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Atomkraft: Die Suche nach Wegen aus der Energiekrise

Erdgas ist teuer, der Ausbau der erneuerbaren Energien wurde verschleppt, Kohlekraftwerke sind extrem klimaschädlich. Kommt nun doch die Renaissance der Kernenergie?
Windkraft gegen Atomenergie
Da es in Deutschland zu wenig Windräder und Solaranlagen gibt, müssen die Atomkraftwerke in den Streckbetrieb.

Viele energiepolitische Diskussionen der letzten Wochen wirken vor dem Hintergrund ihres Auslösers befremdlich. Während in der Ukraine ein erbitterter Krieg tobt, wird hier zu Lande heftig darüber gestritten, ob es eine unerträgliche Zumutung darstellt, wenn die Raumtemperatur um ein oder zwei Grad heruntergedreht werden soll, ob öffentliche Gebäude noch beleuchtet und private Pools noch beheizt werden dürfen. Dabei hat Deutschland als großes und industriell starkes zentraleuropäisches Land noch zahlreiche Hebel, um seine Versorgung mit Primärenergie vielseitiger zu gestalten als etwa die meisten osteuropäischen Länder.

Dort, aber auch in Frankreich und Großbritannien, wird immer noch auf die Kernenergie gesetzt. Während teils sogar neue Meiler in Planung sind, sollten in Deutschland die verbliebenen drei Atomkraftwerke (AKWs) Ende dieses Jahres vom Netz genommen werden. Dass nun ausgerechnet der grüne Energieminister Robert Habeck nach einem Machtwort von Bundeskanzler Olaf Scholz alle drei länger als geplant in Streckbetrieb nehmen muss, zeigt: Die Stresstests der Übertragungsnetzbetreiber lassen keine andere Wahl. Falls sich die Gasspeicher im Winter leeren und andere europäische Länder nicht einspringen können, droht bei ungünstigen meteorologischen Verhältnissen tatsächlich Energieknappheit. In Frankreich etwa fällt derzeit rund die Hälfte der 56 Atomkraftwerke aus – Grund sind zahlreiche geplante und ungeplante Wartungen.

War es also ein Fehler, gerade jetzt aus der Kernenergie auszusteigen? Schließlich wurden die zahlreichen AKW-Neubauten in den 1970er und 1980er Jahren – nicht nur in Deutschland, sondern weltweit – von der Ölpreiskrise befeuert, um unabhängiger von den teuren Öl- und Gasimporten aus den OPEC-Ländern zu werden. Haben wir diesen Trumpf zum absolut falschen Zeitpunkt aus der Hand gegeben?

Der Krieg deckt die energiepolitischen Versäumnisse der Vergangenheit auf und erhöht den Druck, so schnell wie möglich die Energiewende zu schaffen. So waren die Beschlüsse der rot-grünen Bundesregierung vor 20 Jahren teils viel zu zaghaft und nicht ausreichend darauf ausgerichtet, eine technologiestarke, nachhaltige Energielandschaft zu etablieren. Die darauf folgenden Bundesregierungen unter der Führung von Angela Merkel haben die Energiewende völlig verschleppt – nicht zuletzt auch, um die Interessen der Industrie und der großen, fossil orientierten Energiekonzerne zu bedienen.

Deutschland gehört heute weltweit zu den Ländern mit den höchsten Strompreisen und hat dennoch einen sehr hohen Pro-Kopf-Ausstoß an Treibhausgasen. Außerdem hat sich Deutschland vor allem beim Erdgas extrem abhängig gemacht von russischen Importen, wozu nicht zuletzt die Lobbyarbeit des ehemaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder sowie zahlreiche wirtschaftliche Verstrickungen führender Politikerinnen und Politiker der großen Parteien beigetragen haben. Es stellt ein schlimmes Versagen des politischen und des Wirtschaftsjournalismus hier zu Lande dar, nicht schon viel länger mit äußerster Dringlichkeit auf all diese Punkte hingewiesen zu haben.

