wisente auf der Welt. Alle verfügbaren Informationen über die 29 Bullen und 25 Kühe wurden im ersten Zuchtbuch festgehalten, das Naturschützer jemals für eine Wildtierart angelegt haben. Im polnischen Nationalpark Białowieża wird es bis heute fortgeführt, damit Zuchtprojekte genetisch besonders günstige Kombinationen von Bullen und Kühen zusammenführen können.
Tatsächlich hatten die Bemühungen um neuen Wisentnachwuchs Erfolg. Die ersten gezüchteten Herden konnten Anfang der 1950er Jahre im Nordosten Polens frei gelassen werden, es folgten weitere Wiederansiedlungsprojekte in Polen, Litauen, Russland, Weißrussland und Kirgisien. Mittlerweile gibt es insgesamt wieder rund 4500 Wisente, von denen mehr als die Hälfte in etwa 30 frei lebenden Herden vor allem durch Osteuropa streifen.
Wisente in Deutschland
In Deutschland dagegen sind die bärtigen Rinder bisher nur in Zoos und eingezäunten Gehegen zu Hause. Letztere erreichen teilweise allerdings durchaus beachtliche Dimensionen. So hat die Heinz Sielmann Stiftung im Jahr 2004 rund 3500 Hektar Fläche in der Döberitzer Heide westlich von Berlin gekauft. Auf dem Gelände eines ehemaligen Truppenübungsplatzes entstanden ein Schaugehege und eine knapp 2000 Hektar große, eingezäunte "Wildnis-Kernzone". Mittlerweile leben in "Sielmanns Naturlandschaft Döberitzer Heide" neben Rothirschen und Przewalski-Wildpferden auch mehr als 40 Wisente.
Nun wollen Deutschlands Wisent-Schützer allerdings noch einen Schritt weitergehen. Im Rothaargebirge werden die Tiere künftig nicht in einem speziellen Reservat leben, sondern im forstwirtschaftlich genutzten Wittgensteiner Wald nördlich von Bad Berleburg. Ohne Zaun ringsum. Mehr als 4000 Hektar möglicher Lebensraum wird sich am Tag der Freilassung vor ihren Hufen erstrecken. Der größte Teil davon gehört Richard Prinz zu Sayn-Wittgenstein, der das vom Bundesamt für Naturschutz und vom nordrhein-westfälischen Umweltministerium geförderte Projekt angestoßen hat.
"Wir mussten natürlich im Vorfeld erst einmal untersuchen, ob dieses Gebiet überhaupt als künftiger Wisent-Lebensraum in Frage kommt", sagt Jörg Tillmann von der Tierärztlichen Hochschule Hannover. Der Landschaftsökologe koordiniert sämtliche Forschungsarbeiten rund um das Projekt, an denen Wissenschaftler von vier Universitäten und etliche freie Kollegen beteiligt sind. Als großen Pluspunkt für den Wittgensteiner Wald sehen die Forscher die wenigen Straßen, die ihn durchziehen. Die Gefahr, dass frei laufende Wisente in Verkehrsunfälle verwickelt werden, ist also ziemlich gering. Und auch sonst sprach aus Expertensicht nichts gegen die Wiederansiedlung der großen Pflanzenfresser. Das Projekt kam ins Rollen.
Schwierige Genetik
Am 24. März 2010 traf der Bulle Egnar als erster Wisent in Bad Berleburg ein, mehrere Artgenossinnen aus verschiedenen Gehegen folgten. Die Auswahl der Tiere ist mit den polnischen Betreuern des Zuchtbuchs abgestimmt. "Wir müssen schließlich unbedingt verhindern, dass die genetische Vielfalt dieser Art noch weiter abnimmt", betont Jörg Tillmann. Denn die ist ohnehin schon bedenklich gering. Genetiker haben festgestellt, dass sämtliche heute lebenden Tiere von insgesamt nur zwölf Vorfahren abstammen.
