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Soziale Wahrnehmung: Wie Stimmen wirken - und was sie wirklich verraten

Eine Stimme kann kompetent klingen, attraktiv oder vertrauenswürdig. Sind solche Eindrücke in der Regel richtig? Und was kann man überhaupt aus einer Stimme heraushören?
Illustration von Reisenden in der Bahn: Eine Frau telefoniert fröhlich, ein Mann guckt genervt

Eine Bahnreise im Großraumabteil, man blättert durch etwas Gedrucktes oder wischt sich durch Digitales, da ertönt eine gedämpfte Stimme. Der Mensch, zu dem die Stimme gehört, sitzt ein paar Reihen weiter hinten und scheint zu telefonieren. Auch wenn der Inhalt des Gesprächs nicht zu verstehen ist, entsteht vor dem inneren Auge ein Bild der Person: ein Mann mittleren Alters, kompetent, vertrauenswürdig.

Menschen bilden sich in Sekundenbruchteilen eine erste Meinung über Fremde. Diese Eindrücke basieren nicht nur auf dem, was sie sehen, sondern auch auf dem Gehörten. Doch auf welche Eigenschaften meinen wir allein anhand der Stimme schließen zu können? Was verleitet uns dazu? Und liegen wir damit in der Regel richtig?

Themenwoche »Die Signale des Körpers«

Menschen kommunizieren nicht allein mit Worten: Sie senden und empfangen auch viele nonverbale Botschaften. Wie die Signale wirken und was sie tatsächlich bedeuten, schildert diese sechsteilige Serie. Klingt der Charakter eines Menschen in seiner Stimme durch? Offenbart eine Handschrift womöglich mehr, als geschrieben steht? Was passiert beim Blickkontakt? Und welche Rolle spielen verschwitzte T-Shirts in der Liebe? »Spektrum.de« entschlüsselt die Signale des Körpers.

Wie eine Stimme klingt, hängt unter anderem von der Anatomie im Inneren des Halses ab. Ein Ton entsteht, wenn Luft aus den Lungenflügeln durch die Luftröhre in den Hals und dort durch den Kehlkopf strömt: Die beiden Stimmbänder beginnen zu schwingen. Je nach Anspannung der Stimmlippen schwingen diese schneller oder langsamer, dadurch wird der Ton höher oder tiefer. Bei Männern ist der Kehlkopf größer als bei Frauen, die Stimmbänder sind länger, sie schwingen langsamer, der Ton klingt tiefer. Die Grundfrequenz – die Stimmhöhe – liegt für Männer im Durchschnitt bei etwa 120 bis 130 Hertz. Frauen sprechen mit durchschnittlich 200 bis 220 Hertz auf einer deutlich höheren Frequenz. Das legt zwei Schlüsse nahe: Wer die Stimmhöhe einer fremden Person hört, sollte ihr Geschlecht erkennen und ihre Größe in etwa einschätzen können.

Die Klangfarbe: Ein Indiz für die Körpergröße

Und in der Tat: Das Geschlecht lässt sich anhand der Stimmhöhe sehr gut bestimmen. Die Körpergröße allerdings weniger: Versuchspersonen gelingt es zwar ganz passabel, auf die Körpergröße der betreffenden Person zu schließen. Doch das liegt weniger an der Stimmhöhe als vielmehr an den »Formanten«. Dabei handelt es sich um Frequenzbereiche, die im Resonanzraum aus Mund- und Nasennebenhöhlen besonders verstärkt werden und für die Klangfarbe der Stimme sorgen. Mit der Körpergröße hängen diese Formanten stärker zusammen als die Stimmhöhe.

Ein anderes Merkmal kann der Mensch ebenfalls recht genau anhand der Stimme einschätzen: das Alter. Denn auch davon hängt es ab, wie eine Stimme klingt, schreibt der Linguist Daniel Bürkle von der University of Central Lancashire in England. Wenn in der Pubertät Kehlkopf und Stimmbänder wachsen, wird die Stimme tiefer. Im Alter verknorpelt die Stimmritze, Gewebe schwindet, Zähne gehen verloren, Rücken-, Atem- und Sprechmuskulatur leiern aus. Die Stimme wird schwieriger zu kontrollieren, sie klingt zittrig oder knarrt. Deswegen kann man aus der Stimme einer Person bis auf wenige Jahre genau auf ihr Alter schließen. Am besten funktioniert das, wenn sprechende und hörende Person ungefähr im gleichen Alter sind.

