Interview: »Die Spaltung der Gesellschaft hat eine rassistische Komponente«
Was bringt Menschen dazu, im Angesicht einer lebensbedrohenden Krankheit wie Covid-19 Mediziner und andere Wissenschaftler anzugreifen und ihre Ergebnisse anzuzweifeln? Ein Interview mit der Wissenschaftshistorikerin Naomi Oreskes von der Harvard University über Fake News, Verschwörungstheorien, die Unruhen in den USA und was Rassismus mit der Pandemie zu tun hat.
»Spektrum.de«: Wir haben uns fast daran gewöhnt, dass in der Klimadebatte Wissenschaftler angegriffen und Fake News verbreitet werden. Warum passiert das jetzt auch in der Corona-Pandemie?
Naomi Oreskes: Weil da die gleichen Mechanismen ablaufen. Wir leben in einer Welt, und das gilt besonders für uns in den USA, in der Regierungen dämonisiert werden. Die rechten Kreise mit ihren Geschäftsinteressen haben das Narrativ aufgebaut, dass die Regierung unfähig und die Privatwirtschaft effizient sei. In den USA vertritt die Republikanische Partei diese Antiregierungshaltung, obwohl sie jetzt diese Regierung stellt.
Schlimm genug, aber was genau hat das mit Wissenschaft zu tun?
Nehmen Sie das Beispiel der Weltgesundheitsorganisation: Donald Trump hat sie heftig angegriffen. Doch sie ist entgegen seinen Tiraden eben eine sehr effiziente Organisation für die internationale Koordinierung, und sie zeigt zugleich, wie wichtig Wissenschaft und Fakten sind. Deswegen musste er sie dämonisieren und ihr die finanziellen Mittel entziehen. Das ist das gleiche Rezept wie mit dem Klimawandel. Dort wird der Weltklimarat IPCC angegriffen, die wissenschaftlichen Beweise werden bestritten, und das Ganze wird als Übertreibung der Linken hingestellt.
Wie hat sich das bei der Covid-19-Pandemie ausgewirkt?
Es gab schon im Januar Belege dafür, dass es sich um ein gefährliches neues Virus handelte, das auch in die USA kommen würde. Trotzdem hat die Trump-Regierung sich geweigert, das anzuerkennen. Ihre Strategie war genau wie beim Klimawandel: Verleugnung der wissenschaftlich anerkannten Fakten. Sie hätte sagen können: Ja, das stimmt, lasst uns mal sehen, wie wir die Privatwirtschaft ankurbeln können, um die Gefahr abzuwenden. Stattdessen haben die Rechten die Gefahr bestritten, weil die Privatwirtschaft solche Probleme überhaupt nicht allein lösen kann. Und anstatt solche Grenzen anzuerkennen, bestreiten die Marktfundamentalisten das Problem, und dafür mussten sie auch die Wissenschaftler diskreditieren und Zweifel an deren Ergebnissen wecken.
Wie genau meinen Sie das?
Es hat doch einen Grund, warum wir von »Public Health« (öffentliche Gesundheitsvorsorge) sprechen. Die Öffentlichkeit bezahlt für die Forschung, die Risiken und mögliche Lösungen untersucht. Es ist auch deswegen eine öffentliche Aufgabe, weil private Firmen das nicht machen würden. Es ist kein Geschäftsmodell, eine Milliarde Gesichtsmasken auf Lager zu halten. Dafür haben wir doch die Regierung, weil die Aussicht auf Profit Menschen nicht dazu anreizt, entsprechende Vorräte für Notfälle anzulegen. Wenn man das alles nicht wahrhaben will, muss man eben etwas erfinden.
Also kurz zusammengefasst: Ein starker Staat ist für die konservativen Ideologen links – und die Wissenschaft auch, wenn sie für große Probleme Lösungen vorschlägt, die nur eine Regierung mit viel Macht ergreifen kann?
Ja, und damit hat Ronald Reagan angefangen. Er hatte in der Ansprache bei seiner Amtseinführung das Mantra: Die Regierung ist nicht die Lösung für unser Problem; sie ist das Problem. Donald Trump hat das nicht erfunden.
Sehen Ihre Landsleute nun, dass nur eine starke Regierung überhaupt in der Lage ist, in einer solchen Lage zu helfen? Trump war es doch immerhin enorm wichtig, dass seine Unterschrift auf die Schecks gedruckt wurde, mit denen der Staat den Bürgern Unterstützung zahlte. Ändert sich an dieser Abneigung gegen staatliche Macht gerade etwas?