Erdgas ist bislang unentbehrlich

Damit nicht plötzlich der Strom ausfällt oder die Gasversorgung abreißt, ist ein ausreichend großer Vorrat an Primärenergieträgern notwendig. Sowohl als Rohstoff in der chemischen Industrie als auch als Energieträger für die Beheizung von Wohnungen ist Erdgas bislang unentbehrlich. Dies konkurriert jedoch mit dem Einsatz von Erdgas in Gaskraftwerken zur Stromversorgung. Deutschland hat in den vergangenen Jahren den Großteil seiner Erdgasimporte per Pipeline aus Russland bezogen. Pipeline-Gas hat mehrere Vorteile: Es ist leicht in großen Mengen zu transportieren sowie deutlich umweltfreundlicher und billiger als Flüssiggas, das aufwändig komprimiert und per Tankschiff über die Ozeane transportiert werden muss. Mittlerweile kommt es in Europa schon zum Wettbewerb, wer nun mehr norwegisches oder niederländisches Gas über bestehende Pipelines einkaufen kann.

Die natürlichen Fluktuationen von Wind- und Solarstrom sind gut mit schnell regelbaren Gaskraftwerken aufzufangen. Kohle- und vor allem Kernkraftwerke lassen keine so schnellen Lastwechsel zu. Somit ist Gas eine gute Ergänzung zu erneuerbaren Energiequellen. Um wiederum Gas zu sparen, das gebraucht wird, um Wohnungen zu heizen, dürften in den kommenden Monaten jedoch zahlreiche Kohlekraftwerke auf vollen Touren laufen. Allerdings emittiert Kohle pro erzeugter Kilowattstunde Strom ungefähr doppelt so viel Kohlendioxid wie Erdgas. Das wiederum steht in scharfem Kontrast zu den Klimazielen: Laut einer neuen Studie werden die G7-Länder ihre selbst gesteckten Klimaziele massiv verfehlen und an Stelle der in Paris vereinbarten 1,5 Grad auf eine Klimaerwärmung von 2,7 Grad zusteuern. Ein katastrophales Szenario, das um jeden Preis vermieden werden sollte.

Wie also lässt sich in diesen angespannten Zeiten das Stromnetz stabilisieren, wenn die gefürchtete Dunkelflaute kommt und die Wind- und Solarstromerzeugung gleichzeitig einbricht?

Die Entscheidung, die Atomkraftwerke Isar 2 und Neckarwestheim 2 und auch Emsland bis 15. April 2023 in Streckbetrieb zu halten, zeigt, dass trotz des Willens zum Atomausstieg weiterhin heftige Bedenken bestehen, ob die Versorgung im kommenden Winter gewährleistet werden kann. Zwei der Reserve-AKWs stehen in Bayern und Baden-Württemberg und damit im Süden der Republik, weit weg von den Windrädern im Norden. Um den dort erzeugten Atomstrom zu kompensieren, müsste die Windenergie durch ein Stromnetz in Richtung Süden transportiert werden, das nur unzureichend für so hohe Lasten ausgelegt ist. Die Sabotage des Windkraftausbaus durch die bayerische Landesregierung, die jahrelang neue Windräder im Freistaat verhindert hat, und der verschleppte Bau einer Nord-Süd-Stromtrasse sind dafür verantwortlich, dass der Reserveeinsatz der beiden AKWs nun notwendig wird. Dabei handelt es sich zunächst nicht um eine Laufzeitverlängerung: Neue Brennelemente sollen nicht geliefert werden, nur die bereits im Reaktor befindlichen Stäbe bei Bedarf im so genannten Streckbetrieb bis zuletzt genutzt werden.

Uran wird in den Gebieten indigener Völker gewonnen, die von den Profiten wenig, von den Umweltschäden aber reichlich abbekommen

»Die noch laufenden Kernkraftwerke waren ursprünglich für eine Betriebszeit von 40 Jahren ausgelegt«, sagt Uwe Stoll von der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit. Das aktuell geltende Atomgesetz schreibt eine Abschaltung der drei noch laufenden Kraftwerke nach 33 beziehungsweise 34 Jahren vor. Im regulären Betrieb sind wiederkehrende Prüfungen am Reaktor und anderen sicherheitsrelevanten Anlagenteilen vorgesehen. Da die laufenden Reaktoren diese Prüfungen bestanden haben, spricht aus Sicht von Stoll nichts gegen einen Streckbetrieb. Sollte sich jedoch herausstellen, dass man über die Reservezeit hinaus die Laufzeit der Reaktoren verlängern muss, dann dürfe das nicht auf Kosten der Sicherheit gehen, sagt der Kerntechnikexperte.