Der Zwischenstand: Geschlecht und Alter sind gut zu erkennen, die Körpergröße zumindest einigermaßen. Aber wie ist es mit Eigenschaften wie der Gefühlslage und der Persönlichkeit: Offenbaren sie sich ebenfalls in der Stimme?

»Wir erkennen sofort an der Sprechweise, ob jemand gerade eher froh, traurig, ängstlich oder ärgerlich ist – und zwar auch dann, wenn die Person uns über den Inhalt etwas anderes vormachen möchte«Walter Sendlmeier, Kommunikationswissenschaftler

Einer, der sich mit dieser und zahlreichen weiteren Fragen zur Wirkung von Stimmen seit Jahrzehnten beschäftigt, ist der Sprach- und Kommunikationswissenschaftler Walter Sendlmeier, bis Oktober 2020 geschäftsführender Direktor des Instituts für Sprache und Kommunikation an der TU Berlin. Sendlmeier sagt, die Stimme eines Menschen sei ungemein individuell. So individuell, dass wir vertraute Stimmen schon nach wenigen Silben erkennen, etwa am Telefon. Und er sagt: »Neben der bloßen Bestimmung der Identität eines Menschen lassen sich viele weitere Eigenschaften über diesen Menschen anhand der Stimme und der spezifischen Sprechweise ableiten.« Dazu zählen neben Alter und Geschlecht der Bildungsgrad, die regionale und die soziale Herkunft, die Gesundheit sowie die momentane Gemütslage.

Schon durch den ersten Höreindruck von Stimme und Sprechweise erhielten wir einen recht differenzierten Eindruck von einem Menschen. »Wir erkennen sofort an der Sprechweise, ob jemand gerade eher froh, traurig, ängstlich oder ärgerlich ist, und zwar auch dann, wenn die Person uns über den Inhalt etwas anderes vormachen möchte.« Mit Worten könnten Menschen sehr leicht lügen, sagt Sendlmeier. »Gefühlszustände und Charaktermerkmale sind sehr viel schwieriger im stimmlichen und sprecherischen Ausdruck zu verstellen.«

Und gelingt auch der Schluss auf die Persönlichkeit ? Tatsächlich können Menschen zumindest zwei der »Big Five«, der fünf großen Persönlichkeitsfaktoren, überzufällig gut anhand der Stimme einschätzen: Extraversion und emotionale Stabilität. Beide Persönlichkeitsdimensionen sind stärker ausgeprägt, je tiefer die Stimme ist. Und bei einer weiteren Eigenschaft, der Vertrauenswürdigkeit, sind sich die meisten zumindest recht einig in ihrer Einschätzung: Männer mit tieferer Stimme werden als vertrauenswürdiger wahrgenommen.

Die Psychologin Julia Stern von der Universität Bremen hat das mit Kollegen in einer Studie untersucht. »Mal angenommen, man telefoniert mit dem Bankberater und er empfiehlt, Geld in Fonds anzulegen, dann würden wir ihm eher vertrauen, wenn er eine tiefere Stimme hat«, sagt Stern. Doch wie die Studie auch belegt hat, gibt es zwischen Stimmhöhe und Ehrlichkeit eigentlich keinen Zusammenhang.

»Menschen mit tieferen Stimmen sind eher extravertiert, eher dominant und eher an kurzfristigen Liebesbeziehungen interessiert«Julia Stern, Psychologin

Was Partnerschaften angeht, bestätigten die Forschenden jedoch den spontanen Eindruck, den Stimmen wecken: »Gerade wenn es ums Fremdgehen geht, vertrauen wir jenen Männern eher, die eine höhere Stimme haben, und denken, dass Männer mit tieferen Stimmen eher fremdgehen«, sagt Stern. »Und da haben wir auch tatsächlich einen Zusammenhang gefunden: Menschen mit tieferen Stimmen haben häufiger angegeben, dass sie schon mal fremdgegangen sind.«

Über weitere Verbindungen berichteten Stern und ihr Team im Juni 2021 nach einer Analyse von Daten von mehr als 2000 Versuchspersonen. »Wir haben gesehen, dass es tatsächlich einen Zusammenhang zwischen verschiedenen Persönlichkeitseigenschaften und der Stimmtiefe gibt«, sagt Stern. »Menschen mit tieferen Stimmen sind eher extravertiert, eher dominant und eher an kurzfristigen Liebesbeziehungen interessiert.« Darüber hinaus werden Männer mit tieferen Stimmen als kompetenter wahrgenommen – zum Beispiel bei politischen Wahlen.