Das bringt die Rechte ja auch in Schwierigkeiten, und sie fängt an, lächerliche Dinge zu sagen. Die Menschen merken, dass niemand diese Krise allein bewältigen kann. Daher haben die Republikaner im Kongress für ein staatliches Hilfspaket gestimmt. Es hat ihnen aber nicht gefallen, und sie haben über jedes Detail mit den Demokraten gestritten. Und während die Republikaner versuchen, sich das ans Revers zu heften, werden sie gleichzeitig weiterhin gegen jede Art von dauerhaftem Wandel kämpfen.
Beim Klimawandel ist der Streitpunkt der Lebensstil: Energieverbrauch, Auto fahren, Fleisch essen, solche Dinge. Aber bei Covid-19 ist es doch viel ernster: Es geht um die Gesundheit. Wenn Erkenntnisse der Forscher ignoriert werden, könnten Menschen sterben. Und es sind Menschen gestorben.
Durch den Klimawandel sterben auch schon Menschen, ihr Tod ist nur nicht so direkt zuzuordnen oder offensichtlich. Aber im Fall von Covid-19 sind sie offensichtlich. Aus der republikanischen Ideologie ist eine Pathologie geworden, eine krankhafte, gefährliche Übersteigerung. Angefangen hat es als Argument mit einigen Elementen von Wahrheit: Die Regierung kann nicht alles wirklich gut. Und es ist vielleicht wirklich keine gute Idee, wenn der Staat die Ökonomie übernimmt. Doch dann wurde daraus ein Glaubenssatz: Der Regierung kann nichts, die Privatwirtschaft alles.
»Die Menschen merken, dass niemand diese Krise allein bewältigen kann«
Diese Art von neoliberaler Staatsfeindlichkeit gibt es in vielen Ländern. Und es scheint eine Korrelation zu geben: Die Todesraten spiegeln den Grad der ideologischen Verhärtung wider.
Bei uns kommt Folgendes hinzu: Die Glaubensfrage spaltet die Gesellschaft in verschiedene Stämme. Wenn du konservativ bist, lehnst du wie die Menschen in deinem Umfeld die Wissenschaft als links ab, weil die Wissenschaft bei Themen wie Klimawandel oder Umweltschutz die Position deiner politischen Gegner stützt. Daraus wird ein Muster, der Wissenschaft und den Kenntnissen von Experten generell feindlich gegenüberzustehen.
Gibt es Hoffnung, dass die Pandemie aufrüttelt?
Man würde ja denken, dass Menschen in diesen Zeiten verstehen, dass die Situation anders ist, dass dieses Stammesdenken dem amerikanischen Volk schadet. Und das ist bei vielen Menschen ja auch so: Die meisten sind zu Hause geblieben, haben sich geschützt und stimmen den Wissenschaftlern zu, dass wir das normale öffentliche Leben einschränken müssen. Und dass es wichtiger ist, die Gesundheit zu schützen als die Wirtschaft.
Ist das überhaupt ein wirklicher Gegensatz?
Nein, die Republikaner wollen bloß, dass wir darin eine Entweder-oder-Entscheidung sehen. Und dann die Wirtschaft für wichtiger halten oder zumindest die gesundheitliche Gefahr für gering.
Sie sagten: Man würde denken, dass die Menschen etwas verstehen. Kommt da ein Aber?
Aber die politische Polarisation bleibt bestehen. Sie ist so groß, dass zur gleichen Zeit, in der die meisten zu Hause bleiben, andere ohne Maske draußen herumlaufen und darin einen Ausdruck ihrer Identität sehen: »Seht her, ich bin unabhängig und lasse mir von euch nicht vorschreiben, was ich tun soll.«
Hat diese Aufspaltung in Stämme in der Covid-19-Pandemie auch eine geografische Komponente? In den großen Städten und an der Ostküste, wo viele die Demokraten wählen, grassiert die Krankheit. Vielleicht bekommen Anhänger der Republikaner davon in ihrem direkten Umfeld weniger mit?
So einfach ist es nicht. Es erweckt vielleicht den Eindruck, weil New York so schwer getroffen wurde. Und hier in Massachusetts, wo ich lebe, haben die Menschen Corona auch früh ernst genommen, aber hier hält man sich ohnehin an Regeln. Das ist das 300 Jahre alte Erbe der Puritaner, die hier als erste Europäer gesiedelt haben. Insgesamt zeigen die Umfragen, dass die Spaltung den gleichen Linien folgt wie sonst auch, und diese hatten schon immer eine geografische Komponente.
Wo verläuft die Demarkationslinie?
