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Tropenkrankheiten: Die vergessenen Seuchen

Millionen Menschen leiden unter tropischen Infektionskrankheiten, um die sich die großen Pharmaunternehmen kaum kümmern. Eine Initiative will das ändern.
Aedes ägypti Mücke überträgt Dengue-Fieber

Chagas-Krankheit, Leishmaniose, Afrikanische Schlafkrankheit – Millionen Menschen leiden unter einer dieser tropischen Infektionskrankheiten, und dennoch haben Pharmafirmen und staatliche Gesundheitssysteme die Seuchen jahrzehntelang praktisch ignoriert. Die DNDi (Drugs for Neglected Diseases initiative) bringt seit acht Jahren Regierungen und Firmen, Forscher und Stiftungen an einen Tisch, um die Entwicklung neuer Wirkstoffe anzustoßen. Auf dem Berliner World Health Summit 2011 befragte "Spektrum der Wissenschaft" den Präsidenten der DNDi, Bernard Pécoul, zu den Bemühungen und Erfolgen der Organisation.

Spektrum: Herr Dr. Pécoul, warum werden vergleichsweise häufige Krankheiten wie Leishmaniose oder Chagas-Krankheit von Forschern vernachlässigt?

Aus Spektrum der Wissenschaft 01/2012

Bernard Pécoul: Solche "Neglected Diseases" sind zwar in der Tat recht verbreitet, aber aus betriebswirtschaftlicher Perspektive lohnt sich die Entwicklung von Medikamenten für Pharmafirmen nicht. Das liegt daran, dass die überwiegende Mehrheit der Patienten in wirtschaftlich schwachen Ländern lebt, in Entwicklungsländern. Aber auch in Schwellenländern wie Indien sind die Erkrankungen verbreitet, wobei dort die Betroffenen meist armen Schichten zugehören. Es handelt sich vor allem um Infektionskrankheiten, die noch immer die wichtigste Ursache für die hohe Sterblichkeit der Ärmsten der Welt darstellen.

Und das nur, weil der Absatzmarkt für solche Medikamente fehlt?

Bei den vernachlässigten Krankheiten hat sowohl der private als auch der öffentliche Sektor versagt. Es wäre zu einfach, nur die Pharmafirmen zu beschuldigen, dass sie nicht investieren, denn diese müssen auf Refinanzierung achten. Die Firmen werden daher erst unter Führung oder auch auf Druck der öffentlichen Hand aktiv. Das bedeutet nicht, dass neue Medikamente oder Impfstoffe in Zukunft in staatlichen Forschungsinstituten entwickelt werden müssten. Aber es gilt, den Entwicklungsprozess zu stimulieren, Prioritäten zu setzen und Rahmenbedingungen sowie Anreize zu schaffen.

Kommen denn solche Krankheiten in Europa überhaupt nicht vor?

Bernard Pécoul | Dr. Bernard Pécoul war nach Abschluss seines Medizinstudiums an Gesundheitsprojekten für Flüchtlinge in Asien beteiligt und trat 1983 den "Ärzten ohne Grenzen" bei, deren französische Abteilung er von 1991 bis 1998 leitete. Seit ihrer Gründung 2003 steht er der "Drugs for Neglected Diseases initiative" (DNDi) mit Sitz in Genf vor.

Doch. Ich zähle auch Malaria und Tuberkulose zu den Neglected Diseases, denn die große Mehrzahl der Patienten ist in Entwicklungsländern zu finden. Nichtsdestotrotz gibt es auch in Europa Fälle. Darüber hinaus sind wir hier ja mit einem globalen Gesundheitsproblem konfrontiert. Denn wenn wir zum Beispiel nicht die Tuberkulose in Afrika oder Russland angehen und neue Medikamente gegen diese Bakterien entwickeln, die teilweise schon gegen alle vorhandenen Antibiotika resistent sind, dann werden in ein, zwei Jahrzehnten Deutschland und andere europäische Länder das Problem selbst haben.

Vernachlässigte Krankheiten betreffen Millionen Menschen. Aber auch für Patienten mit seltenen Erbkrankheiten stehen oft keine Medikamente zur Verfügung.