Politische Wahlen: Vorteil für tiefe Männerstimmen

Eine tiefe Tonlage hat auch im Wahlkampf ihre Vorzüge, wie der kanadische Psychologe David Feinberg demonstrierte. Er spielte Studierenden Aufnahmen ehemaliger US-Präsidenten vor – bislang durchweg Männer. Ihre Stimmen manipulierte er dabei so, dass sie teils in einer tieferen, teils in einer höheren Version zu hören waren. Die meisten Versuchspersonen hielten dieselben Kandidaten mit einer tieferen Stimme für dominanter, intelligenter, attraktiver und vertrauenswürdiger, und mehr als zwei Drittel wollten sie dann auch eher wählen. Ging es allerdings darum, Geld in einem Laborexperiment aufzuteilen, vertrauten weibliche Versuchspersonen eher einer höheren Stimme. Offenbar assoziierten sie eine tiefe Stimme mit Führungsstärke, aber nicht mit kooperativem Verhalten.

Konkurrieren ein Mann und eine Frau miteinander, sieht die Sache anders aus. Bei der Wahl der US-Abgeordneten 2012 galt: Trat ein Mann gegen eine weibliche Kandidatin an, war er mit höheren Frequenzen erfolgreicher. Ein Pluspunkt wäre eine tiefe Stimme demnach nur, wenn es im Wahlkampf Mann gegen Mann geht. Besonders vorteilhaft: eine tiefe Stimme mit häufigen Wechseln in der Stimmlage. Denn damit klingt der Sprecher nicht nur kompetent, sondern auch freundlich und enthusiastisch. (eli)

In Sachen Attraktivität unterscheiden sich die Urteile stark nach Geschlecht. Über verschiedene Kulturen hinweg empfinden Frauen bei Männern tiefe Stimmen als attraktiver, während Männer bei Frauen eher hohe Stimmen bevorzugen. Das lässt sich evolutionsbiologisch erklären: Tiefe Männerstimmen weisen auf einen höheren Testosteronspiegel hin. Der wiederum hängt mit einst vorteilhaften Eigenschaften wie Dominanz, Körperstärke und Gesundheit zusammen. Testosteron kann aber auch Nachteile mit sich bringen, wie gehäufte Untreue.

Bei Frauen kann die Stimmhöhe als Indikator für den Östrogenspiegel herhalten. Dieser steigt zum Eisprung hin an, parallel dazu wird die Stimme höher. Nach dem Eisprung sinkt der Östrogenwert, und die Stimme wird wieder etwas tiefer. Entsprechend stufen Männer die Stimmen von Frauen, die gerade ihren Eisprung haben, als attraktiver ein, während der Menstruation aber als weniger attraktiv. Anders gesagt: Tiefe Stimmen signalisieren bei Männern und hohe Stimmen bei Frauen einen erwartbaren Fortpflanzungserfolg.

Die Stimme und der Halo-Effekt

Klingt eine Stimme attraktiv, dann wird damit in der Regel auch ein hübsches Gesicht assoziiert. Und nicht nur das. Wer eine attraktive Stimme hat, dem werden noch weitere gute Eigenschaften zugeschrieben: stark und selbstbewusst zu sein, intelligent, freundlich, emotional stabil und sozial kompetent. Fachleute sprechen vom »vocal attractiveness stereotype«, einer Form des Halo-Effekts, bei dem ein positives oder negatives Urteil auf andere Eigenschaften ausstrahlt. Mit einer Ausnahme: wenn Männerstimmen extrem tief oder Frauenstimmen extrem hoch sind. Dann klingen sie in den meisten Ohren nicht mehr attraktiv.

Solche Assoziationen können natürlich in die Irre führen. Es gibt breitschultrige Hünen, die mit hoher Stimme sprechen, und zierliche Frauen mit Bärenstimme. Wenn also bei der nächsten Zugfahrt jemand laut telefoniert, dann einfach mal umschauen – und sich überraschen lassen.

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