Sehr grob: städtisch-urban gegenüber ländlich. In den großen Städten verstehen die Menschen, worum es beim Klimawandel und bei Covid-19 geht, und sie respektieren die Wissenschaft. Aber auch in einem liberalen Staat wie Kalifornien leben im ländlichen Central Valley viele Menschen, die Forschungsergebnissen feindlich begegnen, für Trump stimmen und eine Sag-mir-nicht-wie-ich-leben-soll-Ideologie haben.
Vielleicht bekommen die auf dem Land wirklich nicht so viel von Covid-19 mit?
Sie haben doch Fernsehen. Es kann natürlich sein, dass die Gegenden nicht so stark betroffen sind und die Bewohner sich darum fragen, warum sie so viele Opfer bringen sollen. Dann haben sie allerdings auch nicht verstanden, wie sich Krankheitserreger verbreiten. Wenn jemand von Fresno im Central Valley in die Hauptstadt Sacramento fährt, um dort etwas für seine Farm zu kaufen, dann ist er genauso gefährdet wie die Bewohner dort und bringt das Virus vielleicht mit nach Hause.
»Sie haben nicht verstanden, wie sich Krankheitserreger verbreiten«
Wer hat versäumt, das zu erklären?
Nun, die Trump-Anhänger haben eben meist nicht CNN geguckt oder das öffentliche Fernsehen PBS, sondern Fox News. Und die Regierung hat überhaupt nicht geholfen. Trump hat so viele falsche und irreführende Dinge gesagt. Wenn die amerikanischen Bürger verwirrt sind, ist es kein Wunder, weil viele Leute im rechten politischen Spektrum wirklich hart daran gearbeitet haben, uns in solchen wissenschaftlichen Fragen zu verwirren. Und Trump ist einer von ihnen.
In den deutschen Fernsehnachrichten haben wir immer wieder Bilder von einer Demonstration in Denver gesehen, wo sich eine Frau aus einem Pick-up lehnt und einen Krankenpfleger anbrüllt. Sie ist für eine Lockerung der Maßnahmen, er ist dagegen und blockiert den Autokorso ihrer Demonstration, indem er auf der Straße steht. Und weil er asiatischen Ursprungs ist, werden ihre Worte schnell auch rassistisch.
Die Spaltung der Gesellschaft hat ganz klar eine rassistische Komponente. Außerdem werden Pandemien und Infektionskrankheiten häufig schnell in ein chauvinistisches Weltbild eingeordnet, weil die Schuld irgendwelchen anderen Ethnien oder Gruppen zugeschoben wird. Trump hat ja auch versucht, Covid-19 als chinesisches Virus darzustellen, das hat aber zum Glück nicht wirklich gezündet. Auch wenn manche weiterhin glauben, ein Labor in China habe den Erreger hergestellt.
Die Unruhen, die Ihr Land zurzeit erschüttern, haben ihre Ursache in tief sitzendem Rassismus gegenüber Afroamerikanern, den der Tod von Georg Floyd tragisch beleuchtet. Gibt es da Zusammenhänge mit der Frage nach Staat und Wissenschaft?
Auf jeden Fall mit dem Staat. Es hat in meinem Land in seiner ganzen Geschichte institutionalisierte Gewalt gegen Afroamerikaner gegeben. Jetzt sehen immer mehr von uns die Belege, weil es Smartphone-Videos und soziale Medien gibt. Die Übergriffe durch die Polizei gegenüber Demonstranten heizen die Lage noch an.
Zeigt nicht auch Covid-19 den Rassismus, weil Afroamerikaner eine dreimal so hohe Sterblichkeit haben wie Weiße? Spielt das eine Rolle bei den Unruhen?
Bei Unruhen dieser Art geht es niemals nur um eine Sache. Irgendein Auslöser rührt tief sitzenden Ärger und Frustration auf. In der Tat leiden Afroamerikaner besonders unter der Pandemie. Das hat mehrere Gründe: Ein höherer Anteil von ihnen als in anderen Gruppen hat gesundheitliche Probleme, so dass ein schwerer Verlauf nach einer Ansteckung wahrscheinlicher wird. Außerdem üben sie häufiger Jobs aus, die sie nicht von zu Hause aus machen können. Es sind ja auch die Busfahrerinnen und die Arbeiter in den Fabriken, wo Fleisch verpackt wird, zu unverzichtbaren Angestellten erklärt worden. Das ist eine der Heucheleien unser Gesellschaft: Schwarze und Latinos müssen unbedingt den Betrieb aufrechterhalten, damit wir Weißen Fleisch bekommen. Aber wir werden ihnen trotzdem nicht vernünftig helfen, wenn sie krank werden.
