Gleichungen: Die schönsten Formeln der Mathematik
Ist Mathematik eine Sprache oder eine Wissenschaft? Diese Frage taucht immer wieder auf und sorgt mitunter für heftige Diskussionen. Für manche Menschen ist Mathematik sogar noch mehr, nämlich eine Art Kunst. Das zeigt sich am eindrucksvollsten im Teilbereich der Geometrie. Sie bringt atemberaubende Muster hervor – von wundervollen mandalaähnlichen Strukturen bis hin zu fraktalen Schneeflocken.
Auch Formeln bergen eine gewisse Schönheit. Oft entdeckt man diese allerdings erst bei einem zweiten Blick. Als Beispiel dafür gilt häufig die eulersche Identität eiπ + 1 = 0. Diese knappe Gleichung umfasst nämlich fünf der wichtigsten mathematischen Größen: null und eins sowie die eulersche Zahl e, die Kreiszahl π und die imaginäre Einheit i, also die Wurzel aus minus eins. Dass sich diese Konstanten durch eine einfache Formel verbinden lassen, ist durchaus faszinierend. Doch besonders viele Anwendungen hat der Ausdruck nicht.
Glücklicherweise gibt es viele weitere Beispiele für Formeln, die reizvoll sind und die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler überdies in ihrer täglichen Arbeit heranziehen. Sechs Fachleute aus unterschiedlichen Forschungsbereichen stellen hier ihre Lieblingsgleichungen vor.
Der Satz von Bayes
Während der Corona-Pandemie kamen viele Menschen nicht nur mit dem Virus in Kontakt, sondern auch mit dem Satz von Bayes – nämlich dann, wenn sie einen positiven Schnelltest hatten. Die naheliegende Erklärung für das Ergebnis ist, dass die getestete Person an Covid-19 erkrankt ist. Doch die Schnelltests sind nicht unfehlbar. Einige Hersteller geben an, dass die Tests in einem von 1000 Fällen ein falsch positives Ergebnis liefern – also positiv ausfallen, obwohl eine Person gesund ist. Doch das heißt nicht automatisch, dass die Wahrscheinlichkeit, trotz positivem Testergebnis gesund zu sein, 0,1 Prozent beträgt. Hier kommt der Satz von Bayes ins Spiel. Er erlaubt es, bedingte Wahrscheinlichkeiten zu berechnen, das heißt die Frage zu beantworten: Wie wahrscheinlich ist ein Ereignis unter der Bedingung, dass ein anderes Ereignis eingetreten ist?
Angenommen, das Coronavirus habe eine Flaute, und im Durchschnitt sei nur eine von 10 000 Personen erkrankt. Damit beträgt die Wahrscheinlichkeit, gesund zu sein, P(gesund) = 0,9999. Wenn eine Million Menschen einen Schnelltest machen, dann befinden sich darunter durchschnittlich 100 Erkrankte; 999 900 Personen sind gesund. Da der Test aber jedes 1000. Mal falsch positiv ausschlägt (P(positiv | gesund) = 0,001), sehen rund 1000 gesunde Personen eine zweite Linie auf ihrem Schnelltest. Nehmen wir an, dass Menschen, die erkrankt sind, immer einen positiven Schnelltest haben, also die 100 Infizierten auch wirklich als solche identifiziert werden. Insgesamt gibt es also 1100 positive Tests; doch bloß 100 Personen sind wirklich krank. Die Wahrscheinlichkeit P(krank | positiv), bei einem positiven Schnelltest wirklich krank zu sein, beträgt demnach lediglich 100⁄1100 = 9,09 Prozent. Das folgt aus dem Satz von Bayes. Die allermeisten Menschen, die in dieser Situation einen positiven Test vorweisen, sind also gesund, nicht bloß 0,1 Prozent von ihnen.
»Obwohl die Gleichung so unscheinbar ist, benutzte ich sie fast jede Woche«Kristian Kersting, Informatiker
Laut dem Informatiker Kristian Kersting von der TU Darmstadt erlaubt es der Satz, gewissermaßen Ursache und Wirkung zu vertauschen. »Diese einfache Formel beeindruckt mich, weil sie die Grundlage für viele Fragen der KI, des maschinellen Lernens und der Kausalität ist.« Möchte man beispielsweise einem KI-Programm beibringen, ein Bild zu klassifizieren, sucht man nach der wahrscheinlichsten Klasse (etwa: Katze oder Hund) für ein Eingabebild P(Klasse | Eigenschaften des Bilds). Diese Wahrscheinlichkeit ist jedoch nicht bekannt, deshalb greift man auf den Satz von Bayes zurück und verwendet P(Eigenschaften des Bilds | Klasse), also die möglichen Eigenschaften eines Bilds, wenn es Teil einer Klasse ist. »Obwohl die Gleichung so unscheinbar ist, benutzte ich sie fast jede Woche«, sagt Kersting.