Nun hat die Kernenergie allerdings mit einigen grundsätzlichen Problemen zu kämpfen. Das fängt an bei der Versorgung der Kraftwerke mit dem Brennstoff Uran. Das radioaktive Metall wird zu gut zwei Dritteln in den Gebieten indigener Völker gewonnen, die von den Profiten wenig, von den Umweltschäden aber reichlich abbekommen. Kernkraftwerke sind zudem nirgends auf der Welt gegen katastrophale Unfälle versichert. Eventuelle Schäden trägt die Gesellschaft – insbesondere die betroffenen Anwohner. Und am Ende der Brennstoffkette steht hochradioaktiver Atommüll, der für Millionen Jahre sicher von der Biosphäre abgeschlossen werden muss. Das wirft zahlreiche, bislang ungelöste technische und auch ethische Fragen auf.

Der ökologische Fußabdruck eines Atomkraftwerks wird besser, je länger es läuft

Die Kernenergie hat jedoch den Vorteil gegenüber der Kohlekraft, im Betrieb kaum Treibhausgase zu verursachen. Ein guter Teil des über den gesamten Lebenszyklus gerechneten ökologischen Fußabdrucks – abgesehen von den erwähnten Problemen bei der Urangewinnung und der Entsorgung des Atommülls – stammt von den großen Mengen an Beton und Stahl, die in einem Atomkraftwerk stecken. Da dies eine einmalige Investition ist, wird der Fußabdruck sogar besser, je länger ein Atomkraftwerk läuft. Eine vorzeitige Abschaltung verschlechtert die Bilanz. Das erklärt auch, warum viele Staaten derzeit über Laufzeitverlängerungen nachdenken: Notwendige Nachrüstungen und Investitionen in die Sicherheit sind wesentlich schneller und günstiger zu haben als ein Neubau. Zahlreiche Neubauprojekte der letzten Jahre haben mit massiven Verspätungen und deutlich gestiegenen Kosten zu kämpfen. Experten vermuten, dass bei vielen dieser Projekte weltweit auch das Streben nach gegebenenfalls militärisch umsetzbarer Nukleartechnologie eine Rolle gespielt hat, so dass die Kostenfrage zweitrangig war.

Gesellschaftliche Unruhen befürchtet

Deutschland steckt gegenwärtig in einer Zwickmühle. Bei einem starken Einbruch der Energieversorgung ist wirtschaftlich mit einer Rezession und vielleicht auch mit gesellschaftlichen Unruhen zu rechnen. In Tschechien gab es bereits eine große Demonstration gegen die gestiegenen Energiepreise. Dazu kommen die Konflikte mit den europäischen und deutschen Klimazielen, die über internationale Abkommen, nationale Gesetze und den Emissionshandel festgelegt sind.

»Deutschland kann die für das Jahr 2030 angestrebten Klimaziele voraussichtlich nur erreichen, wenn die erneuerbaren Energien in kürzester Zeit sehr stark ausgebaut werden«, erklärt Cyril Stephanos, Leiter der Koordinierungsstelle Energiesysteme der Zukunft bei acatech, der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften. »Das zeigen Rechnungen, die das Energiewirtschaftliche Institut an der Universität zu Köln (EWI) für uns durchgeführt hat.« Dazu müsste laut Umweltbundesamt der jährliche Zubau von Solaranlagen bis 2030 um ein Vielfaches von derzeit 5 Gigawatt auf bis zu 20 Gigawatt und der von Windkraftanlagen von derzeit knapp 2 Gigawatt auf bis zu 15 Gigawatt steigen.