Paarungen zwischen Verwandten mit ähnlichem Erbgut aber gelten als Risiko. Denn oft kommt es in solchen Fällen zu einer so genannten Inzuchtdepression. Dann leidet der Nachwuchs besonders häufig an Erbkrankheiten und anderen genetisch bedingten Problemen.
Beim Wisent hat das einheitliche Erbgut bisher zwar keine wirklich auffälligen Folgen. Möglicherweise macht es die Tiere aber anfällig für Krankheiten wie die schwere Vorhautentzündung, die seit Beginn der 1980er Jahre Bullen vor allem in Białowieża plagt. Die betroffenen Männchen sterben zwar nicht daran, können die Familiengründung aber zu den Akten legen. "Es gibt bisher zwar keinen Beweis dafür, dass diese Infektionen wirklich mit genetischen Problemen zusammenhängen", sagt Jörg Tillmann. Doch um die Risiken möglichst gering zu halten, haben die Projektmitarbeiter ihre Herde aus Tieren mit möglichst günstigen Erbgutkombinationen zusammengestellt.
Mit Zähnen und Hufen
Bis zu ihrer Freilassung stehen die acht ausgewählten Kandidaten in einem knapp 90 Hektar großen Eingewöhnungsgehege, das auch ein Teil ihres künftigen Reichs sein wird. Auf dieser Fläche haben die Wissenschaftler bereits untersucht, was von den künftigen Nachbarn auf vier Hufen zu erwarten ist. Werden sie die Ökologie ihres Lebensraums verändern? Können sie Schäden anrichten? Und wie verhalten sie sich gegenüber Menschen? "Bevor das nordrhein-westfälische Umweltministerium im Dezember die Freilassung genehmigt hat, mussten wir etwa 70 Seiten Fragen nach möglichen Folgen beantworten", erinnert sich Pressesprecher Michael Emmrich.
So können große Pflanzenfresser zum Beispiel durchaus einen großen Einfluss auf die Vegetation haben. Manche Ökologen vermuten sogar, dass Mitteleuropa wegen der vierbeinigen Vegetarier ursprünglich kein reines Waldland war. Lange bevor Menschen die Axt ansetzten, hätten Wisente, Auerochsen, Wildpferde und Hirsche schon vor Jahrtausenden Lücken in den Wald gefressen und so ein Mosaik von bewaldeten und offeneren Flächen geschaffen.
Eine andere Fraktion von Wissenschaftlern hat allerdings Zweifel an dieser so genannten Megaherbivoren-Theorie. So hat der Botaniker Fraser Mitchell vom Trinity College in Dublin uralte Pollen analysiert und daraus abgeleitet, welche Baumarten vor 8500 bis 5500 Jahren in verschiedenen Regionen Europas wuchsen. Dabei fand er keine Hinweise darauf, dass der irische Wald damals dichter war als der in vergleichbaren Regionen des europäischen Festlands. Und das, obwohl es abgesehen von Wildschweinen und wenigen Rothirschen damals gar keine großen Pflanzenfresser auf der Insel gab, die ihn hätten ausdünnen können. Die Tiere hätten demnach zwar die Zusammensetzung der Pflanzenarten verändert, nicht aber größere Waldlichtungen geschaffen.
Die wissenschaftliche Diskussion über diese widerstreitenden Theorien ist noch nicht abgeschlossen. Fest steht jedenfalls, dass Wisente nicht nur bescheiden an ein paar Halmen knabbern. Ein einziges Tier verdrückt bis zu 60 Kilogramm Pflanzenmaterial am Tag. Sonderlich wählerisch können die Wiederkäuer dabei nicht sein: Von Rinde über Gras und Laub bis hin zu jungen Bäumen verschwindet alles Erreichbare in ihrem Maul.
Fressen gegen die Sukzession
In der Döberitzer Heide ist das durchaus erwünscht. Denn diese ökologische Schatzkammer, in der mehr als 5000 Tier- und Pflanzenarten vorkommen, lebt vor allem von ihrer Abwechslung. Wie in einem Mosaik liegen lichte Eichenwälder neben kahlen Sandbereichen, Trockenrasen neben Heideflächen. Und jedes dieser Puzzleteile bietet Refugien für speziell angepasste Bewohner.