Die riemannsche Zetafunktion
»Hierbei handelt es sich um keine Formel im engeren Sinne, die zwei Größen in Beziehung setzt, sondern ›nur‹ um die Definition der riemannschen Zetafunktion«, erläutert der theoretische Physiker Stefan Weinzierl von der Johannes Gutenberg-Universität Mainz seine Wahl. Die Geschichte der Zetafunktion reicht bis ins 17. Jahrhundert zurück, als Mathematikerinnen und Mathematiker unendlich lange Summen untersuchten. Das so genannte Basler Problem bestand zum Beispiel darin, die Kehrwerte aller Quadratzahlen zu addieren, das heißt ζ(2) zu berechnen.
Erst 1734 gelang es dem damals 27-jährigen Leonhard Euler, die Aufgabe zu lösen: ζ(2) = = π2/6. Kurze Zeit später konnte der Ausnahmemathematiker außerdem den Wert der Zetafunktion für alle geraden s angeben. An den ungeraden Werten scheiterte Euler allerdings – ebenso wie alle nach ihm. Bis heute ist etwa unklar, ob die Summe aller Kehrwerte von Kubikzahlen (also ζ(3)) eine transzendente Zahl wie π ergibt.
Die Funktion wird nicht nur von Mathematikern verwendet. »Die riemannsche Zetafunktion tritt auch in vielen Bereichen der Physik auf«, sagt Weinzierl. Gerade bei Vorhersagen von Hochenergieexperimenten, wie sie am Europäischen Kernforschungsinstitut CERN stattfinden, taucht die Zetafunktion immer wieder auf.
Zudem dreht sich eines der bedeutendsten Rätsel der Mathematik um diese Funktion: die so genannte riemannsche Vermutung. In dieser kann das Argument s der Zetafunktion auch reelle und imaginäre Werte (das heißt Wurzeln aus negativen Zahlen) annehmen. Die Frage, für welche Werte von s die Zetafunktion null ergibt, ist eng mit der Verteilung der Primzahlen auf dem Zahlenstrahl verbunden. Doch auch 160 Jahre nach der Entdeckung dieses Zusammenhangs konnte die Vermutung weder bewiesen noch widerlegt werden.
Der Faltungssatz
»Dieser Zusammenhang war für mich sehr überraschend, als ich ihn zum ersten Mal sah«, erinnert sich der Mathematiker Dirk Frettlöh von der Universität Bielefeld, »weil er zwei so verschiedene Operationen miteinander verbindet.« Die erste Operation ist die Multiplikation, die zweite eine so genannte Faltung, die zwei Funktionen verknüpft und eine dritte als Ergebnis liefert. Um das zu verstehen, kann man sich die zwei zugehörigen Graphen zu den beiden Eingangsfunktionen vorstellen. Der eine wird von links nach rechts entlang der x-Achse verschoben. Dabei hält man fest, wie groß die überlappende Fläche mit dem anderen Graphen ist. Dieser Flächeninhalt zeichnet dann den entsprechenden Wert der dritten Funktion nach, dem Ergebnis der Faltung.
Der Faltungssatz beschäftigt sich nicht bloß mit den Funktionen selbst, sondern auch mit deren Fourier-Transformationen. Eine solche Operation löst eine Funktion in ihre Bestandteile auf, so wie man in der Musik einen Klang in seine Obertöne zerlegen kann. Der Faltungssatz besagt, dass die Fourier-Transformation von zwei gefalteten Funktionen dasselbe ist wie das Produkt der einzelnen Fourier-transfomierten Funktionen. »Die diskrete Version des Faltungssatzes liefert viele wichtige Anwendungen in der Informatik, wie die schnelle Multiplikation großer Zahlen«, sagt Frettlöh. »Es gibt nichts Praktischeres als eine gute Theorie.«
Spektralsatz
»Die Formel fängt einen sehr komplizierten Zusammenhang auf elegante und einfache Weise ein: den zwischen Theorie, Messung und Messergebnissen in der Quantenmechanik«, erklärt der Mathematiker und Physiker Johannes Kleiner von der Ludwig-Maximilians-Universität in München.