Für den kommenden Winter heißt es deshalb zunächst einmal: Energie sparen. Dann kommen wir vielleicht noch einmal ohne größere Einbußen davon. Mittel- bis langfristig wird Deutschland Gas importieren müssen. Es besteht allerdings die Möglichkeit, die Versorgungssicherheit zu erhöhen, wenn mehrere europäische Nationen an einem Strang ziehen: Bislang ist Deutschland auf Gasimporte der Nachbarländer angewiesen, weil es selbst keine Flüssiggas-Terminals besitzt und diese erst noch errichtet. Als zentrales Land in Europa mit großen Gasspeichern und einem umfassenden Pipeline-Netz kann es diese Speicher- und Transportkapazitäten aber seinen Nachbarn anbieten. »Die Energiediskussion wird leider nicht nur in Deutschland sehr national geführt«, sagt Cyril Stephanos. »Um die Versorgungssicherheit europaweit zu gewährleisten und gleichzeitig dafür zu sorgen, dass die Energiepreise nicht weiter ansteigen, ist jedoch ein gemeinsames europäisches Vorgehen notwendig.«

Deutschland wird jedenfalls in den nächsten Jahren – ob mit den drei Reserve-AKWs oder ohne sie – massiv von der Kohleverstromung abhängig sein, von der wir uns aus Klimaschutzgründen eigentlich schleunigst verabschieden sollten. Der Klimawandel gefährdet die Kohlekraft sogar direkt: Lang anhaltende Dürre sorgt für niedrige Flusspegel, was einerseits den Kohletransport per Schiff und andererseits die Kühlwasserversorgung der Kraftwerke beeinträchtigt.

Kohleausstieg bis 2030 weiterhin machbar

»Die Rechnungen des EWI zeigen, dass außerdem die Energiepreise verglichen mit den Jahren vor 2021 mittel- und langfristig auf einem hohen Niveau bleiben könnten«, erläutert Stephanos. Deshalb ist es umso wichtiger, dass die heutigen Weichenstellungen in der Energiepolitik mit Weitsicht und technologischem Sachverstand geführt werden. Dazu wird die Politik auch wachsendem gesellschaftlichem Druck standhalten müssen.

»Nach den Berechnungen des EWI wäre ein Kohleausstieg bis zum Jahr 2030 grundsätzlich machbar«, sagt Stephanos. Dafür müssten jedoch weitere Gaskraftwerke gebaut werden. Diese wären nur phasenweise in Betrieb. Gleichzeitig wäre es wichtig, dass die neuen Kraftwerke auch mit grünem Wasserstoff betrieben werden können, um den Übergang in eine klimaneutrale Energieversorgung zu ermöglichen. Da unter den aktuellen Gegebenheiten jedoch kaum ein Konzern in Gaskraftwerke investieren dürfte, müsste der Ausbau stark von der Politik vorangetrieben werden. Dafür wären – genau wie für den Ausbau der Erneuerbaren – hohe Investitionen notwendig.

Deutschland kann seinen Nachbarländern nicht vorschreiben, auf welche Weise sie sich mit Energie zu versorgen haben. Von der Treibhausgasbilanz her steht Deutschland bislang schlechter da als viele andere, insbesondere osteuropäische, Staaten. Man kann lange darüber debattieren, ob es klimapolitisch besser gewesen wäre, erst die Kohle- und dann die Kernkraftwerke abzuschalten. Aber gerade in schwierigen Situationen wie jetzt müssen nüchtern die Optionen betrachtet werden. Eine ernsthaft vorangetriebene, forschungs- und technologiestarke Energiewende ist – mit 20 Jahren Verspätung! – endlich im Gang und kann in Partnerschaft mit anderen Ländern zu neuen Lösungen führen.

(Anm. d. Red.: Der Artikel wurde am 25. Oktober 2022 bezüglich der Entscheidung von Bundeskanzler Olaf Scholz aktualisiert, drei AKW in Streckbetrieb weiterzubetreiben.)

Zum Weiterlesen: Wer sich tiefer mit den naturwissenschaftlich-technischen Grundlagen der Kernenergie und ihren gesellschaftlichen Konfliktfeldern beschäftigen möchte, findet verständlich aufbereitete Informationen in den beiden Büchern von Dirk Eidemüller »Nuclear Power Explained« (2021) und »Das Nukleare Zeitalter – von der Kernspaltung bis zur Entsorgung« (2012).

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