Für den Erhalt dieser bunten Vielfalt hat früher der militärische Übungsbetrieb gesorgt. Immer wieder haben die Räder und Ketten der schweren Militärfahrzeuge das Erdreich umgewühlt, die Pflanzendecke aufgerissen und keimende Gehölze zerstört. Trockene Vegetation ging mitunter auch in Flammen auf, wenn Munition einen Brand auslöste. So entstanden immer neue offene Flächen, die zunächst von Licht liebenden Pionieren unter den Tieren und Pflanzen in Besitz genommen wurden. Im Lauf der Zeit wurden diese dann von anderen Arten abgelöst, irgendwann tauchten auch junge Bäume wie Birken und Kiefern auf.
"Sukzession" nennen Biologen eine solche typische Abfolge von Pflanzengesellschaften. Sobald die Gehölze unter die Räder kamen oder verbrannten, begann dieser Prozess wieder von vorn. Also verwandelte sich der Truppenübungsplatz nicht komplett in Wald, sondern entwickelte sich zu einem Flickenteppich von Landschaftsteilen in unterschiedlichen Stadien der Sukzession. Seit die russische Armee 1994 abgezogen ist, sind die Bäume allerdings auf dem Vormarsch und drohen die offenen Biotope wie Heiden und Trockenrasen zu überwuchern. Dem sollen die Wisente und der Rest der Pflanzenfresser-Kooperative nun einen Riegel vorschieben.
Auch die zottigen Kollegen im Rothaargebirge haben in der Vegetation ihres Eingewöhnungsgeheges bereits ihre Spuren hinterlassen. Es gibt dort ein kleines Tal, in dem die landwirtschaftliche Nutzung vor Jahren aufgegeben wurde. Die offenen Flächen mit ihren Orchideen und anderen seltenen Arten verschwanden daraufhin mehr und mehr unter Gestrüpp. Doch auch hier haben die Wisente aufgeräumt: "Die wuchernden Brennnesseln und Himbeeren haben sie weit gehend niedergefressen, einzelne Fichten mit den Hörnern traktiert", berichtet Jörg Tillmann.
Gegen die aufkeimenden Buchen sind die acht Tiere bisher allerdings nicht angekommen. Und wenn sie das Eingewöhnungsgehege verlassen haben, dürfte ihr Einfluss nach Einschätzung der Wissenschaftler weiter schwinden. Schließlich soll sich die Herde in den nächsten Jahren auf maximal 20 bis 25 Mitglieder vermehren. Die aber werden auf einer Fläche von mehr als 4000 Hektar wohl keine größeren Spuren hinterlassen, meint Jörg Tillmann: "Die vielen Hirsche, Rehe und Mufflons im Gebiet dürften viel mehr Einfluss auf die Vegetation haben."
Futter für den Winter
Für den Forstbetrieb im Wittgensteiner Wald ist das eine gute Nachricht. Schließlich soll das Projekt ja beweisen, dass sich Artenschutz und Forstwirtschaft durchaus verbinden lassen. Da sollten die Neuankömmlinge also besser keine großen Schäden anrichten. Was aber, wenn sie den Wald verlassen und ihren Hunger auf Äckern und Wiesen stillen? Ihre Kollegen im Nordosten Polens machen das schließlich auch. Im Fachjournal "Environmental Management" berichteten Emilia Hofman-Kamińska und Rafał Kowalczyk von der Polnischen Akademie der Wissenschaften kürzlich über die Konflikte, die dadurch entstehen. Vor allem in der Zeit zwischen Dezember und März vergreifen sich Wisente demnach zunehmend an Wintergetreide, Raps und Heumieten in der Nähe des Białowieża-Urwalds und des Knyszyn-Walds. In den Jahren 2000 bis 2010 hat der polnische Staat insgesamt 196 200 Euro ausgegeben, um betroffene Bauern zu entschädigen.