In Deutschland gab es viel Aufsehen, weil auf Demonstrationen gegen die Einschränkungen einzelne Teilnehmer Bill Gates als den großen Bösewicht darstellten. Welche Rolle spielen Verschwörungstheorien in den USA?
Es gibt viele solche Geschichten, und niemand weiß, wie viele Menschen an so etwas glauben. Bill Gates kommt immer wieder vor, weil er ja tatsächlich mit seinem Geld die Entwicklung von Impfstoffen fördert, als wohltätiges Engagement seiner Stiftung. Wenn man Impfungen misstraut – und auch das ist oft Teil der republikanischen Stammesidentität –, dann ist Gates eine offensichtliche Wahl für den Superschurken. Außerdem haben die Angriffe von der rechten Seite gegen George Soros, den Großinvestor, zugenommen. Angeblich steckt er auf irgendeine schändliche Art hinter der Pandemie. Solche Gerüchte bedienen dann auch den latenten Antisemitismus.
Wie gefährlich sind solche Aussagen?
Verschwörungsmythen können echten Schaden anrichten. Ich mache mir jedoch mehr Sorgen darüber, dass sich viele Amerikaner haben einreden lassen, Impfstoffe seien gefährlich. Oder am Klimawandel sei nichts dran, weil die Republikanische Partei ihnen das seit 30 Jahren erzählt. Das liegt mehr im Mainstream, das wird von vielen Leuten geglaubt, die zur Wahl gehen. Das richtet großen Schaden an.
Fake News gehen oft Hand in Hand mit Verschwörungstheorien. Hier in Deutschland gab es neulich eine Analyse: Nur wenig von dem, was sich verbreitet, ist einfach erfunden, meist werden irgendwelche Bruchstücke der Wahrheit verdreht. Bei Covid-19 schien es auch noch falsche, angeblich hilfreiche Ratschläge zu geben. Ist das wirklich neu?
Das gab es schon früher. Sie können ja dazu dienen, die eigene Position zu stützen, dass der Erreger eigentlich harmlos oder leicht in den Griff zu bekommen sei. Und das Verdrehen von Fakten ist ohnehin ein uralter Trick. Das macht es so schwer, solche Fake News zu bekämpfen: Es sind im Allgemeinen keine Lügen, sondern Ausschnitte, Halbwahrheiten, Fastwahrheiten oder Fehlinterpretationen. Bei Klimawandelleugnern sehen wir das dauernd.
Was wird die Covid-19-Pandemie mit der Stellung der Wissenschaft machen? Nehmen mehr Menschen Ergebnisse und Warnung ernst?
Bis vor einer Woche wäre ich vorsichtig optimistisch gewesen. Wir haben sehr viel Berichterstattung über wissenschaftliche Arbeitsweise und ihre Stärken, Schwächen und Resultate gesehen. Journalisten haben im Großen und Ganzen gut darüber berichtet, was wir wissen, was wir nicht wissen und warum es so lange dauert, bis ein Impfstoff entwickelt ist. Die Menschen sind interessiert, sie wollen das verstehen. Und es hatte sich auch gezeigt, dass die Amerikaner ein Gewissen haben und sich um das allgemeine Wohl sorgen.
Aber?
Aber die Debatte hat die tiefe Spaltung in diesem Land betont. Und was in der letzten Woche passiert ist: Covid-19 und die Polizeigewalt haben sich gegenseitig verstärkt und zeigen in grellem Licht, wie schlecht die Afroamerikaner behandelt werden. Nicht mal als Bürger zweiter, sondern dritter Klasse, und das dauert schon eine lange, lange Zeit an. Mich schockiert das tief: Meine Eltern waren Bürgerrechtsaktivisten, ich bin in dieser Bewegung aufgewachsen. Wir waren nicht naiv, doch wir dachten, das Land würde sich durch die Gesetze zur Gleichbehandlung und zum Wahlrecht verändern.
Hat es das nicht?
Es hat sich natürlich verändert, das Leben für Afroamerikaner in den Städten im Süden ist zum Beispiel viel besser geworden. Vor 50 Jahren wäre auch undenkbar gewesen, dass Afroamerikaner manche Positionen mit Macht und Einfluss besetzen, die sie jetzt innehaben.
Wie Barack Obama als Präsident.
Ja, aber es ist eine sehr kleine Zahl. Es gibt an der Oberfläche eine Lackschicht des Fortschritts. Doch die meisten Afroamerikaner gehören zur Unterklasse und werden von der Polizei mit absoluter Herablassung behandelt. Wir scheinen einfach nicht zu wissen, wie man das reparieren kann, darum ist es ein schmerzvoller Moment.
Frau Oreskes, herzlichen Dank für das Gespräch.
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