Solche so genannten Orphan Diseases, was so viel wie verwaiste Krankheiten bedeutet (in Deutschland heißen sie seltene Krankheiten), sind ähnlich benachteiligt wie die Neglected Diseases: Auch hier fehlen Investitionen in Forschung und Entwicklung von Medikamenten.

Für die Orphan Diseases gewähren die USA und auch Europa ein beschleunigtes Zulassungsverfahren und verlängerten Patentschutz als Anreiz für die Firmen, in die Entwicklung solcher Medikamente zu investieren. Braucht es solche Werkzeuge auch für Neglected Diseases?

Vielleicht. Ich habe selbst einige Zeit lang untersucht, ob der Orphan Drug Act auch die Entwicklung von Arzneien gegen vernachlässigte Krankheiten fördern kann. Da eine Krankheit wie Malaria in Europa und den USA nur wenige Reisende betrifft, könnte sie insofern als seltene Erkrankung im Sinne des Gesetzes gelten, selbst wenn sie in Afrika sehr häufig ist. Aber wir brauchen mehr als das, wir müssen bessere internationale Rahmenbedingungen schaffen. Das Mandat für derartige Schritte liegt bei der Weltgesundheitsorganisation WHO.

Liegen die Ideen für neue Medikamente gegen Neglected Diseases denn schon auf der Hand und müssten nur noch umgesetzt werden, oder sind diese Krankheiten bisher nicht ausreichend erforscht?

Verbreitung der Chagas-Krankheit | Der Parasit Trypanosoma cruzi verursacht die Chagas-Krankheit, die in Lateinamerika endemisch ist.

Wir müssen unterscheiden zwischen der Grundlagenforschung und der klinischen Forschung, die Ideen aus der Grundlagenforschung testet und daraufhin Medikamente entwickelt. Bei den meisten Neglected Diseases gibt es eine gute Forschungsgrundlage.Was fehlt, ist die Umsetzung dieser Forschungsergebnisse in Produkte, in Therapien. Das ist traditionell die Rolle von Pharmafirmen, doch bislang fehlten die Anreize für die Firmen, sich in diesem Feld zu engagieren. Insbesondere gilt das für Leishmaniose und Schlafkrankheit, die im Grunde komplett ignoriert werden.

Organisationen wie die GAVI (Global Alliance for Vaccines and Immunisation) Foundation versuchen, diese Anreize zu schaffen, indem sie mit Hilfe von Stiftungen und Abkommen mit den Regierungen der bedürftigen Länder einen zwar nicht großen, dafür aber sicheren Absatzmarkt garantieren. Damit wird das Investitionsrisiko bezüglich Impfstoffproduktionsanlagen für die Firmen kalkulierbar. Funktioniert Ihr Engagement für Neglected Diseases nach dem gleichen Prinzip?

Wenn man die Medikamentenentwicklung fördern will, kann man – bildlich gesprochen – den Karren anschieben oder ziehen. Experten sprechen hier von Push- und Pull-Mechanismen. GAVI versucht die Unternehmen auf einen Markt zu "ziehen", den sie durch Verhandlungen mit den Regierungen sowie mit Finanzhilfen der Bill & Melinda Gates Foundation schafft. So kann eine Pharmafirma sicher sein, dass ihr über einen bestimmten Zeitraum eine festgelegte Menge an Impfstoff abgenommen wird. Damit wird das Risiko der Investition in die Entwicklung und Produktion von Impfstoffen absehbarer. DNDi arbeitet eher im "Push"-Modus: Wir stoßen die Entwicklung neuer Medikamente selbst an, allerdings nicht auf Ebene der Grundlagenforschung. Wir steigen erst ein, wenn wir einen Wirkstoffkandidaten gefunden haben, der in vorklinischen Tests ein gewisses Erfolgspotenzial offenbart hat.

Wie erfahren Sie denn überhaupt von solchen möglichen Wirkstoffen? Meist sind das doch sehr vertrauliche Daten, die die Pharmafirmen sorgsamst vor fremden Augen hüten.

