News: Die Verlängerung der Langlebigkeit
Seit 1950 gibt es einen erheblichen, weitgehend unerklärten Rückgang der menschlichen Sterblichkeit im höheren Alter. Die Rate des Rückgangs hat sich besonders seit 1970 in den meisten Industrieländer beschleunigt. 1990 gab es ungefähr vier- bis fünfmal so viele Hundertjährige in diesen Ländern, als es gegeben hätte, wenn die Sterblichkeit der mehr als 80jährigen auf dem Niveau von 1960 geblieben wäre. Im Alter von mehr als 80 Jahren nehmen die Todesraten mit einer langsamer werdenden Geschwindigkeit zu. Die Sterblichkeit bzw. Todesrate ist jeweils auf ein Jahr bezogen und bezeichnet die Wahrscheinlichkeit, innerhalb des nächsten Jahres zu sterben. Sie kann berechnet werden aus der Zahl der zum Beispiel 90jährigen, die ihren nächsten Geburtstag nicht mehr erleben, geteilt durch diejenigen, die diesen noch feiern dürfen.
Mathematische Analysen der Daten zeigen, daß die Sterblichkeit der 105jährigen sich im Laufe der Zeit auf einem konstanten Niveau einpendeln könnte und die der über 100jährigen sogar abnimmt. Die Abnahme der Todesrate bei älteren Menschen ist ein schon länger bekanntes Phänomen – interessant ist vor allem, daß sich dieser Trend in den letzten Jahrzehnten so verstärkt hat.
Die Abnahme der Alterssterblichkeit ist nicht auf den Menschen beschränkt. Vaupel und seine Mitarbeiter schätzten die Entwicklung der Todesraten im Alter für sehr große Gruppen von vier Spezies: Fruchtfliegen, parasitierende Wespen, Fadenwürmer und Backhefen. Trotz substantieller Unterschiede haben sie eine wichtige Eigenschaft gemeinsam: Die Sterblichkeit verlangsamt sich, und bei den größten untersuchten Populationen nimmt sie sogar mit höherem Alter ab. Dasselbe Prinzip scheint auch für alte Autos zuzutreffen; dies deutet darauf hin, daß, obwohl lebende Organismen weit komplexer sind als gefertigte Produkte, die Verlangsamung der Sterblichkeit eine allgemeine Eigenschaft komplexer Systeme sein könnte.
Was lebende Organismen angeht, stellen diese Erkenntnisse eine große Überraschung dar – insbesondere angesichts der traditionellen Ansicht, die die Existenz einer maximalen Lebenspanne postuliert. Gemäß dieser Theorie sollte die Lebenspanne nach der Fortpflanzung nur noch kurz sein, weil alles Weiterleben darüber hinaus keinen evolutionären Vorteil bringt.
Noch ist unklar, wie man diese Erkenntnisse mit Theorien über das Altern in Einklang bringen könnte. Die Autoren präsentieren drei biodemographische Übersichten, die Anhaltspunkte liefern und Wege für die künftige Forschung weisen: Zum einen über die Korrelation der Todesraten quer durch alle Altersgruppen, über individuelle Unterschiede bei den Überlebenschancen und zum anderen über herbeigeführte Veränderungen in den Altersmustern von Fruchtbarkeit und Sterblichkeit.
Diese drei Konzepte werden durch eine allgemeine Frage verbunden: Wie wichtig sind die "Überlebensattribute" (dauerhafte Eigenschaften, angeboren oder erworben, welche die Überlebenschancen beeinflussen) eines Individuums im Vergleich zu aktuellen Lebensbedingungen für die der Todeswahrscheinlichkeit? Eine Analyse der Daten von dänischen Zwillingen deutet darauf hin, daß ungefähr 50% der Schwankung in menschlichen Lebenspannen oberhalb des Alters von 30 Jahren auf Überlebensattribute zurückgeführt werden kann, die in diesem Lebensalter bereits festgelegt sind. Ein Drittel bis die Hälfte dieser Attribute seien genetisch bedingt, die Hälfte bis zwei Drittel nicht-genetisch (sie hängen beispielsweise zusammen mit dem sozioökonomischen Status, der Krankheitsgeschichte, usw.). Das für diese Analyse verwendete Modell deutet darauf hin, daß die Wichtigkeit der Überlebensattribute mit der Lebenserwartung eines Menschen zunehmen könnte.
Daß Gene die Sterblichkeitsentwicklung verändern können, gilt nun als sicher. Das neu entstehende Feld der Molekular-Biodemographie versucht aufzudecken, wie Schwankungen auf der Ebene genetischer Polymorphismen die Sterblichkeit der Bevölkerungen verändern können. Was die nicht-genetischen Determinanten der Langlebigkeit angeht, so wurde die Wichtigkeit von Faktoren wie Ernährung, Streß und Fortpflanzung für die Sterblichkeitsentwicklung demonstriert.
Siehe auch
- Spektrum der Wissenschaft 3/94, Seite 21
"Realistische Berechnung von Lebenserwartungen" - Spektrum der Wissenschaft 3/95, Seite 72
"Vitale Hochbetagte"
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