News: Die verborgene Symmetrie von Flüssigkeiten
In Flüssigkeiten ballen sich die Atome ähnlich eng aneinander wie in Kristallen – ihre Dichte ist deshalb annähernd gleich. Im Unterschied zu Kristallen besitzen Flüssigkeiten jedoch keine vorgegebene feste Form und sind hochbeweglich. Könnte man die Atome in der Flüssigkeit direkt sichtbar machen, würde man beobachten, dass sie keine periodische Anordnung ausbilden und sich ständig neu anordnen. Dieser Prozess läuft in weniger als einer Pikosekunde ab – in dieser Zeit durchquert Licht gerade einmal die Dicke eines Haares. Hat die Natur in Flüssigkeiten tatsächlich keine Symmetrie eingebaut? Was ist ihr Bauprinzip?
Wissenschaftler haben sich deshalb schon seit längerem gefragt, zu welchen Strukturen man gelangen würde, wenn man gleiche Kugeln lokal möglichst eng zusammenpackt. Bei ihren Modellierungen fanden sie eine überraschende Antwort: Nicht Würfel oder Sechsecke, sondern fünfeckige Gebilde, erlauben in Flüssigkeiten eine idealere Anordnung der Atome als im symmetrischen Bauplan eines Kristalls. Dies legte bereits vor mehr als fünfzig Jahren die Vermutung nahe, dass Flüssigkeiten aus lokalen Strukturen bestehen könnten, die diese "verbotene" fünfzählige Symmetrie aufweisen. Doch bisher war es nicht möglich, diese Gebilde direkt nachzuweisen. Sie entstehen und vergehen innerhalb der bereits erwähnten extrem kurzen Zeitabstände und galten bisher als eine "verborgene Symmetrie" in der Natur.
Mit einem komplizierten Experiment konnten Harald Reichert und seine Kollegen am Max-Planck-Instituts für Metallforschung erstmals nachweisen, dass Flüssigkeiten tatsächlich aus fünfzähligen atomaren Strukturen aufgebaut sind (Nature vom 14. Dezember 2000). Die grundlegende Idee des Experiments war jedoch recht einfach: Gelingt es, einen Teil der hochbeweglichen Gebilde innerhalb der Flüssigkeit räumlich orientiert festzuhalten, ohne die Flüssigkeit zu zerstören, dann müsste sich die verborgene fünffache Symmetrie durch eine Röntgenstrukturanalyse direkt nachweisen lassen. Die Stuttgarter Forscher nutzten in ihren Versuchen geschmolzenes Blei. Der entscheidende Trick bestand darin, die vermuteten Blei-Fünfecke an einer Kristalloberfläche einzufangen und auszurichten. Dazu diente eine von Verunreinigungen vollständig gesäuberte Silizium-Oberfläche.
Im Experiment richteten die Forscher einen energiereicher Röntgenstrahl durch das Silizium hindurch genau auf die Grenzfläche zwischen dem flüssigen Blei und dem kristallinen Silizium, wo er reflektiert wird. Durch einen optischen Trick erzeugten die Wissenschaftler einen zusätzlichen Teststrahl, der nur wenige Millionstel Millimeter in das flüssige Blei eindrang, es gewissermaßen "tunnelte" und an den Bleiatomen gestreut wurde. Die genaue Analyse der Röntgenstreuverteilung der Schicht aus flüssigem Blei ergab tatsächlich eine fünfzählige Symmetrie der Flüssigkeit an der Grenzfläche.
Eine ausreichende Intensität eines derartig fein fokussierten Strahls lässt sich nur mit Hilfe laserartig gebündelter Röntgenstrahlung erzielen, wie sie modernste Synchrotronstrahlungsquellen liefern. Bei einem Synchrotron handelt es sich um gigantische Vakuumröhren, in denen Elektronen mit nahezu Lichtgeschwindigkeit durch regelmäßig angeordnete Magnete hindurch fliegen. Von diesen Magnetstrukturen abgelenkt, geben die Elektronen einen Teil ihrer Bewegungsenergie in Form von Röntgenlicht ab, das in einem laserartig gebündelten Strahl austritt. Wegen ihrer einzigartigen Eigenschaften setzen Wissenschaftler diese Strahlung heute zur Untersuchung einer Vielzahl von Fragestellungen in der Forschung ein. Die Stuttgarter Forscher nutzten für ihre Experimente den Elektronenspeicherring Doris in Hamburg sowie das European Synchrotron Radiation Facility in Grenoble.
Die Beobachtung einer lokalen fünfzähligen Symmetrie in einfachen Flüssigkeiten wie Blei hat tiefergehende Bedeutung für das Verständnis der Stabilität von Festkörpern. Die Experimente zeigen zum ersten Mal direkt, dass Kristalle und Flüssigkeiten strukturell nicht miteinander verwandt sind. Außerdem muss sich beim Gefrieren erst die im Kristall "verbotene" fünfzählige Symmetrie auflösen, bevor das Kristallwachstum einsetzen kann. Diese "Gefrierbarriere" bewirkt, dass Flüssigkeiten zum Teil erst erheblich unter den Gefrierpunkt erstarren – eine Erfahrung, die wir auch aus dem Alltag kennen, wie beim gefürchteten Eisregen.
Umgekehrt lassen sich mit dem Wissen über innere Strukturen in Flüssigkeiten auch die Eigenschaften von Gläsern erklären: Wandelt man unterkühlte Flüssigkeiten in Festkörper um, brechen die lokalen Flüssigkeitsstrukturen nicht mehr auf. Es bildet sich ein nichtkristallines Netzwerk, eine so genannte amorphe Struktur. Mit weiteren Untersuchungen der lokalen Flüssigkeitsstruktur an Grenzflächen wollen die Forscher noch tiefere Einblicke in die Bildung von kristallinen und amorphen Festkörpern gewinnen.
Siehe auch
- Spektrum Ticker vom 10.3.2000
"Teufelstreppe aus Wasser und Seife"
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