Zum einen natürlich aus den öffentlich zugänglichen Forschungsarbeiten, vor allem aber sprechen wir mit Grundlagenforschern und Pharmaforschungsexperten und nutzen deren Netzwerke. Im Fall von Fexinidazol, unserem Wirkstoffkandidaten gegen die Schlafkrankheit, informierte uns ein Wissenschaftler, dass die Firma Hoechst Marion Roussell (heute Teil von Sanofi Pasteur) in den 1980er Jahren an der Substanz gearbeitet, sie dann aber fallen gelassen hatte. Das Anzapfen dieses Netzwerks funktioniert ziemlich gut. Daneben organisieren wir auch systematische Untersuchungen der Substanzbibliotheken der großen Pharmafirmen. Über den Zugang zu diesen Sammlungen müssen wir mit den Firmen verhandeln.

Normalerweise hüten sich die Pharmafirmen, anderen Zugang zu ihren Substanzbibliotheken zu gewähren, damit ihnen kein lukrativer Wirkstoff weggeschnappt wird. Ist es nicht an der Zeit, eine öffentlich zugängliche Wirkstoffsammlung zu schaffen?

Verbreitung der Schlafkrankheit | Die Afrikanische Schlafkrankheit wird von dem Parasiten Trypanosoma brucei verursacht, der durch Stiche der Tsetsefliege übertragen wird. In West- und Zentralafrika dominiert die Subspezies T. b. gambiense, in Ostafrika T. b. rhodesiense (schwarze Trennungslinie).

Das ist tatsächlich gerade ein heißes Thema. In Genf ist kürzlich eine Initiative der WIPO, der World Intellectual Property Organization, ins Leben gerufen worden, die eine Substanzbibliothek für Neglected Diseases schaffen soll, Re:Search genannt. Ein ähnliches Projekt hatte GlaxoSmith-Kline vor einiger Zeit gestartet, doch jetzt sollen die Informationen von acht großen Pharmafirmen und öffentlichen Forschungsinstituten zusammengeführt und allgemein zugänglich gemacht werden. DNDi ist dieser Initiative beigetreten, weil das grundsätzlich eine gute Sache ist. Sie hat aber leider eine wichtige Einschränkung. Wenn DNDi über den Zugang zur Substanzbibliothek einer Pharmafirma verhandelt, dann stellen wir sicher, dass wir die volle Handlungsfreiheit haben, wenn wir einen Wirkstoff finden. Und zwar in allen Ländern, in denen die Krankheit endemisch ist. Die Initiative der WIPO gewährt dies nur für Patienten in den ärmsten Entwicklungsländern. Und das muss absolut nicht identisch mit der geografischen Verbreitung von Erkrankungen wie Chagas oder Schlafkrankheit sein.

Können Sie an einem Beispiel erläutern, wie DNDi neue Wirkstoffe gegen Neglected Diseases entwickelt?

Bei der Schlafkrankheit beispielsweise gab es eine sehr schlechte Ausgangslage und dringenden Handlungsbedarf: Das vorhandene Medikament Melarsoprol, ein Arsenderivat, tötet etwa jeden 20. Patienten! In bereits vorhandenen Forschungsergebnissen zur Schlafkrankheit fanden wir eine Substanz, die von Bayer entwickelt worden war (Nifurtimox), sowie eine andere Substanz von Sanofi (Eflornithin), die beide in Tests eine gewisse Wirkung gegen den Parasiten gezeigt hatten. Wir beschlossen, die zwei Wirkstoffe zu kombinieren und in klinischen Studien zu testen. Die Ergebnisse präsentierten wir der WHO, die daraufhin den Einsatz des Kombinationspräparats empfahl.

Wie sieht es bei der Chagas-Krankheit aus?