"Solche Probleme sind im Rothaargebirge aber nicht zu befürchten", ist Jörg Tillmann sicher. Zum einen betreibt in der kargen Mittelgebirgslandschaft heute kaum noch jemand Ackerbau, die Tiere könnten also allenfalls unerlaubt auf einer Wiese grasen. Zum anderen werden die Projektmitarbeiter die Wisente in der kalten Jahreszeit füttern. Denn die Täler, in denen die Huftiere früherer Jahrtausende im Winter ihren Hunger gestillt haben, sind längst bebaut und fallen damit als Wisent-Nahrungsgründe aus. "Über das Futter kann man die Tiere sehr gut lenken", erklärt Jörg Tillmann. Deshalb soll das achtköpfige Pflanzenfresserteam auch zu Ende des Winters frei gelassen werden. Angesichts des sonst eher mageren Nahrungsangebots dürfte es dann zunächst ganz in der Nähe der Futterstelle bleiben. Erst zum Sommer hin wird es wohl größere Streifzüge unternehmen, um sein neues Wald-Reich zu erkunden.
Keine Gefahr
Die Leitkuh wird dabei einen Sender um den Hals tragen, so dass die Projektmitarbeiter ihre Herde jederzeit orten können. Sie interessieren sich zum Beispiel dafür, wo die Tiere fressen und wo sie schlafen. Vielleicht kreuzen sie auf ihren Streifzügen ja auch regelmäßig eine Straße? "Dann können wir überlegen, ob man Verkehr oder Tiere umleiten sollte", erklärt Jörg Tillmann. Spaziergänger werden wohl nur selten das Glück haben, den Neuankömmlingen zu begegnen. Und wenn, haben sie nichts zu befürchten. Das zeigen zum einen die Erfahrungen in Białowieża, wo zahllose Touristen unterwegs sind, ohne mit den zottigen Waldbewohnern aneinanderzugeraten.
Im Eingewöhnungsgehege haben Biologen der Universität Siegen zudem ausführlich getestet, wie die künftigen Bewohner des Rothaargebirges auf Menschen reagieren. Sie haben sie zum Beispiel mit Schiläufern und Radfahrern konfrontiert, mit Wanderern, Fotografen und Hunden. "Alle Tiere stammen ja aus Gehegen und sind deshalb an Menschen gewöhnt", erklärt Jörg Tillmann. "Trotzdem sollten sie die Flucht ergreifen, wenn ihnen Menschen oder Hunde zu nahe kommen." Bis auf eine Kuh haben alle Wisente diesen Test bestanden. Ihre Fluchtdistanz beträgt derzeit etwa 40 Meter, und die Forscher gehen davon aus, dass sie sich nach der Freilassung weiter vergrößern wird. "Man kennt das von ausgebrochenen Kühen", sagt Jörg Tillmann. "Schon nach relativ kurzer Zeit in Freiheit zeigen die ein Fluchtverhalten wie ein Wildrind."
Das allzu zutrauliche Wisentweibchen, das den Fluchttest nicht bestanden hat, wird nicht in den Wald entlassen. Es lebt stattdessen mit fünf Artgenossen im etwa 20 Hektar großen separaten Areal des Projekts. Ein Wanderweg durch diese "Wisent-Wildnis am Rothaarsteig" bietet gute Chancen, die Tiere in ihrem natürlichen Lebensraum zu beobachten. Seit der Eröffnung im September 2012 haben schon mehr als 13 000 Besucher diese Gelegenheit genutzt. "Das ist für unser Projekt ein sehr wichtiger Erfolg", freut sich Michael Emmrich. Schließlich sei die Tierart in Deutschland heutzutage wenig bekannt. Daher habe es zu Beginn des Projekts in der Bevölkerung durchaus Vorbehalte gegen die Freilassung gegeben: "Manche Skeptiker wussten allerdings nicht einmal, dass es sich um Pflanzenfresser handelt." Inzwischen aber haben die vielen Begegnungen in der Wisent-Wildnis den Tieren ein viel besseres Image beschert. Die neuen Nachbarn können kommen.
Schreiben Sie uns!
1 Beitrag anzeigen