In der klassischen Physik kann man Objekte – zumindest theoretisch – beliebig exakt vermessen. Die einzigen Beschränkungen sind durch die Technologie gesetzt. Das ist in der Quantenmechanik völlig anders. Dort nehmen Messungen eine besondere Rolle ein: Sie beeinflussen den Zustand eines Objekts. So ist es beispielsweise möglich, dass sich ein Teilchen an zwei Orten gleichzeitig befindet – Physiker sprechen von einem überlagerten Zustand. Sobald das Teilchen aber gemessen wird, »kollabiert« dieser Zustand und das Teilchen legt sich auf einen einzelnen Ort fest. Eine weitere Besonderheit ist, dass sich gewisse Eigenschaften wie Ort und Geschwindigkeit nicht unabhängig voneinander exakt bestimmen lassen. Laut der Quantenmechanik unterliegt die Natur einer grundlegenden Unschärfe.
»Deshalb ist die Gleichung der wichtigste Baustein einer Messtheorie der Quantenmechanik«Johannes Kleiner, Mathematiker und Physiker
All diese Seltsamkeiten fängt der Spektralsatz ein. Die Formel gibt an, welche Messergebnisse λ auftreten können. »Zudem bestimmt sie für jedes Ergebnis, wie der quantenmechanische Zustand verändert wird, wenn eine Messung durchgeführt wird«, sagt Kleiner. »Deshalb ist die Gleichung der wichtigste Baustein einer Messtheorie der Quantenmechanik.«
Satz von Stokes
»Diese Formel zeigt eine Äquivalenz zwischen Analysis und Geometrie«, sagt der theoretische Physiker Achim Kempf von der University of Waterloo. Der allgemeine Satz von Stokes verbindet den Wert einer Funktion entlang der Grenze einer Region mit der Ableitung dieser Funktion in der gesamten Region. Diese Eigenschaft ist über die Mathematik hinaus in etlichen Bereichen der Physik nützlich, etwa im Elektromagnetismus, in der Fluiddynamik oder der Quantenfeldtheorie.
Der Satz von Stokes lässt sich durch Strömungen im Wasser veranschaulichen. Wenn sich viele Menschen auf einem See jeweils mit einem Kanu im Kreis drehen, entstehen viele Strudel. Will man die Gesamtwirkung all der kleinen, großen, rechts- wie linksgerichteten, schnellen wie langsamen Drehungen erfassen, kann man entweder alle Wirbel gegeneinander aufrechnen. Oder man schaut sich bloß die Strömung entlang des Ufers an.
»Und das ist nur der dreidimensionale Fall des Satzes«, führt Kempf aus. Tatsächlich ist das Theorem so allgemein, dass es ebenso für höhere und niedrigere Dimensionen gilt und nicht von der Form der geometrischen Region abhängt. »In zwei Dimensionen sagt es einfach: Wenn erhaltene Größen innerhalb eines Volumens zu- oder abnehmen (etwa Masse oder Ladung), müssen sie notwendigerweise durch die Oberfläche fließen.« Der Satz von Stokes gilt ebenfalls für die komplexe Ebene, in der auch Wurzeln aus negativen Zahlen vorkommen, und in höheren Dimensionen. Durch den allgemeinen Charakter besitzt er etliche Anwendungen.
Klassenzahlformel
Die Formel hat nichts mit einer Klasse in der Schule zu tun. Sie stammt aus der Zahlentheorie, einem abstrakten Teilbereich der Mathematik, der sich unter anderem mit Primzahlen beschäftigt. Der Zahlentheoretiker Valentin Blomer von der Universität Bonn beschreibt, was sie besonders macht: »Die Formel codiert arithmetische Eigenschaften eines Zahlkörpers« – eine Menge von Zahlen, die sich durch die vier Grundrechenarten ineinander umwandeln lassen – »in einem analytischen Ausdruck.«
Eine solche Eigenschaft ist zum Beispiel die Klassenzahl h eines Körpers. Falls h = 1 ist, besitzt der Körper eine eindeutige Primfaktorzerlegung. Das heißt, jede Zahl lässt durch ein eindeutiges Produkt aus Primteilern ausdrücken; das ist etwa bei den rationalen Zahlen der Fall. Bei komplizierteren Körpern können Zahlen aber auch mehrere Primfaktorzerlegungen besitzen. Eine wichtige offene Frage der Zahlentheorie dreht sich darum, wie viele Körper eine Klassenzahl von eins haben. Bereits Gauß mutmaßte, dass es unendlich viele gibt – doch ein Beweis steht bis heute aus.
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