Es gibt eine Therapie für die frühe akute Phase, aber nicht für die darauf folgende chronische, unter der die meisten Patienten leiden, weil die akute Phase schwierig zu diagnostizieren ist. Die Herausforderung besteht darin, ein Mittel zu entdecken, das noch in der frühen chronischen Phase wirkt. Genau so eine Wirkstoffklasse haben wir gefunden, so genannte Azole. Die Verhandlung mit Schering-Plough, wo Forscher solche Azole entwickelt haben, scheiterten zwar zunächst. Aber die japanische Firma Eisai hat zugestimmt, ihr Azol E1224 für von Chagas betroffene Länder zum Selbstkostenpreis zu produzieren. Inzwischen gehört Schering-Plough zur US-amerikanischen Firma Merck, die ihre Azole derzeit testet und die Resultate dann mit unseren vergleichen wird. Sollte das Merck-Produkt besser abschneiden, ist bereits eine Übereinkunft mit DNDi angekündigt. Diese Offenheit innerhalb und zwischen diesen Produktentwicklungspartnerschaften kommt im pharmazeutischen Geschäft sonst nicht vor und ist nur möglich, weil die Märkte in den Entwicklungsländern keine Bedeutung für die Bilanzen haben.

Können Sie auch noch von anderen Fällen berichten, bei denen Sie solch ungewöhnlicher Offenheit begegneten?

Unser bester Wirkstoffkandidat gegen Leishmaniose kommt zum Beispiel von einer Produktentwicklungspartnerschaft namens TB Alliance. Die Kollegen haben uns alle Informationen zugänglich gemacht, die sie beim Durchsuchen einer Substanzbibliothek nach Medikamenten gegen Tuberkulose gesammelt hatten. Wir testeten einige der Moleküle, die sich dabei als wirksam herausgestellt hatten, auch mit dem Leishmanioseerreger und identifizierten so den bislang potentesten Wirkstoff gegen diese Krankheit. Wir haben also von den Bemühungen anderer profitiert – das wäre in der klassischen Medikamentenentwicklung, in der Pharmafirmen in ständiger Konkurrenz zueinander stehen, nie vorgekommen.

Wie sorgen Sie dafür, dass der Preis des Medikaments am Ende nicht zu hoch für die Länder beziehungsweise die Patienten ist?

Wenn wir mit einer Pharmafirma Absprachen treffen, stellen wir immer zuerst den uneingeschränkten Zugriff auf die Arznei sicher. Dazu gehört auch das Aushandeln der Preiskonditionen: Kosten deckend plus eine geringe Gewinnmarge – etwa vergleichbar mit dem Geschäft mit Nachahmerpräparaten (Generika). Da wird zwar Geld verdient, aber nicht so viel, wie nötig wäre, um die Neuentwicklung des Medikaments zu refinanzieren. Und in unserem Fall trägt DNDi die Entwicklungsinvestitionen, zum Beispiel die Kosten für die teuren klinischen Studien.

Woher bekommt DNDi das Geld dafür?

Die eine Hälfte stammt aus dem öffentlichen Sektor, zum Beispiel von der spanischen Regierung und hoffentlich auch bald der deutschen. Die andere Hälfe stemmen Stiftungen wie der Wellcome Trust oder die Gates-Stiftung. Wir möchten innerhalb von 15 Jahren 13 Behandlungsoptionen für Patienten mit Neglected Diseases schaffen, mit einem Budget von rund 550 Millionen Dollar (400 Millionen Euro), also weniger als 50 Millionen pro Medikamentenentwicklung – was vergleichsweise sehr wenig ist.

Eine ketzerische Frage: Warum sollten die Firmen überhaupt etwas verdienen, wenn DNDi das ganze Risiko der Wirkstoffentwicklung schultert?

Wir wollen eine nachhaltige Versorgung mit den entwickelten Medikamenten garantieren und sicherstellen, dass die Firmen mit Produktion, Verteilung und Verkauf einer erfolgreichen Arznei fortfahren, wenn die Zusammenarbeit mit DNDi ausläuft. Dazu bieten wir einen Anreiz. Außerdem müssen die Pharmafirmen durchaus in Labor- und Produktionsanlagen investieren, um ihren Teil der Vereinbarung mit DNDi zu erfüllen. Dennoch ist es richtig, dass die Firmen kein übermäßig großes Risiko eingehen. Aber genau deshalb arbeiten auch viele Pharmafirmen mit uns zusammen.

Herr Pécoul, wir danken Ihnen für das Gespräch.

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